9783939069164_leseprobe

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1. Einführung

1.1 Zielspektrum der Präventionspolitik Der überwiegende Teil der Verbesserung des Gesundheitszustands und der Verlängerung der Lebenserwartung seit dem 19. Jahrhundert ist weniger auf medizinischkurative Innovationen als auf wirtschaftliche und soziale Entwicklungen sowie auf Umwelt-, Hygiene- und Bildungsfortschritte zurückzuführen (McKeown, Th. 1982; SVR 2002, Bd. I, Zf. 79 ff.). Der Beitrag der medizinisch-kurativen Versorgung zur Verbesserung der gesundheitlichen Ergebnisse und Lebenserwartung der Bevölkerung in der Vergangenheit wurde, je nach Modellansatz und methodischem Vorgehen sowie in Abhängigkeit vom Geschlecht, auf 10–40 % beziffert (SVR 2002, Bd. I, Zf. 95). Der verbleibende Anteil erklärt sich primär aus Fortschritten in den Lebensbedingungen und Lebensstilen. Dieser Befund entspricht überdies der gesundheitsökonomischen Sicht der ‚Gesundheitsproduktion‘, nach der die medizinisch-kurative Versorgung lediglich als ein Inputfaktor neben anderen zur Erzielung eines bestimmten Gesundheitsniveaus beiträgt (vgl. Grossmann, M. 2000). Die Bedeutung ökonomischer und sozialer Einflussfaktoren für die Prävention wird in der epidemiologischen Fachliteratur anerkannt: „The primary determinants of disease are mainly economic and social, and therefore its remedies must be economic and social.“ (Rose, G. 1992, S. 29). Aufgrund der Vielzahl möglicher Einflussfaktoren auf den Gesundheitsstatus von Individuen und Bevölkerungsgruppen (vgl. Abbildung 1) sind außer der (expliziten) Gesundheitspolitik (Rosenbrock, R. u. Gerlinger, T. 2006) v. a. die folgenden Politikfelder für die Primärprävention von Bedeutung:

Wirtschafts- und Sozialpolitik, darunter Arbeitsmarktpolitik, Bildungspolitik, darunter Schulpolitik, Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Umweltpolitik.

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1. Einführung

Eine effektive Primärprävention setzt einen gemeinsamen Zielhorizont, Konsens über Begriffsinhalte und Strategien sowie eine enge inter- wie intrasektorale Kooperation der Akteure in verschiedenen Politikfeldern und Lebensbereichen voraus. Abbildung 1: Einflussgrößen gesundheitlicher Outcomes Prädisponierende Faktoren

Sozialer Status und Lebensstil

– Erbfaktoren – Geschlecht, Alter – Krankheitsgeschichte

– Einkommen, Vermögen Individuelle Variablen

– Ausbildung, Beruf, Status – Ernährung – Gesundheitsverhalten

Gesundheitliche Outcomes

Medizinische Infrastruktur – Quantität und Qualität der medizinischen und pflegerischen Leistungen – Zugangsvariable

Transsektorale Determinanten – Bildungswesen Systembedingte Variable

– Umweltqualität – Wohnverhältnisse – Arbeitsbedingungen – Verkehrssicherheit – Wanderungsintensität

Quelle: SVR 2002

Unabhängig von einer näheren Bestimmung präventionspolitischer Anliegen hängt die Zielsetzung präventiver Interventionen von dem Zeitpunkt der Intervention in den Prozess der Krankheitsentstehung ab. Unter diesem Aspekt wird zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention unterschieden: Primärprävention zielt auf die Senkung der Eintrittswahrscheinlichkeit von

Krankheiten und Unfällen bei einem Individuum oder einer (Teil-)Population. Das gesundheitspolitische Ziel ist die Senkung der Inzidenz von Krankheiten und Unfällen (Auftreten neuer Fälle innerhalb eines definierten Zeitraums). Sekundärprävention zielt auf die Entdeckung eines eindeutigen, evtl. symptomlosen Frühstadiums einer Krankheit und auf eine frühzeitig einsetzende Therapie. Gesundheitspolitisches Ziel ist die Senkung der Inzidenz manifester bzw. fortgeschrittener Erkrankungen oder Krankheitsstadien. Tertiärprävention bezeichnet in einem weiteren Sinne die Behandlung einer Krankheit mit dem Ziel, ihre Verschlimmerung zu vermeiden oder zu verzögern. In einem engeren Sinne beinhaltet sie die Vermeidung, Linderung oder Kompensation von Einschränkungen und Funktionseinbußen, die aus einer Krankheit oder aus einem Unfall resultieren (Rehabilitation).

