9783939069126_leseprobe

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Christian von Ferber

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Das Gesundheitswesen – ein neuer Hoffnungsträger für Soziale Gerechtigkeit?

Soziale Gerechtigkeit bezieht sich auf Bürgerrechte Bei den Reformen der sozialstaatlichen Leistungssysteme spielt „Soziale Gerechtigkeit“ eine wichtige Rolle. Den Reformern dient sie als Zielvorgabe für ein „Mehr“ an Sozialer Gerechtigkeit, den Bewahrern des Status quo bezeichnet sie eine Widerstandslinie, hinter der der Sozialabbau einsetzt. Die Doppeldeutigkeit in der Verwendung des ethischen Wertes „Soziale Gerechtigkeit“ ist jedoch kein Anzeichen für Beliebigkeit. Vielmehr signalisiert die Gegensätzlichkeit in seiner politischen Deutung eine Unsicherheit in einer für die Bürger entscheidenden Frage. Geht es doch bei der Gestaltung der sozialstaatlichen Daseinsvorsorge nicht allein um die Frage, wer soll die finanziellen Lasten tragen? Wir sollten die Bedeutung Sozialer Gerechtigkeit bei der Beantwortung dieser Frage keineswegs unterschätzen. Primär verfolgt staatliche Daseinsvorsorge jedoch das Ziel, Soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten im Verhältnis zwischen Starken und Schwachen, zwischen Menschen, die von gesellschaftlichen Risiken betroffen sind und solchen, die es nicht sind. In Verfolgung dieses Zieles richtet sich die sozialstaatliche Daseinsvorsorge auf so wesentliche Ressourcen jedes Bürgers wie Einkommen und Gesundheit. Auf Soziale Sicherheit ist der Bürger angewiesen gerade dann, wenn Eigenvorsorge und Selbsthilfe versagen. Die Gewährleistung von Einkommen und Gesundheit durch die politischen Organe der Gesellschaft und durch die Rechtsordnung schafft das Ver-

trauen in Soziale Sicherheit. Diese garantiert dem Bürger Ressourcen in einer Lebenssituation, in der wesentliche Risiken gesellschaftlich bedingt sind. Das Vertrauen in Soziale Sicherheit ist im Bewusstsein der Bürger nur insoweit begründet, wie ihre Garantien ihm auch in der kleinen Münze des Alltags begegnen. Die Verbürgung sozialer Leistungen durch eine Rechtsordnung garantiert dem Bürger nicht nur die aktuelle Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse im Hier und Jetzt, sondern bildet eine entscheidende Grundlage seiner Lebensplanung. Soziale Sicherheit enthält eine wichtige Bedingung der Selbstbestimmung und wird damit zu einer notwendigen Bedingung persönlicher Freiheit. Die juristische Unterscheidung der Bürgerrechte nach freiheitlichen und sozialen Grundrechten und ihre Zuweisung zu Rechtsquellen unterschiedlicher normativer Geltung wie Grundgesetz (Grundrechtskatalog) und Sozialgesetzbuch (SGB I) erfüllt neben der rechtssystematischen Klarstellung eine wichtige politische Funktion. So beschränkt sie den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in Bezug auf die Freiheitsrechte und erweitert ihn in Bezug auf eine situationsadäquate rechtliche Modellierung der Ansprüche an die sozialstaatliche Daseinsvorsorge. Freiheitliche Grundrechte ebenso wie die rechtliche Verbürgung sozialer Ansprüche im Sozialgesetzbuch verfassen die Position des Bürgers und mit dieser die Bürgergesellschaft als eine „Gesellschaft freier und gleicher Bürger“ (Rawls 2003). Ihre ethische Begründung verweist auf Wertvorstellungen, die in den Gesellschaften

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wirksam geworden sind, die sich nicht nur auf die französische Revolution von 1789 und die Verfassung der USA, sondern auch auf den demokratischen Sozialismus (Eduard Bernstein 1894/1969) berufen. Wegen ihrer Fundierung in gesellschaftlichen Wertvorstellungen wecken Reformen der Sozialen Sicherungssysteme nicht nur diffuse Lebensängste der Menschen, zumal wenn solche Reformen mit technischen Fremdworten wie „Neuadjustierung“ angekündigt werden. Reformen der Sozialen Sicherheit treffen die Menschen in einem Kernbereich ihrer Zugehörigkeit als Bürger, sie berühren Bürgerrechte. Legitimer Weise werden Reformen der Sozialleistungssysteme daher unter Kriterien Sozialer Gerechtigkeit diskutiert und beurteilt. Dieser Anspruch erwartet allerdings eine Offenlegung der Vorgehensweise.

Wie können wir soziale Gerechtigkeit bestimmen? Soziale Gerechtigkeit ist ein normativer Begriff. Er kann weder operational definiert, noch aus einer Theorie über Tatsachen hergeleitet werden. Eine Erörterung Sozialer Gerechtigkeit in Bezug auf das Gesundheitswesen überschreitet daher den durch positivistische Erkenntnisinteressen abgesteckten Rahmen. Für die Sozialmedizin gibt es nicht nur eine „evidenzbasierte“ Gesundheitspolitik, sondern seit ihren Ursprüngen im 19. Jahrhundert stets auch einen Bezug zu Sozialer Gerechtigkeit (Mosse und Tugendreich 1913). Sozialmedizin erstrebt nicht nur einen „health gain“ für eine gegebene Bevölkerung, sondern im Rahmen der Gesellschaftsordnung vor allem einen Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken, zwischen Starken und Schwachen. Daher ist Sozialmedizin nicht nur auf die Gewinnung bio- und soziotechnischer Erkenntnis und Fertigkeiten gerichtet, sondern ist stets in einem sozial normativen Sinne auch sozial- oder gesellschaftspolitisch engagiert. Im Unterschied zu New Public Health unterhält sie eine enge Beziehung zum Sozialrecht und zur Sozialethik.

