9783939069195_leseprobe

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5 Krankentransport im Linienflugzeug A. GABEL

Bereits in der frühen Geschichte der Luftfahrt zeigten sich die Vorzüge des neuen Transportmittels für die Beförderung von Kranken oder Verwundeten über große Distanzen. Die erste militärische Nutzung erfolgte im Jahr 1909 mit einfachsten Lazarett-Tragen in einmotorigen Flugzeugen zur Überführung verletzter Soldaten. Nur kurze Zeit später folgten Krankentransporte in zivilen Flugzeugen unter vergleichbaren Bedingungen. War bei den Lazarett-Flugzeugen der ersten Stunde die Medizin Nebensache und stand das Fliegen als solches noch ganz im Vordergrund, so hat sich dieses Verhältnis bis zur Entwicklung des Rettungshubschraubers oder des PTC (Patient Transport Compartment) vollständig umgekehrt: Fluggeräte sind in dieser Anwendung Hilfsmittel zur Optimierung medizinischer Versorgung geworden. Die Anwesenheit der heute aus dem Erscheinungsbild einer Fluggesellschaft nicht mehr wegzudenkenden Flugbegleiterinnen geht letztendlich auf die Erfordernis medizinischer Hilfeleistung beim Krankentransport zurück: Die erste Flugbegleiterin in der Luftfahrtgeschichte war eine amerikanische Krankenschwester.

Der Transport von Patienten stellt bereits am Boden eine große Herausforderung dar. Bei kritisch Kranken oder Schwerverletzten droht eine wesentliche Aggravierung ihrer Erkrankung, das sog. „Transporttrauma“. Hierunter sind zweierlei Dinge zu verstehen: Zum einen führen mechanische Einflüsse wie Umlagerung, Bewegung und Erschütterung zu vermehrtem Bewegungsschmerz oder Dislokationen in Frakturen. Im Falle einer 47


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Halswirbelsäulenverletzung können diese bei unzureichender Ruhigstellung im schlimmsten Falle sogar zum Tode führen. Zum anderen kann der negativ erlebte Stress passiver Lokomotion starke vegetative Reaktionen auslösen, welche insbesondere beim kritisch Kranken therapeutisch schwer beeinflussbare Kreislaufregulationsstörungen bis hin zum Schockgeschehen nach sich ziehen.

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Unabdingbare Voraussetzung eines Krankentransportes U Un 1. begründete Indikation 2. differenzierte Abwägung von Nutzen und Risiko für den Patienten 3. Wahl eines geeigneten Transportmittels, Feststellung der erforderlichen Rahmenbedingungen und Hilfsmittel

Die Einschätzung der Transportfähigkeit und der erforderlichen Hilfsmittel sind ärztliche Aufgaben. Die Transportverantwortung liegt beim indizierenden Arzt und der durchführenden Luftverkehrsgesellschaft. Sofern eine ärztliche Begleitung erfolgt, übernimmt der begleitende Arzt die Obhut und somit die medizinische Verantwortung für den Patienten. Die großen Fluggesellschaften unterhalten eigene medizinische Dienste, welche Fluggäste, Reiseveranstalter und den Flugbetrieb beraten, die adäquaten Voraussetzungen für einen Krankentransport bestimmen und die medizinische Freigabe hierzu erteilen. Fachliche Voraussetzung für diese Tätigkeit ist die Zusatzbezeichnung Flugmedizin und/oder langjährige Erfahrung im Dienst der Fluggesellschaft. Auch bei Vorliegen banaler Erkrankungen sollten die o. g. Grundregeln beherzigt werden. Im unglücklichsten Fall können selbst aus Bagatelleverletzungen wie einer Sprunggelenkdistor-

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sion bei längerer Immobilisation schnell schwerwiegende Komplikationen, z. B. eine letale Lungenembolie bei fehlender Antikoagulation, erwachsen. Die haftungsrechtlichen Fragen werden dann unmittelbar an den beratenden Arzt gerichtet. Die Beurteilung der Transportfähigkeit bei sehr schwerwiegenden Erkrankungen sollte den Fachärzten des entsprechenden Gebietes mit intensivmedizinischer Ausbildung in Zusammenarbeit mit dem Arzt der Fluglinie vorbehalten bleiben. In der Regel erfordern solche Fälle eine ärztliche Begleitung durch einen notfall- oder intensivmedizinisch Erfahrenen.

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Sp sche Einflussgrößen unterscheiden den Lufttransport SSpezifi vo von der Beförderung auf dem Landweg.

Die Faktoren lassen sich in flugphysiologische Einflüsse und flugbetriebliche Gegebenheiten unterteilen.