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1.1 Zielspektrum der Präventionspolitik

Die Komplexität der Ätiologie und des Verlaufs von Krankheiten erschwert die Bildung trennscharfer Kategorien und einer einheitlichen Terminologie. Bestimmte Krankheiten erhöhen das Risiko des Auftretens anderer Krankheiten (z. B. Hypertonie). Die Grenzen zwischen den Ebenen der Prävention können auch durch eine verfeinerte Diagnostik unschärfer werden (Walter, U. 2004). Bei der Sekundärprävention und Tertiärprävention bestehen fließende Übergange zur Kuration. In der Kardiologie wird auch die Vermeidung einer Zweiterkrankung nach behandelter Ersterkrankung (z. B. Reinfarkt nach Herzinfarkt) unter Sekundärprävention subsumiert (Walter, U. 2004). Bei dieser Verwendung des Begriffs kann die Sekundärprävention z.B. eine lipidsenkende Pharmakotherapie umfassen. Tertiärprävention und Rehabilitation werden weitgehend gleichgesetzt, sofern der Begriff der Tertiärprävention nicht in einem weiteren Sinne verwendet wird und neben rehabilitativen auch kurative Elemente umfasst. Ungeachtet der Bandbreite präventiver Ziele und Unterziele lässt sich die Zielsetzung der Primärprävention auf einer allgemeinen Ebene noch näher bestimmen: Vermeidung, Abschwächung oder zeitliche Verschiebung von Mortalität und

Morbidität und den sich aus ihr ergebenden Einbußen an Lebensqualität und Einschränkungen der Teilhabe am sozialen Leben (Vermeidung bzw. zeitliche Verlagerung von ‚intangiblen‘ Krankheitskosten), Vermeidung, Verringerung und/oder zeitliche Verschiebung von direkten Krankheitskosten (d. h. Ressourceneinsatz für Kuration und Rehabilitation bzw. Ausgaben der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung), Investition in Gesundheit als einen aufgrund demographischer Trends zunehmend wichtigen Bestandteil des ‚Humankapitals‘ bzw. Vermeidung, Verringerung und/oder zeitliche Verschiebung von indirekten Krankheitskosten (d.h. reduzierte Produktivität in Betrieben und Verwaltungen, bei freiberuflicher bzw. selbständiger Tätigkeit, im bürgerschaftlichen Engagement sowie im privaten Umfeld und daraus entstehende gesamtgesellschaftliche Produktions- und Wohlfahrtsverluste); Erhalt bzw. Erhöhung des Produktionspotenzials, wobei ‚Produktion‘ in einem weiten Sinne zu verstehen ist und jede Form des sozialen Engagements und der aktiven sozialen Teilhabe einschließt. Die zeitliche Verschiebung von Morbidität in einer Bevölkerung wurde in der Public Health-Literatur bislang als eine mögliche oder wünschenswerte Entwicklung diskutiert (‚Kompressionsthese‘; Fries, J.F. 1980). Der Inhalt der Hypothese besteht vor allem darin, dass sich die Phase der Morbidität im Lebenslauf bei einer Steigerung der Lebenserwartung nicht in gleichem Maße verlängern muss wie die Lebensspanne. Eine Kompression der Morbidität liegt vor, wenn die für ein höheres Lebensalter typische Belastung durch chronische Krankheiten bzw. Behinderungen schneller zurückgeht als die Mortalität, wenn also das Auftreten vor allem chronisch-degenerativer Erkrankungen im Bevölkerungsdurchschnitt zeitlich stärker aufgeschoben wird als die Lebenserwartung steigt (vgl. Fries, J.F. 2003). Nach der absoluten Kompressionsthese nimmt die (chronische) Morbidität, d. h. die Zeitspanne zwischen dem Alter beim erstmaligen Ausbruch chronisch-irreversibler Morbidität und dem späteren Sterbezeitpunkt, im Zuge von Lebenserwar-