Ein Begriff von Sozialer Gerechtigkeit ist in normativen Prämissen über den Menschen als Bürger in einer Gesellschaft begründet, die eine dauerhafte Kooperation ihrer Mitglieder anstrebt und aus diesem Grunde sich des Engagements ihrer Bürger versichert. In seinen Veröffentlichungen „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (1975) und „Gerechtigkeit als Fairness“ (2003) hat John Rawls diese Prämissen ausführlich und einleuchtend begründet. Seine Theorie hat über den engeren Kreis der Philosophen hinaus große Zustimmung und Anerkennung gefunden. Das rechtfertigt es, seine Konzeption an den Anfang unserer Überlegungen zu der Bedeutung Sozialer Gerechtigkeit für die Gestaltung des Gesundheitswesens zu stellen. Rawls’ Konzeption beansprucht Geltung nicht für jede Gesellschaftsformation, sondern für die „öffentliche politische Kultur der demokratischen Gesellschaft sowie (für) die Tradition der Interpretation ihrer Verfassung und ihrer wichtigsten Gesetze“. Zu letzteren zählen in diesem Zusammenhang vor allem die Sozialgesetze. Zu den Grundideen einer „demokratischen Gesellschaft“ rechnen nach Rawls: „die Vorstellung von der Gesellschaft als einem fairen und langfristig von einer Generation zur späteren fortwirkenden System der sozialen Kooperation“, „die Idee der Bürger als freier und gleicher Personen“ „die Idee einer Gesellschaft, die durch eine öffentliche Gerechtigkeitskonzeption wirksam geregelt ist“ (RAWLS 2003 S. 25) Rawls’ Konzeption formuliert die grundlegenden Prämissen, die „Soziale Gerechtigkeit“ als einen Leitbegriff in der politischen Kultur der Gesellschaftsformation kennzeichnen, die wir gemeinhin als eine „demokratische Gesellschaft“ verstehen. Als eine „Gesellschaft freier und gleicher Personen“ steht sie vor der Herausforderung individueller und wirtschaftlicher

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Ungleichheit ihrer Mitglieder. Dabei muss sie sich in ihrer politischen Gestaltung der Tatsache stellen, dass die Grundwerte Freiheit und Gleichheit zu einander in einer Konkurrenz stehen. Individuelle und wirtschaftliche Ungleichheit ebenso wie ihre gesellschaftlichen Folgen sind kein historischer Unglücksfall. Sie stellen nicht nur Tatsachen dar, sondern sie können sich auf die normativen Prämissen einer demokratischen Gesellschaft berufen. Dies wirft die Frage auf: Wie viel Gleichheit als Basis sozialer Kooperation ist in Konkurrenz zur Freiheit berechtigt? Dies ist keine zynische Frage. Individuelle und wirtschaftliche Ungleichheit legitimieren sich durch die Idee der Freiheit und durch die aus ihr unmittelbar abgeleiteten Rechte wie freie Entfaltung der Persönlichkeit, Freiheit in der Wahl und in der Ausübung des Berufs, Garantie des Eigentums. Die gesellschaftlichen Folgen der Freiheit sind der wissenschaftlich technische Fortschritt, das wirtschaftliche Wachstum und die damit verbundene Verfügung über Güter und Dienstleistungen sowie der kulturelle Pluralismus – auch diese bilden die Grundlage sozialer Kooperation. Dies führt zu der Frage: Wo liegen die Grenzen der Freiheit in Konkurrenz zur Gleichheit? Rawls’ Theorie der Sozialen Gerechtigkeit versteht sich daher als der Versuch, auf der Ebene normativ begründeter Setzungen, aber – bedenken wir, auch für Rawls fällt eine demokratische Gesellschaft nicht vom Himmel – auch historisch gewonnener Ideen einen Ausgleich herzustellen und zu rechtfertigen. Dieser Ausgleich kann sich nicht auf eine Interpretation der Grundideen beschränken. Er muss sich auch den Auswirkungen der konkurrierenden gesellschaftlichen Werte Freiheit, Gleichheit und Teilhabe an einer dauerhaften, d. h. in ihrem Fortbestand gesicherten sozialen Kooperation stellen. In der aktuellen Sprechweise der politischen Ethik ist Rawls’ Konzeption eine Theorie der Abwägung unter Rechtsgütern oder gesellschaftlichen Werten, die für eine demokratische Gesellschaft grundlegend sind. Diese Abwägung ist in einer dynamisch sich weiter entwickelnden Gesellschaft ständig gefordert,