Flugphysiologische Einflüsse: 1. Abnahme des Luftdruckes und des Sauerstoffpartialdruckes mit der Höhe 2. Trockenheit der Kabinenluft 3. erhöhte Thromboseneigung durch Sauerstoffmangel und Flüssigkeitsverlust durch Ödemneigung 4. Perspiratio und vermehrte Diurese 5. Stressoren durch Beschleunigung und Bewegung im dreidimensionalen Raum

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Ungünstige flugbetriebliche Rahmenbedingungen: 1. länger dauernde Immobilisation und Einengung des Bewegungsraumes 2. Einschränkung der therapeutischen Hilfsmittel und Eingriffsmöglichkeiten 3. möglicher Konflikt zwischen optimaler Patientenversorgung, Intimitätsbedürfnis des Kranken und Ruhebedürfnis anderer Mitreisender 4. erschwerte Erreichbarkeit klinischer Maximalversorgung bei unvorhergesehener Eskalation einer Erkrankung Die genannten Faktoren gilt es im Einzelfall auf den Patienten zu übertragen und möglichen Komplikationen durch Wahl der geeigneten Transportart und Hilfsmittel zu begegnen. Hierzu existiert ein abgestuftes Konzept, welches bei den großen Fluggesellschaften vom einfachen Rollstuhl bis hin zur vollständig ausgestatteten Intensivstation reicht. Nach grundsätzlicher Klärung der Transportfähigkeit ist zunächst die Frage nach der adäquaten Lagerung zu beantworten. 1. Ein sitzender Transport kann unter Zuhilfenahme z. B. eines Extra-Seats erfolgen. In Frage kommen Verletzungen, die verbesserte Möglichkeiten zum Ausstrecken oder Hochlagern eines Beines erfordern. Dabei gilt es zu beachten, dass die Notausstiege im Falle einer Evakuierung durch den Kranken nicht blockiert sein dürfen. 2. Sind derartige Maßnahmen nicht ausreichend, bietet sich als nächste Stufe die Buchung eines Business- oder First-ClassSitzes an. Je nach Ausstattung verfügt der betreffende Sitz über eine Fuß- und Beinstütze und kann in eine halbliegende bis liegende Position gebracht werden. Bei stabiler

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Erkrankung und fehlender Notwendigkeit zu therapeutischen Interventionen während des Fluges stellt diese Variante grundsätzlich die bequemste Beförderungsart dar. 3. Patienten, welche liegend transportiert werden müssen oder ärztliche Maßnahmen während des Fluges erwarten lassen, benötigen einen sog. „Stretcher“ (siehe Abb. 21). Es handelt sich dabei um eine recht komfortabel gepolsterte Liege mit aufstellbarem Oberkörperteil und Vorrichtung zum Aufhängen einer Infusion. Ergänzend kann eine Vakuummatratze zur optimalen Frakturstabilisierung aufgelegt werden. Zum Einbau eines Stretchers müssen zuvor zwei Sitzreihen verschoben werden, was zu einer merklichen Erhöhung der Transportkosten führt. Der Patient kann durch einen Vorhang von den Blicken anderer Fluggäste abgeschirmt werden, sodass einfache medizinische Handhabungen unter Wahrung der entsprechenden Intimsphäre und geringstmöglicher Belästigung der Mitreisenden möglich sind. 4. Kritisch Erkrankte, insbesondere bei bestehender oder drohender Beatmungspflicht, sind obligat im Patient Transport Compartment (PTC) zu befördern. Alternativ kommt ein intensivmedizinischer Transport in einem Ambulanzflugzeug in Frage. Das PTC ist bislang nur auf dem Langstreckennetz der Deutschen Lufthansa AG verfügbar. Es bietet alle Möglichkeiten zur differenzierten Beatmungstherapie einschließlich Überwachung des Blutgasstatus und invasiver Kreislaufkontrolle. Medikamentöse und apparative Ausstattung stehen der eines Notarztwagens, in Grenzen der einer Intensivstation gleich, sodass die Transportindikation großzügig gestellt werden kann.

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Abb. 21 Umrüstung von Lufthansa- und Condor-Linienflugzeugen zur Massenevakuierung aus Phuket anlässlich der Tsunami-Katastrophe im Dezember 2004. Der Einbau von 20 Stretchern, hier in eine Boeing 767, ermöglichte in Zusammenarbeit mit weiteren Fluggesellschaften die rasche Repatriierung der ca. 2500 Leicht- und 300 Schwerverletzten innerhalb der ersten Tage.

Neben der Wahl der geeigneten Lagerungsart müssen vor dem Flug die Fragen des Boardings (z. B. Rollstuhl, Preboarding beim Liegendtransport), der adäquaten Begleitung (Angehöriger, Sanitäter, Krankenpfleger oder Arzt), der benötigten Hilfsmittel (Sauerstoff – „on demand“ oder „constant flow“) sowie die weitere Übernahme und Versorgung nach dem Flug geklärt werden. Bei allen Verletzungen mit redressierendem Verband, Immobilisation, Schwellung sowie Erkrankungen mit erhöhter Thromboseneigung ist eine großzügige Indikationsstellung für eine Thrombembolieprophylaxe mit niedermolekularen Heparinen zu empfehlen. Zumeist ist eine einmalige Gabe zwei Stunden vor dem Flug ausreichend. 52


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