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tungssteigerungen absolut ab. Diese absolute Kompression liegt darin begründet, dass sich das Alter beim Ausbruch chronischer Morbidität (absolut) mehr hinauszögert als der spätere Todeszeitpunkt (vgl. Fries, J.F. 1980). Diese zeitliche Verschiebung des Ausbruchs der Krankheit geht u. a. auf Gesundheitsförderung und Primärprävention, aber auch auf zahlreiche Faktoren zurück, die wie das Bildungswesen oder die ökologische Umwelt außerhalb des Gesundheitswesens wurzeln. Eine schwächere Version (relative Kompression) postuliert dagegen nur, dass der Anteil des Lebens, der im Zustand chronisch-irreversibler Morbidität verbracht wird, durch den skizzierten Mechanismus im Zuge einer Zunahme der Lebenserwartung sinkt (vgl. Fries, J.F. 1983). Die relative Morbiditätskompression stellt eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die absolute Kompression dar. Eine absolute Morbiditätskompression lässt sich anhand vorliegender Daten für die USA (Fries, J.F. 2003) und für Österreich (Doblhammer, G. und Kytir, J. 2001) belegen. In der Fachliteratur bildete sich der Konsens heraus, dass die für ein höheres Lebensalter typische Belastung durch Krankheit bzw. Behinderung sinkt. Einzelne Ursachen dieser Entwicklung können kaum benannt bzw. nicht quantifiziert werden. Die festgestellte Morbiditätskompression kann wohl nicht allein auf veränderte Lebensstile zurückgeführt werden, da in dem betrachteten Zeitraum zwar der Tabakkonsum reduziert wurde, zugleich aber der Trend zu inaktiven Lebensstilen (sedentary lifestyles) anhielt und auch die Prävalenz der Adipositas stieg. Weitere mögliche Gründe für die Morbiditätskompression können sowohl in Verbesserungen der medizinischen Versorgung begründet sein als auch aus dem Zusammenhang zwischen dem Bildungs- und dem Gesundheitszustand erklärt werden. Das durchschnittliche Bildungsniveau des älteren Teils der Bevölkerung in den USA stieg in den letzten Jahrzehnten (Fries, J.F. 2003). Freilich ist zu beachten, dass sowohl die relative als auch die absolute Kompression von Morbidität in der hier skizzierten Fassung mit einer Steigerung der Anzahl der mit chronischen Krankheiten verbrachten Jahre in einer Bevölkerung kompatibel ist. Der Grund liegt darin, dass sich beide Maße auf den Bevölkerungsdurchschnitt und damit auf die aggregierten Lebensverläufe in einer Bevölkerung beziehen. Wenn jedoch gleichzeitig aufgrund des demografischen Wandels die Anzahl der alten und damit für chronische Erkrankungen anfälligeren Menschen steigt, kann trotz durchschnittlich individuell sinkender Anzahl der mit Krankheit verbrachten Jahre (absolute Kompression) die Anzahl der Jahre mit Krankheit steigen. Eine bevölkerungsbezogen absolute Kompression der Morbidtät liegt demnach erst dann vor, wenn die Manifestation chronisch-irreversibler Morbidität in der Bevölkerung so weit hinausgeschoben wird, dass die durch die höhere Lebensdauer und die damit steigende Anzahl älterer, alter und sehr alter Menschen gleichzeitig steigende Summe der mit Krankheit verbrachten Jahre mehr als kompensiert wird. In diesem Falle sinkt die Anzahl der mit Krankheit verbrachten Jahre trotz Zunahme der Anzahl älterer Menschen. Ob dies ein erreichbares Ziel ist, kann derzeit nicht sicher eingeschätzt werden. In diesem Falle könnte es auch – bei konstanten Versorgungskosten und ohne anbieterinduzierte Nachfrage – zu echten Kostensenkungen für die Krankenversorgung infolge sinkenden Bedarfs und sinkender Nachfrage kommen (zur Terminologie: SVR 2003, Bd. III,1).