weil sie sich immer wieder vor neue Probleme gestellt sieht. Als eine Theorie der Abwägung zwischen den in einer demokratischen Gesellschaft konkurrierenden Werten der Freiheit, Gleichheit und sozialen Teilhabe enthält Rawls’ Konzeption geeignete Kriterien für eine Analyse der Sozialpolitik in den westeuropäischen Gesellschaften. Sozialpolitik versteht sich hier seit ihren Ursprüngen in der Arbeiterschutzgesetzgebung, spätestens jedoch seit der Einführung der Sozialversicherung als eine Intervention zur Gewährleistung elementarer und darum schutzwürdiger Güter, ohne die eine Teilhabe an einer demokratischen Gesellschaft nicht möglich ist. Ihre Einschränkung oder gar ihre Verweigerung gefährdet die Freiheit als Basis der gesellschaftlichen Zusammenarbeit. Oder anders gewendet: Die Auswahl der schutzwürdigen Güter und die politische Gestaltung ihres Schutzes geben Auskunft über die Konzeption von Sozialer Gerechtigkeit, von der die Sozialpolitik geleitet wird. Für die Tragfähigkeit und Ergiebigkeit einer solchen sozialethischen Fragestellung ist die Sozialpolitik in Deutschland ein geeigneter Untersuchungsgegenstand. Ungeachtet oder vielleicht wegen der Diskontinuitäten in der politischen Geschichte, insbesondere seiner Verfassungen, weist Deutschland eine bemerkenswerte Kontinuität in der gesellschaftspolitischen Systematisierung, vor allem aber in der rechtlichen Kodifizierung seiner Sozialpolitik auf. Die Sozialversicherung hat sich gerade in Krisenzeiten als ein zuverlässiges Instrument sozialstaatlicher Daseinsvorsorge erwiesen. In dem tiefgreifenden Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft im 20. Jahrhundert entwickelten ihre Institutionen eine erstaunliche „Eigenproduktivität“ in der Bewältigung neuer Herausforderungen sei es das Heraufkommen neuer Schichten lohnabhängiger Arbeit wie der Angestellten, die Ausweitung versicherungsfähiger Risiken auf die Arbeitslosigkeit oder die inflationsabhängige Entwertung von Bestandsrenten im Zuge starken wirtschaftlichen Wachstums („Dynamisierung der Altersrenten“). Die Offenheit ihrer Struktur gegenüber dem Sozi-

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alen Wandel gilt nicht zuletzt für die Gesetzliche Krankenversicherung. Über ihre wichtigste ursprüngliche Aufgabe, die Lohnfortzahlung für die gewerblichen Arbeiter im Krankheitsfall zu sichern und damit die Arbeitgeber von unmittelbaren sozialen Ansprüchen zu entlasten, ist sie schrittweise gemessen im Maßstabe von Dezennien hinausgewachsen, ohne dass es dafür einschneidender Reformen bedurft hätte (Tennstedt 1977). Sie dient heute der Finanzierung eines innovationsträchtigen und wachstumsorientierten Dienstleistungssektors. Erst seine Dynamik ebenso wie die Dimensionen seiner Finanzierung erzeugen einen Bedarf an politischer Gestaltung, der seit nunmehr drei Jahrzehnten zu einer wahren Inflation von „Gesundheitsreformen“ geführt hat. Im politischen Eifer zu sagen, was angesichts eines zunehmenden Missverhältnisses von Ausgaben und Einnahmen unternommen werden sollte, wird derzeit allerdings übersehen, dass zu der Finanzierung aller volkswirtschaftlichen Ausgaben für die Gesundheit die Gesetzliche Krankenversicherung nur etwas mehr als die Hälfte beiträgt. Gleichwohl ist der aktuelle Zustand unseres Gesundheitswesens durch die beherrschende Stellung der Gesetzlichen Krankenversicherung geprägt. Dies fordert zu einer Analyse der ihr zugrundeliegenden Konzeption von Sozialer Gerechtigkeit heraus. Dabei müssen wir für unsere Fragestellung, die sich auf die sozialpolitische Konzeption für das Gesundheitswesen richtet, mit der ersten „Gesundheitsreform“ von 1969–1974 eine Zäsur setzen. Denn erst diese Gesundheitsreform überträgt der Gesetzlichen Krankenversicherung die Verantwortung für drei wesentliche Dienstleistungen des Gesundheitswesens (Gesundheitsbericht 1971) n die Umsetzung des medizinisch-technischen Fortschritts, dieser birgt vielfältige und schwer abschätzbare Risiken, im Haushalt der Gesetzlichen Krankenversicherung treten besonders markant die Ausgaben für die Arzneitherapie hervor n die Krankenhausversorgung, diese ist besonders kostenintensiv. Ihre Multifunktionalität, die sowohl in Bezug auf die Dienstleistungs-

berufe als auch auf die Patienten, aber auch angesichts ihrer Bedeutung für die regionale Infrastruktur besteht, erschwert überdies eine Folgeabschätzung von Interventionen, und n die Prävention, diese gewinnt angesichts der Kosten chronischer Krankheiten und ihrer Komplikationen eine Schlüsselrolle für die Qualität der gesundheitlichen Versorgung. Angesichts dieser Herausforderungen stellt sich für die Gesetzliche Krankenversicherung die Frage, ob eine Politik der „Weiterentwicklung bewährter Strukturen“ ihnen noch gewachsen, ob das Vertrauen auf die „Eigenproduktivität der Institutionen“ weiterhin gerechtfertigt ist. Handelt es sich bei dem Reformbedarf noch um die Behebung einer vorübergehenden Finanzkrise oder stehen wir bereits vor einem Strukturproblem? Wer Strukturen oder Institutionen der sozialstaatlichen Daseinsvorsorge infrage stellt, begibt sich auf das Gebiet der Bürgerrechte. Hier gelten als Argumente nicht allein gesicherte oder gar „Evidenz basierte“ Vorteile der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit oder ein in Aussicht stellen steigender Lebenserwartung für ausgewählte Patienten- oder Bevölkerungsgruppen. Wer Institutionen der Daseinsvorsorge nicht nur an veränderte Rahmenbedingungen anpassen, sondern sie grundlegend erneuern will, muss bei den ihnen zugrunde liegenden Konzeptionen von Sozialer Gerechtigkeit ansetzen. Diese haben nach der Theorie von Rawls die Funktion, einen Ausgleich zwischen den in einer demokratischen Gesellschaft konkurrierenden Werten der Freiheit, der Gleichheit und der sozialen Kooperation zu gewährleisten. Institutionen der Sozialen Sicherheit sollten in Zeiten struktureller Krisen auf die Erfüllung dieser ordnungspolitischen Funktion hin befragt werden. In diesem Verständnis bezeichnen die Finanzierungsprobleme der Gesetzlichen Krankenversicherung eher ein Symptom für die Störung des Ausgleichs zwischen gesellschaftlichen Werten als ein finanzwissenschaftliches Dilemma. Konkret gefragt: Ist die Gesetzliche Krankenversicherung als ein Zweig