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1.2 Interventionsformen und Strategien

Der Prävention fällt vor diesem Hintergrund die Aufgabe zu, die zeitliche Verlagerung von Morbidität und Behinderung im Lebenszyklus zumindest zu stabilisieren und nach Möglichkeit weiter zu verstärken. Dabei stellt sich allerdings die Frage, welche präventiven Strategien verfolgt werden sollen. ‚Präventionskampagnen‘ zielen häufig auf die Modifikation verhaltensbezogener Risikofaktoren wie Tabak- und Alkoholkonsum, Fehlernährung und Mangel an Bewegung. Eine Verringerung der durch sozioökonomische Einflussfaktoren mitverursachten Ungleichverteilung von Gesundheitschancen kann als eine weitere primärpräventive Strategie aufgefasst werden, um durch die Verbesserung des Gesundheitsstatus benachteiligter Bevölkerungsgruppen eine Verbesserung populationsbezogener Werte zu erreichen.

1.2 Interventionsformen und Strategien 1.2.1 Verhältnisprävention Die Verhältnisprävention zielt auf die Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen als wesentliche Rahmenbedingungen der Gesundheitserhaltung und Krankheitsentstehung. Dabei verändern sich im Zeitablauf sowohl die Lebensverhältnisse als auch das Morbiditäts- und Mortalitätsgeschehen. So standen im ausgehenden 19. Jahrhundert bis in das 20. Jahrhundert hinein die Kontrolle von Infektionskrankheiten und in diesem Zusammenhang u. a. die Wohnverhältnisse und die öffentliche Hygiene im Mittelpunkt von primärpräventiven Interventionen. Mit der Wahrnehmung von potenziell gesundheitsschädlichen Umweltbelastungen gewannen im Verlauf des 20. Jahrhunderts umweltpolitische Aspekte an Bedeutung. Andere Politikfelder mit präventionspolitischer Bedeutung sind der Verbraucherschutz und die Agrarwirtschaft bzw. Lebensmittelproduktion. Die Regulierung dieser Politikfelder durch gesetzliche und untergesetzliche Normen zielt v. a. auf eine gesundheitsdienliche Gestaltung von Lebensverhältnissen. Zur Verhältnisprävention sind weiterhin zahlreiche Maßnahmen des ‚Gesundheitsschutzes‘ zu rechnen, u. a. in den Bereichen (BZgA 2003b): gesundheitlicher Verbraucherschutz (Trinkwasserschutz; Sicherheit von

Produkten, u. a. von Lebens- und Arzneimitteln), Infektionsschutz, umweltbezogener Gesundheitsschutz (Immissionsschutz, Strahlenschutz,

Anlagensicherheit), Arbeitsschutz in Betrieben, Verkehrssicherheit, Sicherheitspolitik (Prävention von ‚Bioterrorismus‘).

Bei den Regelungen mit präventivem Gehalt im deutschen Verwaltungsrecht überwiegt der Anteil an Verhältnisprävention (Seewald, O. 2002). Die Verhältnisprävention ist daher im Prinzip eine etablierte Interventionsform. Viele Regelungen, Interventionen und Initiativen mit Bedeutung für die Primärprävention bewegen sich jedoch außerhalb des traditionellen Aufgabenspektrums der (expliziten) Gesundheitspolitik bzw. explizit gesundheitsbezogenen Präventionspolitik, zumindest so-

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weit diese von Gesundheits- und Sozialministerien verantwortet wird. Weiterhin wurden in Diskussionen über die ‚Verhältnisse‘, denen Bedeutung für die Primärprävention zukommt, wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen erörtert, die nach einer verbreiteten Einschätzung in einer vor allem verhaltensorientierten Prävention mitunter vernachlässigt werden. Eine den heutigen ‚Verhältnissen‘ angepasste Prävention sollte verstärkt offene und verdeckte Anreize, die gesundheitsgefährdendes Verhalten und ‚distress‘ begünstigen, in den Blick nehmen. Chancen einer Verbesserung von gesundheitsrelevanten Rahmenbedingungen durch gezielte Interventionen bietet vor allem der Setting-Ansatz1, der allerdings nicht eindeutig einer bestimmten Interventionsform wie Verhältnis- und Verhaltensprävention oder Gesundheitsförderung zuzuordnen ist, sondern eine Integration der unterschiedlichen Ansätze ermöglicht und erfordert. Insbesondere die Bedeutung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse für die Gesundheit führt zu der Schlussfolgerung, dass eine langfristig erfolgreiche Prävention der engen Zusammenarbeit zahlreicher staatlicher und nicht-staatlicher Akteure bedarf, darunter der Bund, Länder und Kommunen, die Sozialversicherung, privatwirtschaftliche bzw. gemeinnützige Unternehmen und andere Organisationen der Zivilgesellschaft. Der hohe Koordinationsbedarf und Interessenkonflikte erschweren, ungeachtet einer prinzipiellen Übereinstimmung über die Bedeutung der Prävention, eine erfolgreiche Präventionspolitik (Hajen, L. 2004). Ein hoher Koordinationsbedarf und unterschiedliche Perspektiven und Interessen der relevanten Akteure können auch die praktische Umsetzung des Setting-Ansatzes z. B. in Städten und Gemeinden erschweren.