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der Sozialversicherung weiterhin geeignet, den im Gesundheitswesen erwarteten ordnungspolitischen Ausgleich herzustellen? zwischen n „Freiheit“: Gesundheitsversorgung auf dem jeweils international erreichbaren Stand gesicherter gesundheitswissenschaftlicher Erkenntnis n „Gleichheit“: Umsetzung des anzustrebenden Versorgungsniveaus für die Bevölkerung („Gesundheit für alle“) n einer „dauerhaften sozialen Kooperation“: Abwägung mit konkurrierenden gesellschaftlichen Zielen Welche ihrer Strukturen behindern die Erfüllung dieser ordnungspolitischen Funktion?

Auf den Schutz welcher Güter richtet sich Soziale Gerechtigkeit im System der Sozialversicherung? Als ein immanentes Ziel der Sozialpolitik bestimmt und rechtfertigt sich Soziale Gerechtigkeit durch die Lebenstatbestände, auf deren Gestaltung sich die Intervention richtet. Für die deutsche Sozialversicherung stellt sich unter den Kriterien von Rawls die Frage: Wo liegt die Schwelle, jenseits derer gesellschaftliche Ungleichheit die Freiheit und eine dauerhafte gesellschaftliche Teilhabe gefährdet? Sie wird für die Sozialpolitik dort überschritten, jenseits derer die Höhe und die Sicherheit des Einkommens aus abhängiger Arbeit die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten nicht länger gewährleistet. Das Gesellschaftsbild der Sozialpolitik ist durch die Marktwirtschaft bestimmt, in der die Gesellschaftsmitglieder ihre wirtschaftliche Existenz und ihre Selbstbestimmung auf den Besitz und den produktiven Einsatz der drei Produktionsfaktoren Boden, Kapital (produzierte Produktionsmittel) und Arbeit gründen. Sozialpolitik versteht sich als eine Intervention in den Markt, um die Einkommensrisiken abhängiger Arbeit abzusichern, soweit sie einer Versicherung zugänglich sind. Die Erwerbsfähigkeit ist für die Teilhabe am wirtschaftlichen Produktionsprozess unverzichtbar. Das Arbeitseinkom-

men muss die Selbstbestimmung gewährleisten. Die Intervention richtet sich daher auf die Standardrisiken abhängiger Arbeit wie Krankheit, Unfall und Erwerbsunfähigkeit und deren Eintritt infolge Alters sowie seit 1927 auf eine zeitlich beschränkte Absicherung gegen Arbeitslosigkeit. Die Folgen dieser Risiken lohnabhängiger Arbeit für das Einkommen sollen abgefangen werden. Die Sozialversicherung übernimmt also, um dafür einen heutigen Ausdruck zu verwenden, eine „Lohnersatzfunktion“; sie bewirkt eine „Verstetigung“ des Einkommens aus abhängiger Arbeit. Die Sicherheit des Einkommens auch unter Risiko bildet die materielle, aber auch ideelle Grundlage der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des volkswirtschaftlichen Produktionsfaktors „Arbeit“. Der gleichen Intention, der Erhaltung einer dauerhaften Leistungsfähigkeit, dienen der Arbeitsund Unfallschutz, die unmittelbar drohende Gesundheitsgefahren zu verringern suchen. Bei der Abwägung unter den in einer Konzeption Sozialer Gerechtigkeit konkurrierenden Werten der Freiheit, Gleichheit und sozialen Teilhabe konzentriert sich die deutsche Sozialpolitik auf die Sicherung der Teilhabe des Produktionsfaktors Arbeit am gesellschaftlichen Produktionsprozess. Hier liegt der Ursprung des Schlagwortes: „In der Sozialpolitik kann nur soviel verteilt werden, wie zuvor produziert worden ist.“ Mit der Fokussierung auf diese auch als „Einkommensstrategie“ – in Abgrenzung von der „Dienstleistungsstrategie“ der Sozialen Sicherung – bezeichnete Intervention verbindet sich der Verzicht auf weitergehende Eingriffe zur Korrektur gesellschaftlicher Ungleichheit. Diese sind Sache der Steuerpolitik und der über Steuern und Wohltätigkeit finanzierten Fürsorge oder werden seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts Schlüsselthemen der Bildungspolitik oder aktuell verschiedener Politiken der Gleichstellung. Auch die Psychiatriereform vollzieht sich außerhalb der Sozialversicherung. Für das immanente Ziel der Sozialpolitik, Soziale Gerechtigkeit durch eine Rechtsgüterabwägung unter konkurrierenden gesellschaftlichen Werten aufrecht zu erhalten, wird daran dreierlei deutlich:

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1. Die Gewährleistung Sozialer Gerechtigkeit beschränkt sich nicht auf die Sozialleistungspolitik. Sozialpolitik ist eine unter mehreren Politiken für die Verwirklichung Sozialer Gerechtigkeit. Ihre Bedeutung für die Aufrechterhaltung einer sozial gerechten Gesellschaftsordnung ist beschränkt und dem sozialen Wandel unterworfen. 2. Unter der von Rawls entwickelten Konzeption einer Rechtsordnung, die Soziale Gerechtigkeit gewährleisten soll, ist die Zuweisung schutzwürdiger Güter zur Sozialversicherung selbst eine Frage der Abwägung auf einer höheren Abstraktionsstufe, der „Gesellschaftspolitik“ oder mit einem Ausdruck der WHO einer „Querschnittspolitik“. Eine sozial gerechte Gesellschaftsordnung im Sinne von Rawls beschränkt sich nicht auf eine der herkömmlichen institutionellen Politiken, sondern kann sich durchaus auch über eine mehrere Politiken integrierende Strategie verwirklichen. Diese Strategien sprengen einerseits den institutionellen Rahmen herkömmlicher Politikfelder und fordern anderseits zu einer diese übergreifenden „neuen“ Politik heraus. Hans Achinger, der diese neue Form der Politikgestaltung bereits sehr früh erkannt hat, prägte dafür den Begriff „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik“ (1958). 3. Der Beitrag der Sozialversicherung zur Sozialen Gerechtigkeit ist ordnungspolitisch begrenzt. Die westeuropäischen Länder, die aufgrund ihrer geschichtlichen Prägung durch die sozialdemokratisch gewerkschaftliche Arbeiterbewegung die Sozialpolitik als die bevorzugte Strategie für eine sozial gerechte Gesellschaftsordnung identifiziert und befolgt hatten, sehen sich seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zu einer Redimensionierung sozialpolitisch motivierter Interventionen gezwungen. Diese Wende in der Sozialpolitik wird als „sozialer Abbau“ oder als „Demontage des Sozialstaates“ kritisiert, der Sündenbock ist nicht das Eingeständnis eigener Fehleinschätzungen, sondern die „Globalisierung“. Realistisch gesehen und wenn wir der Theorie von Rawls folgen, kann

diese Wende durchaus als eine Aufforderung angenommen werden, sich auf den ursprünglichen Sinn von Politiken wieder zu besinnen und sie unter dem Ziel einer Gesellschaftspolitik mit anderen Politiken zu integrieren. Es erleichtert das Verständnis der hier postulierten Beziehungen zwischen Sozial- und Gesellschaftspolitik, wenn wir zunächst die selbst gesetzten Grenzen bezeichnen, unter der die Sozialversicherung zu Sozialer Gerechtigkeit beiträgt.

Wo liegen die Grenzen der Sozialversicherung in der von Rawls für eine gerechte Gesellschaftsordnung geforderten Abwägung zwischen Gleichheit, Freiheit und sozialer Kooperation? Die Sozialpolitik nimmt die durch den gesellschaftlichen Produktionsprozess bewirkte Differenzierung der sozialen Lage, die Klassen- und Schichtstruktur der Gesellschaft, in die Organisation der sozialen Sicherungssysteme auf. Das gegliederte Sozialleistungssystem ist nach Beamtenversorgung, Sozialversicherung und Sozialhilfe (Fürsorge) und innerhalb der Sozialversicherung wieder nach Berufsgruppen und Erwerbszweigen untergliedert („Gegliedertes Sozialleistungssystem“). Das System Sozialer Sicherheit ist zwar ein nicht stets aktuelles, aber ein durchaus zutreffendes Spiegelbild der im fortschreitenden Wirtschaftsprozess entstehenden und sich ausprägenden gesellschaftlichen Gliederung. Ja, mehr noch: Die Ungleichheit der Sozialen Lage nach Erwerbseinkommen und Sozialprestige wird in der Organisation der Sozialen Sicherung nicht nur abgebildet, sondern als ein tragender Bestandteil des Systems selbst institutionalisiert. Mit der Übertragung der Selbstverwaltung an die Tarifparteien des Arbeitsmarktes und deren Interessenverbände trägt sie ordnungspolitisch zum Fortbestand des Systems bei. Hieraus ergeben sich wesentliche Konsequenzen für die unter dem Ziel Sozialer Gerechtigkeit ständig geforderte Abwägung unter den konkurrierenden gesellschaftlichen Werten.