1.2.2 Verhaltensprävention Entstehung und Verlauf verschiedener chronischer Krankheiten, die das Morbiditäts- und Mortalitätsgeschehen heute weitgehend bestimmen, werden maßgeblich durch individuelle Verhaltens- und Konsummuster beeinflusst. Aus diesem Grund fokussierten präventive Interventionen häufig auf Verhaltensweisen (‚Verhaltensprävention‘), wobei sich diese Interventionen allerdings oft in Informations- und Edukationsmaßnahmen erschöpften. Diese Art der Prävention nimmt oftmals keinen Bezug auf die Entstehungsbedingungen der zu prävenierenden Verhaltensbzw. Konsummuster und vernachlässigt die Bedeutung gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen im jeweiligen Lebenskontext. Die Effektivität zielgruppen- und kontextunabhängiger und auf Risikoinformation und ‚Gesundheitserziehung‘ reduzierter Interventionen wird daher bezweifelt. Während eine ‚reine‘ Verhältnisprävention idealtypisch keine lebensstilbezogenen Entscheidungen voraussetzt, weist eine ‚reine‘ Verhaltensprävention als entgegengesetztes Extrem keinen Bezug zu den Kontext-, Rahmen- und Entstehungsbedingungen individueller Verhaltensweisen auf. Als richtungsweisend erscheinen

1 Ein Setting ist ein durch formale Organisation, regionale Situation und/oder gleiche Lebenslage und/oder gemeinsame Werte bzw. Präferenzen definierter und den beteiligten Personen subjektiv bewusster sowie dauerhafter Sozialzusammenhang. Von ihm gehen wichtige Impulse auf die Wahrnehmung von Gesundheit, auf Gesundheitsbelastungen und/oder -ressourcen (Einfluss auf die Belastungs-Ressourcen-Bilanz) aus. Bedeutung in der Praxis haben bisher vor allem die Settings Betrieb, Stadt bzw. Stadtteil, Schule und Krankenhaus gewonnen.

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1.2 Interventionsformen und Strategien

Zwischenformen jenseits dieser Extreme. Derartige Zwischenformen lassen sich als ‚kontextorientierte Verhaltensmodifikation‘ bzw. ‚verhältnisgestützte Verhaltensprävention‘ (Rosenbrock, R. 1993b) bezeichnen. Sie können in ‚Mehr-Ebenen‘-Präventionskampagnen zu bestimmten Gesundheitsproblemen, z. B. in einer AntiTabak-Kampagne (SVR 2002, Bd. III, Zf. 62ff.), vor allem aber im Rahmen des ‚Setting-Ansatzes‘ umgesetzt werden. Da der Setting-Ansatz unterschiedlich weit interpretiert wird, lassen sich Interventionen im Hinblick auf ihren Kontextbezug wie folgt ordnen: ‚Reine‘ Verhaltensprävention ohne expliziten Kontextbezug (kontextunabhän-

gige Medienkampagnen, Beratungs- und Trainingsangebote z.B. in Kursen und Gruppen in Einrichtungen der Krankenkassen), Kontextorientierte (‚verhältnisgestützte‘) Verhaltensprävention: a) Verhaltensprävention mit einem expliziten Kontextbezug, z. B. Interventionen für präzise definierte Zielgruppen unter Verwendung von Konzepten und Instrumenten des social marketing und Beachtung der Rahmenbedingungen des Verhaltens, oder Nutzung eines Settings als Zugangsweg für definierte Zielgruppen (‚Gesundheitsförderung im Setting‘), b) Integration von Verhältnis- und Verhaltensprävention, z. B. im Rahmen von ‚Mehr-Ebenen‘-Kampagnen zu definierten Gesundheitsproblemen, vor allem aber in der Gestaltung von verhaltens- und lebensstilprägenden Settings (‚gesundheitsförderndes Setting‘) und ‚Reine‘ Verhältnisprävention ohne die Notwendigkeit individueller Entschei-

dungen über Verhaltens- und Konsummuster (z. B. durch Normierung im Verbraucher- oder Immissionsschutz). Eine weitere Differenzierung knüpft an der Zielpopulation der Intervention an. Dabei kann es sich, z. B. wenn die präventive Leistung im Arzt-Patienten-Verhältnis erbracht wird, um Individuen handeln. Von größerer Relevanz für die präventive Praxis sind Interventionen in Settings wie Schulen, Betriebe und Verwaltungen sowie bevölkerungsbezogene Kampagnen (z. B. Anti-Tabak-Kampagne). Somit lassen sich primärpräventive Interventionen außer nach dem Kriterium des Verhaltenskontextes auch nach den Interventionsebenen Individuum, Setting und Bevölkerung klassifizieren.

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1. Einführung

Tabelle 1: Primärpräventive Interventionen: Interventionsebenen und Kontextbezug Kontext- Verhaltensprävention mit Fokus auf bezug Information, Motivation, Beratung ohne verhältnispräventive Elemente Interventionsebene

Verhaltensprävention mit Kontextbezug bzw. Weiterentwicklung von Rahmenbedingungen des Verhaltens

Individuum (Mikroebene)

z. B. ärztliche, dabei weitgehend standardisierte Gesundheitsberatung für einen Patienten in der Arztpraxis

z. B. ‚präventiver Hausbesuch‘ mit Bezug/Beratung zu individuellen Lebensbedingungen und -stil

Setting (Mikro- bzw. Mesoebene)

z. B. edukative Angebote in Schulen (‚Gesundheitsunterricht‘) und Informationsangebote in Betrieben ohne klaren Kontextbezug‚ ‚Gesundheitsförderung im Setting‘

z. B. Gesundheitsförderung in Schulen, Betrieben und Verwaltungen u. a. durch Organisationsentwicklung mit partizipativen Elementen, ‚gesundheitsfördernde Settings‘

Bevölkerung (Makroebene)

Motivationskampagnen ohne Kontextbezug, z. B. ‚Esst mehr Obst‘, ‚Rauchen gefährdet die Gesundheit‘ sowie social marketing ohne Beeinflussung von Rahmenbedingungen des Verhaltens

z. B. Anti-Tabak-Kampagne unter Einschluss verhältnispräventiver Maßnahmen (Abbau von Zigarettenautomaten, Nutzung der Tabaksteuer für präventive Zwecke etc.) Quelle: nach Rosenbrock (2004c)

Ein expliziter Kontextbezug von Interventionen stellt sicher, dass das Lebensumfeld und die Rahmenbedingungen und Anreize des Verhaltens in der Planung und Durchführung von Interventionen berücksichtigt bzw. gezielt gestaltet werden. Auf diese Weise sollen gesundheitsdienliche Verhaltensentscheidungen und eine Habitualisierung entsprechender Verhaltensmuster erleichtert werden. Eine am Krankheitsrisiko ansetzende Klassifizierung primärpräventiver Strategien unterscheidet zwischen risiko- bzw. hochrisikogruppenorientierten und bevölkerungsbezogenen Interventionen. Dabei kann die Auswahl von Risikogruppen z. B. nach den folgenden Kriterien erfolgen (Walter, U. u. Schwartz, F.W. 2003): Geschlecht, Alter, z. B. Säuglinge, Kinder, Jugendliche, Ältere, Hochbetagte, Lebensphase, z. B. Schwangerschaft, Übergang in den Ruhestand, nach