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Nach dem von Rawls’ entwickelten Prinzip „Sozialer Gerechtigkeit“ sind die Institutionen Sozialer Sicherheit wichtiger Bestandteil einer gerechten Ordnung, die die Rechtsgüterwägung gewährleisten soll. Ein Minimalkriterium für diese Abwägung stellt die Interessenneutralität dar. Unter diesem Kriterium wird nicht nur die demokratische Legitimation der „Sozialen Selbstverwaltung“ fragwürdig, sondern auch ihr Beitrag zur Gewährleistung von Bürgerrechten problematisch. Hans Achinger, Begründer und hellsichtiger Beobachter der Sozialpolitik in der Bundesrepublik, stellt daher ebenso zutreffend wie resigniert nüchtern fest: „In der Sozialpolitik hat nur das eine Chance auf Verwirklichung, bei dem Arbeitgeber und Gewerkschaften sich einig sind“. Für das Gesundheitswesen können wir hinzufügen: „und die verfasste Ärzteschaft dem zustimmt.“ Für eine systematische Bearbeitung der Frage „Soziale Gerechtigkeit“ in der Sozialversicherung verdienen an dieser Stelle zwei Gesichtspunkte einer eingehenderen Betrachtung. 1. Von einem volkswirtschaftlichen Standpunkt gesehen, ist die „Einkommensstrategie“ der Sozialversicherung eine ordnungspolitische Ergänzung des Arbeitsverhältnisses der abhängig Beschäftigten. Ordnungspolitische Ziele, die die Tarifparteien des Arbeitsmarktes von sich aus nicht erreichen können oder wollen, werden Gegenstand sozialpolitischer Interventionen. Die Lohnersatzfunktion stellt eine sozialpolitische Ersatzvornahme dar. Zu dem unter dem Kriterium Sozialer Gerechtigkeit geforderter Ausgleich tragen die Interessenverbände des Arbeitsmarktes von sich aus nicht bei oder – wie die Geschichte der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zeigt – sind sie hierzu nur für bestimmte Gruppen (Angestellte) bzw. gegen politische Kompensationen bereit. Mit der Ausweitung des sozialversicherten Personenkreises in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde den Sozialpolitikern bereits in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts bewusst, dass die sozialpolitische Umverteilung des Einkom-

mens (die „zweite“ volkswirtschaftliche Einkommensverteilung) in ihrem Kern die in der primären Einkommensverteilung bestehende Ungleichheit der sozialen Lage nicht verändert, ja auch nur in Grenzen verändern kann. Denn der durch die Sozialversicherung bewirkte Einkommenstransfer vollzieht sich überwiegend innerhalb der bestehenden Einkommensschichten (Liefmann Keil 1961). Sozialversicherung ist also nur in einem deutlich eingeschränkten Sinne eine Antwort auf gesellschaftliche Ungleichheit. Aus diesem Grunde stehen Einschränkungen von Transferleistungen nicht von vornherein unter dem Verdacht, „Soziale Gerechtigkeit“ zu verletzen. 2. Unter das Einkommensrisiko „Krankheit“ für die abhängig Beschäftigten fallen auch die Kosten für die Behandlung der Krankheit. In ihren Wirkungen beschränkt sich die Übernahme dieser Kosten als sogenannte „Sachleistungen“ durch die Gesetzliche Krankenversicherung allerdings nicht auf die Einkommenslage der Versicherten. Sie greift verändernd auch in die Honorierung der Berufe ein, die die Dienstleistungen erbringen, insbesondere in die der Ärzte. Bei ihrer Einführung entlastete die Gesetzliche Krankenversicherung die Ärzte von ihrer Verpflichtung, Arme umsonst zu behandeln und in ihrer Honorargestaltung einen Ausgleich zwischen armen und reichen Patienten vorzunehmen. Der Preis, den dieser jetzt sozialpolitisch motivierte „Lastenausgleich“ im ärztlichen Honorar fordert, wird einerseits mit der Ausweitung der Versicherungsleistungen (z. B. freie Arztwahl, Übernahme von Versorgungsstandards mit dem therapeutischen Fortschritt), anderseits erst mit der Ausdehnung der Versicherungspflicht auf weitere Kreise der Bevölkerung fällig: die Abhängigkeit der Einnahmen der Gesundheitsberufe von der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dies führt nach der Logik der Politischen Ökonomie (z. B. Ärztestreiks) 1931 zur Hereinnahme der „verfassten Ärzteschaft“ in die Selbstverwaltung der von der Gesetzlichen Krankenversicherung finanzierten gesundheit-

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Versorgung der Versicherten n n n n

n n n n

allg.: § 4 II SGB I; §§ 1 S. 1, 2 I SGB V; §§ 1 IV, 2 I SGB XI bedarfsgerecht (§§ 70 I, 141 I SGB V; 69 SGB XI) gleichmäßig (§ 70 SGB V § 69 SGB XI) dem allg. anerkannten Stand der med. Kenntnisse entsprechend (§§ „ I, 70 I, 72 II SGB V; §§ 11 I, 28 III, 69 SGB XI) ausreichend (§§ 12 I, 70 I, 72 II SGB V) zweckmäßig (§§ 12 I, 70 I, 72 II SGB V) wirksam (§§ 4 III, 29 I SGB XI) human (§ 70 II SGB V; §§ 2 I, 11 I SGB XI)

Wirtschaftlichkeit der Versorgung n

n

Allg.: §§ 2 I u. IV, 12 I, §§ 72 II, III 70 I, 141 I SGB V; 4 III, 120 II SGB V; 29 I SGB XI §§ 4 Nr. 2, 17 I KHG; human (§ 70 II SGB V; §§ 2 I, 11 I SGB XI) Beitragsstabilität (§§ 71 I, 141 II SGB V; § 70 SGB XI)

Angemessene Vergütung der Leistungserbringer n

Begrenzung auf das Notwendige: §§ 82 – 90 SGB XI (§§ 2 IV, 12 I, 70 SGB V, insb. §§ 12 II, 31 II, 33 II, 34, 39 I, 73 IV, 73 V SGB V; §§ 4 III, 29 I SGB XI)