Verlust des Lebenspartners, Pflege von Angehörigen, Bevölkerungsgruppe in einem bestimmten Setting, Bevölkerungsgruppe mit spezifisch erhöhten Krankheitsrisiken, vulnerable und sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen, z. B. Arbeits-

lose, Obdachlose und bestimmte Gruppen von Migranten (Ziglio, E. et al. 2003). Nach dem ‚Präventionsparadoxon‘ können Interventionen, die auf große Bevölkerungsgruppen mit geringen individuellen Risiken zielen, wirksamer sein als Strategien, die zunächst Personen mit hohem Risiko identifizieren und sich auf eine eng abgegrenzte Teilpopulation konzentrieren (z. B. Rose, G. 1997; Walter, U. u. Schwartz, F.W. 2003). Bei einer Gegenüberstellung der Idealtypen ‚Bevölkerungsstrategie‘ und ‚Hochrisikopersonenstrategie‘ wird u. U. vernachlässigt, dass ein auf

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1.2 Interventionsformen und Strategien

Risikogruppen fokussierendes Vorgehen eine sinnvolle Zwischenform innerhalb dieses Spektrums darstellen kann. Aus diesem Grund sollte zwischen einer ‚Risikogruppenstrategie‘, die Populationen mit einem erhöhten Gesundheitsrisiko identifiziert und damit zugleich Grundlagen für eine zielgruppengerechte Ausgestaltung von Präventionsmaßnahmen legt, und einer ‚Hochrisikopersonenstrategie‘, die vor allem auf Individuen mit sehr hohem Erkrankungsrisiko bzw. mit bereits eingetretener Erkrankung fokussiert und z. T. sekundär- bzw. tertiärpräventive Maßnahmen nahelegt, unterschieden werden.

1.2.3 Gesundheitsförderung Eine an der Ottawa-Charta der WHO (WHO 1986; vgl. Kickbusch 2003) orientierte Präventionspolitik soll auf mehreren Handlungsfeldern Aktivitäten entfalten, um ihren Zielgruppen bzw. der gesamten Bevölkerung ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und um sie zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen, vor allem bei der Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik, die sich nicht nur

auf das klassische Gesundheitsressort (vor allem Krankenversicherung, Krankenversorgung, öffentlicher Gesundheitsdienst) beschränkt, sondern auch die anderen gesundheitsrelevanten Politikfelder und Lebensbereiche berücksichtigt, Gestaltung gesundheitsfördernder Lebenswelten (Settings), z. B. durch betriebliche Gesundheitspolitik, ‚gesundheitsfördernde Schulen‘ und ‚gesunde Städte‘ (healthy cities) sowie gemeindebezogene Initiativen, Neuorientierung der Gesundheitsdienste, z. B. Gesundheitsförderung in Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen, Alten- und Pflegeheimen, und Entwicklung persönlicher Kompetenzen und Bildung (life skills, health literacy) (vgl. Kickbusch et al. 2006). Die Handlungsfelder der Gesundheitsförderung nach der Ottawa-Charta2 umfassen damit Ansätze der Verhältnisprävention sowie den Aspekt der individuellen Handlungsspielräume und -ressourcen. Individuelle Ressourcen helfen dabei, konstruktiv mit Belastungen umzugehen, ohne gesundheitsschädigende Verhaltensweisen anzunehmen, und ermöglichen bzw. erleichtern eine der Gesundheit dienliche Lebensgestaltung. In der wissenschaftlichen Literatur werden zahlreiche für die Gesundheitsförderung u. U. relevante, einer quantitativen Erfassung aber unterschiedlich gut zugängliche Gesundheitsressourcen erwähnt (vgl. WHO 1987). In der Gesundheitspsychologie werden Einflussfaktoren, die geeignet sind, die psychische, physische und soziale Gesundheit eines Menschen zu fördern, als Ressourcen bezeichnet (Weber, H. 2002). Dabei lassen sich personale, soziale und materielle Ressourcen unterscheiden.

2 „Health promotion is the process of enabling people to increase control over, and to improve, their health. To reach a state of complete physical, mental and social wellbeing, an individual or group must be able to identify and to realize aspirations, to satisfy needs, and to change or cope with the environment. Health is ... seen as a resource for everyday life ... Health is a positive concept emphasizing social and personal resources, as well as physical capacities.“ (WHO 1986).