Quelle: Sachverständigenrat Sondergutachten Gitter 1995, S. 76

Abb. 1: Magisches Dreieck von Versorgung, Wirtschaftlichkeit und Vergütung

lichen Versorgung. (Tennstedt 1976 S. 396ff.; 1977 S. 125ff.) Ein solcher Zuwachs an wirtschaftlicher Macht war mit der Übertragung der Selbstverwaltung an die Interessengruppen des Arbeitsmarktes ursprünglich nicht beabsichtigt, aber auch nicht erwartet worden, ja er wurde mit den Mitteln der Gesetzgebung zu verhindert gesucht (Tennstedt 1977). Ungeachtet dessen führte die schrittweise „Vermachtung“ durch Interessenverbände in der Organisation des Gesundheitswesens zur Beteiligung immer weiterer Interessengruppen, der Ärzte und Apotheker sowie der Hersteller und Vermarkter von „Medizinprodukten“. Vor allem brachte der Zuwachs an wirtschaftlicher Macht den Einstieg der Gesetzlichen Krankenversicherung in eine gesellschaftspolitische Verantwortung für ein öffentliches Gut: die „Versorgung der Versicherten“. Wolfgang Gitter hat in seinem Gutachten für den Sachverständigenrat der Kon-

zertierten Aktion im Gesundheitswesen diese Verantwortung wie folgt beschrieben. Die Gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen tragen die Verantwortung für die „Versorgung der Versicherten“. Das Niveau der Versorgung wird durch den aktuell anerkannten Stand der medizinischen und pflegewissenschaftlichen Erkenntnisse bestimmt, ihren Inhalt legen die Leistungskataloge fest, die Gesundheitsberufe haben Anspruch auf eine angemessene Vergütung (Abb. 1). Unter einer Konzeption der Sozialen Gerechtigkeit stellt sich die Frage, ob diese Aufgabenbestimmung die gesellschaftspolitischen Ziele des Gesundheitswesens abdeckt. Diese Frage stellt sich nicht nur, weil die Bezugswissenschaften für das Niveau der Versorgung sich auf die medizinischen und die Pflegewissenschaften beschränken (wo bleiben die Gesundheitswissenschaften?) oder die aufgrund der finanzwirtschaftlichen Konstruktion eines Versicherten-

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beitrages zur Verfügung stehenden Mittel selbst unter günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Erfüllung der übernommenen Aufgaben nicht ausreichen. Allerdings stellt sich diese Frage nicht erst seit heute und nicht nur in Deutschland. Hier ist sie allerdings erst seit der Gesundheitsreform von 1969–1974 die beherrschende Frage der Gesundheitspolitik. Sie wird mit der gesetzlichen Verpflichtung der Einhaltung der Beitragsstabilität nur vorläufig in Ermangelung einer besseren Lösung beantwortet.

Welche Konzeption Sozialer Gerechtigkeit ist für das Gesundheitswesen gefordert? Als Maßstab für die Gestaltung des Gesundheitswesens wird Soziale Gerechtigkeit bereits seit dem Zweiten Weltkrieg zum Thema. Den Einstieg leitet der Beveridge Report (1942) ein; er problematisiert die strukturellen Schwächen der Sozialversicherungskonzeption. Auf seiner Grundlage erfolgt die Einführung eines Nationalen Gesundheitsdienstes in Großbritannien (1948) und in weiteren westeuropäischen Ländern. Gesundheitspolitik unter dem Ziel Sozialer Gerechtigkeit erhält eine Alternative für die Gestaltung neben der Sozialversicherung. Eine neue Perspektive eröffnet die Psychiatriereform in den Vereinigten Staaten, sie wurde durch international Maßstäbe setzende sozialepidemiologische Untersuchungen vorbereitet (Srole et al. 1962). Die Vorbereitung und Fundierung der Gesundheitspolitik durch bevölkerungsbezogene Studien wirkt beispielgebend in vielen Ländern und steht am Beginn einer „Evidenz basierten“ Gesundheitspolitik. Die genannten Reformen führen zu einem grundsätzlichen Überdenken der bestehenden sozialstaatlichen Konzeptionen für das Gesundheitswesen und ermutigen zu alternativen Formen der politischen Gestaltung. Zu einem unterstützenden Forum für den internationalen Diskurs in der Gesundheitspolitik entwickelt sich zweifelsohne die Weltgesundheitsorganisation (gegr. 1948). Zu der sich ausbreitenden Bereitschaft zu „Gesundheitsreformen“ tragen neben vielen zeitgeschichtlichen Konstellationen (z. B. Re-

gierungswechsel, so leitet die erste sozialliberale Koalition mit einem Gesundheitsbericht (1971) eine grundlegende Reform ein) zwei Erfahrungen bei: 1. Die Herausforderungen durch die Zunahme der nichtübertragbaren Krankheiten, sie bedeuten für den Patienten lebensbegleitende Einschränkungen seiner Gesundheit. Diese Erfahrung verändert nicht nur die medizinische Therapie grundlegend. Sie erfordert neue Konzepte der Prävention (Cockerham 1997). Und sie führt zu einem tiefgreifenden Wandel im Verständnis der Position der Patienten. Diese beanspruchen individuelle und als Gruppe Mitspracherechte (Forschungsverbund Laienpotential 1987). Unter den Kriterien Sozialer Gerechtigkeit ergeben sich Konsequenzen für die Ziele des Gesundheitswesens, die über die Versorgung der Versicherten hinausgehen. Konkret gefragt: Wie kann ein sozialer Ausgleich für die Betroffenheit durch Krankheit und Behinderung hinsichtlich ihrer Entstehung und Folgen erfolgen? Kann sich dieser Ausgleich auf die Gewährleistung des gleichen Zugangs zur medizinischen und pflegerischen Versorgung beschränken? Wie ist das Demokratiegebot einzulösen, wenn die von Krankheit und Behinderung Betroffenen an Entscheidungen beteiligt werden sollen? 2. Die Auswirkung der politischen Gestaltung des Gesundheitswesens – gleich unter welchen Konzeptionen sie geschieht – auf die gesellschaftliche Allokation der Ressourcen. Oder sagen wir es weniger fachwissenschaftlich verschleiernd: Die sozialstaatliche Gewährleistung von „Leistungen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit“, wie sie das SGB I in § 4 Abs. 2 Zfr. 1 verspricht, bindet nicht nur Teile des Volkseinkommens oder des Bruttoeinkommens der Versicherten. Die sozialstaatliche Daseinsvorsorge im Gesundheitswesen schafft Strukturen, die wiederum eine Eigendynamik entwickeln. Ihre Dynamik übersteigt den Finanzrahmen einer Sozialversi-

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1.1 Das Gesundheitswesen – ein neuer Hoffnungsträger für Soziale Gerechtigkeit?

cherung und führt zu einer Verflechtung mit anderen Politikfeldern. Gesundheitspolitik wächst in eine gesellschaftspolitische Verantwortung hinein (Müller; Schuntermann 1992); sie kann je länger desto weniger aus der Perspektive der Bestandssicherung Gesetzlicher Krankenkassen heraus gestaltet werden (vgl. dazu die Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 1987 ff.) Aus den Folgen für die Allokation der Ressourcen, die mit der Gestaltung des Gesundheitswesens, gleich wie sie ordnungspolitisch verfasst wird, einhergehen ergeben sich unter einer Konzeption der Sozialen Gerechtigkeit zwei Leitfragen: n Wie sollen die Lasten der Finanzierung verteilt werden? Ist die Finanzierung durch die „Sondersteuer“, die als „Krankenversicherungsbeitrag“ getarnt den abhängig Beschäftigten bis zur Versicherungsgrenze auferlegt wird, weiterhin aufrecht zu erhalten? Ein Verzicht auf diese Sondersteuer setzt einerseits die Finanzierung des Gesundheitswesens in Konkurrenz zu anderen öffentlichen Aufgaben. Das ist eine existentielle Sorge aller Interessenverbände, die an dem derzeitigen System partizipieren. Man sollte sie deswegen nicht als unbegründet abweisen. Der Verzicht auf eine Krankenversicherungslösung verpflichtet aber anderseits die mit der Gesundheitspolitik konkurrierenden Politiken dazu, zu den Zielen des Gesundheitswesens nicht nur aus der bequemen Rolle von Sponsoren, sondern mitverantwortlich beizutragen. n Wie steht es um die Leistungen, die für das Gesundheitswesen und für die Erfüllung seiner Aufgaben eine wesentliche Bedeutung, aber keine weiteren volkswirtschaftlichen Effekte haben? Überwiegend wirft die Bereitstellung von Ressourcen für das Gesundheitswesen Nebeneffekte ab, die für andere Politiken wichtig sind wie z. B. für die regionale Wirtschaftsförderung, die Beschäftigung, das Wirtschaftswachstum oder für die Entwicklung neuer Technologien. Zu der

Leistungsbilanz des Gesundheitswesens tragen aber gerade auch Leistungen bei, die nur über eine Vergleichsrechnung volkswirtschaftlich bewertet werden können. Dazu gehören persönliche Ressourcen wie Kompetenz, Erfahrung und Selbsthilfebereitschaft, primäre soziale Netzwerke und Selbsthilfezusammenschlüsse. Diese Ressourcen, für die es keine direkten monetären Äquivalente gibt, haben einen wichtigen Anteil an der Selbstbestimmung der Bürger (Badura 1981; Forschungsverbund Laienpotential 1987). Sie sind Bestandteil ihrer Lebenslage; weil sie ihre Kompetenz und die Bedingungen ihrer Bereitschaft zur gesundheitlichen Selbsthilfe und ihres bürgerschaftlichen Engagements betreffen. Diese Ressourcen gewinnen im demographischen Wandel und bei steigenden Kosten im Gesundheitswesen zunehmend an volkswirtschaftlicher Bedeutung. Die genannten Probleme zeigen sich in den Gesundheitssystemen aller entwickelten Industrieländer. Sie spitzen sich mit dem demographischen Wandel zu und fordern zu Entscheidungen über die zukünftige Struktur des Gesundheitswesens heraus. Entscheidungen setzen Abwägungen voraus. Diese dürfen sich nicht allein auf die wirtschaftlichen Interessen verbandsmäßig organisierter Gruppen beschränken. Dies hat das Scheitern der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen gelehrt, die ein Konsensmodell der Neuen Politischen Ökonomie kopierte und trotz Sachverständigenrat und Maßstäbe setzenden Jahresgutachten die Krise der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht verhindern konnte. Von der Position Sozialer Gerechtigkeit aus betrachtet, geht es bei der anstehenden Reform des Gesundheitswesens primär um Wertentscheidungen, die Bürgerrechte im Spannungsfeld der konkurrierenden Werte Freiheit, Gleichheit und Gewährleistung einer dauerhaften gesellschaftlichen Kooperation (Rawls 2003) betreffen. Unter Berücksichtigung dieser konkurrierender Werte gilt es einerseits die Ursachen und Folgen von Krankheiten zu bewerten und zum

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