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Zu den personalen Ressourcen zählen nach dieser Einteilung neben der physischen Konstitution und damit auch der genetischen Disposition (vgl. Schmidtke, J. 2003) vor allem die generelle ‚Lebenskompetenz‘ (life skills) und Bildung in einem umfassenden Sinne. Dazu gehören die formale Ausbildung, die unmittelbar berufsbezogene Bildung und Erfahrung und die generelle Persönlichkeitsbildung sowie das gesamte verfügbare Repertoire an Strategien zur Lebensgestaltung und zur Bewältigung von widrigen Umständen und Krisen. In der gesundheitspsychologischen Literatur werden darüber hinaus weitere nicht immer trennscharf voneinander abgegrenzte und in ihren Interdependenzen vollständig erforschte Konstrukte und Merkmale als personale Ressource verstanden. Hierunter fallen emotionale Ressourcen wie emotionale Stabilität, Überzeugungen und Erwartungen, z. B. das im salutogenetischen Ansatz betonte ‚Kohärenzerleben‘ mit den Komponenten der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit der Lebensumwelt (Wydler, H. et al. 2002). Zu den personalen Ressourcen wird weiterhin die Kompetenz zur Bewältigung von negativen Emotionen und (Dis-)Stress gerechnet – und zwar sowohl im Hinblick auf Krankheitsvermeidung als auch für die Krankheitsbewältigung (vgl. Schwarzer, R. et al. 2002, Riekmann, N. 2002; Schumacher, J. 2002; Weber, H. 2002). In diesem Kontext wird auch auf die gesundheitsfördernde Wirkung von religiösen Glaubenshaltungen, Weltanschauungen und Wertvorstellungen, die von einem grundlegenden Zukunftsvertrauen getragen werden, hingewiesen (vgl. z. B. Siegrist, J. 2003; Institute of Medicine 2001). Soziale Ressourcen ergeben sich aus der Struktur und Qualität sozialer Beziehungen und Netzwerke. Während soziale Unterstützung eine bedeutende Ressource darstellt, können umgekehrt soziale Isolierung bzw. gestörte Sozialbeziehungen das Krankheitsrisiko erhöhen (Institute of Medicine 2001). Soziale Ressourcen umfassen die psychosoziale Unterstützung in einer Partnerschaft bzw. Familie, am Arbeitsplatz und im Rahmen anderer sozialer Netzwerke, aber auch Aspekte gesellschaftsweiter sozialer Kohäsion. In diesem Zusammenhang ist das Konzept des ‚Sozialkapitals‘ von Bedeutung (vgl. Trojan, A. u. Legewie, H. 2001; Wallack, L. 2001; Kawachi, I. u. Berkman, L. 2000). Materielle Ressourcen wie Erwerbseinkommen, privates Vermögen und finanzielle Planungssicherheit vermehren die individuellen Optionen einer gesundheitsdienlichen Lebensgestaltung. Insofern haben auch die Entwicklung von Einkommen und Vermögen bzw. die Einkommens- und Vermögensverteilung Bedeutung für die Primärprävention. Staatliche Realtransfers, wie kostenlose oder zu nicht kostendeckenden Preisen bzw. Gebühren angebotene Infrastruktur- und Dienstleistungen im Bildungswesen, bei Verkehrsleistungen oder im Sport können ebenso wie finanzielle Transferleistungen den materiellen Ressourcen zugeordnet werden. Eine andere Klassifikation von ‚Basisressourcen der Gesundheit‘, die sozialräumliche Einflussfaktoren explizit einbezieht, unterscheidet zwischen physikalisch-biologischen Ressourcen (ausreichende Nahrung, Wohn- und Lebensraum, angemessene sensorische Stimulation, Schutz vor körperlichen Schäden durch Umwelteinflüsse und medizinische Versorgung), psychosozialen Ressourcen (vor allem stabile Interaktion mit den im Lebenszyklus wichtigen Bezugspersonen als Voraussetzung für eine gelingende emotionale und kognitive Entwicklung) sowie sozioökonomischen und soziokulturellen Ressourcen. Zur letztgenannten Kategorie werden das Bildungs- und Gesundheitssystem, der Arbeitsplatz, die Wohnung, das System

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