9783939069621_leseprobe

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Moderation: Eckart Rüther

Als langjähriger Leiter einer Klinik weiß ich, dass erstens das Gesundheitswesen nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt im Umbruch ist, und zweitens zur zukünftigen Gestaltung des Gesundheitswesens eine gehörige Portion Risikofreude gehört. Um hier nicht Verwerfungen und Anstöße zu produzieren, sollte das notwendigerweise anzunehmende Risiko nach Regeln ablaufen, die von Menschlichkeit, Ethik und Kreativität geprägt sind. Dies ist eben nicht immer der Fall und führt dann zu einer Überschreitung des Risikos und zu Fehlentwicklungen. Der Weg zur Risikokultur hat vier essenzielle Meilensteine, die es zu beachten gilt, die aber in letzter Zeit nicht oder nur wenig berücksichtigt werden, sowohl in der Politik als auch im interinstitutionellen Diskurs. Ob unbewusst oder absichtlich ist Ehrlichkeit im Umgang mit Daten und Absichten unbedingt erforderlich. Die Vertuschung von finanziellen Risiken gehört zur Öffentlichkeitsarbeit vieler öffentlicher Institutionen und wird als Kavaliersdelikt sanktioniert. Im Gegensatz zur geforderten Offenheit gegenüber neuer Möglichkeiten des Ausprobierens und Entwickelns verschließen sich die Führungsriegen und die Ausführenden durch Vermeidung und Abwehr. Aggressive Töne und Degradierung des Gegenübers sind Usus anstelle von Toleranz und Austausch. Die heutige Devise heißt: Nur nichts wagen, kein Risiko eingehen, und wenn, dann nur unter

Prof. Dr. Eckart Rüther Universität Göttingen

Geboren 1940 in Friedrichshafen. Nach seinem medizinischen Staatsexamen in München folgte 1966 die Promotion zum Dr. med., 1985 die Habilitation und 1986 die Professur für Psychiatrie. Von 1987 bis 2006 war Prof. Dr. Rüther unter anderem Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie in Göttingen.

der Bedingung des doppelten Bodens, der dem anderen nicht sichtbar gemacht wird. So ist Risikokultur nicht machbar, wohl aber mit den gelebten Tugenden der Ehrlichkeit, der Offenheit, der Toleranz und mit Wagnis. Health Care der Zukunft umfasst Gesundheit und Krankheit und wird wesentlich gestaltet durch die Ökonomisierung des Gesundheitsmarktes. Nach der WHO ist Gesundheit nicht nur ein Zustand ohne Krankheit, sondern schließt die subjektive Zufriedenheit mit dem Gesamtgefüge körperlichen und seelischen Befindens ein. Risikokultur wäre zu fordern, indem klar die Begrenzung des Mögli-

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1 Prävention und Gesundheitsförderung

chen abgesteckt würde. Von Prävention auf

pretationen schnell erhobener pseudowissen-

allen Ebenen wird gefaselt, ohne wirklich das Risiko einzugehen, wenigstens an einer Stelle einmal eine wissenschaftlich begründete Prävention eines Gesundheitsrisikos zu versuchen. Auch muss der Bevölkerung mitgeteilt werden, dass Zufriedenheit mit dem eigenen Wohlergehen nicht zur Aufgabe des Gemeinwesens gehört. Ebenso verlangt eine echte Risikokultur, dass davon Abstand genommen wird, den Versicherten jegliche Behandlung bei Krankheit in jedem Lebensalter zu versprechen, anstatt offen die Risiken auch einer Versicherung zu beschreiben. Krankheit ist immer noch das größte Risiko des Menschen, gegen das man sich nicht versichern kann. Und wirklich kriminell wird die Verschleierung der in den letzten Jahren immer intensiver werdenden Ökonomisierung des Gesundheitsmarktes. Profitgier auf allen Seiten, Minimierung der personellen Ressourcen sind Maximierung der Risikounkultur. Eine vernünftige Lösung dieser Probleme ist ein verantwortungsvolles Risikomanagement. Das Gesundheitswesen bedarf einer von allen Beteiligten erlebten und gelebten Verantwortung für das Gemeinwohl. Diese Feststellung ist eine Platitude, wenn sie nicht so ernst wäre und in der Regel missachtet würde. Die wissenschaftliche und auf Praxiserfahrung begründete Analyse der jeweiligen Konditionen, in denen Risiken entstehen, sollte zu geeigneten Prozessen führen, die dann wieder mit wissenschaftlicher und praktischer Evaluierung begleitet werden sollten. Leider sind Fehlinter-

schaftlicher Daten oft Ausgangspunkt weitreichender politischer Entscheidungen und einzelner Planungen für den Gesundheitsmarkt. Eine Organisation von Versorgungsstrukturen wie Kliniken, Polikliniken etc. ist schnell vermarktet, ohne die verantwortungsvolle Zukunftsanalyse zu Ende gedacht und Prozesse mit ihrer Evaluierung als Risikomanagement etabliert zu haben. Risikobereitschaft ist gefordert im gesamten Gebiet der Gesundheitsförderung. Der Dialog zwischen Anbietern und Architekten dient dazu, auf besondere Bedingungen der Risikobewältigung aufmerksam zu machen und Verständnis für die jeweils anderen Belange zu wecken. Lösungsmöglichkeiten für folgende Gebiete sind zu erarbeiten: Das Gesundheitssystem wird sich zu einer Individualisierung der Gesundheitsförderung entwickeln. Der Patient ist ein emanzipierter Klient, mit allen Informationen aus dem Internet und Bedürfnissen, welche die Anbieter überrollen wird. Andererseits ist auch die Eigeninitiative des Verbrauchers in höherem Maße gefragt als je in der Geschichte der Medizin. Die Politisierung des Gesamtsystems wird dem Verbraucher und allen Anbietern ein Zwangskorsett verpassen, in dem Risikobereitschaft und Management plötzlich nicht mehr zur Chance sondern zur Resignation führen könnte. Hier eine neue Möglichkeit der individuellen Entscheidung und Initiative zu schaffen ist ein Ziel der folgenden Beiträge. Ich hoffe, sie trägt Früchte.

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Prävention – Internationaler Vergleich der Versorgungssysteme und Einflussfaktoren auf die Gesundheitslandschaft Jürgen Fritze

Prof. Dr. Jürgen Fritze Psychiatrische Klinik der Universität Göttingen

Prof. Dr. Jürgen Fritze absolvierte 1975 das Staatsexamen in Heidelberg. Er war Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, habilitierte für das Fach Psychiatrie und ist seit 1997 außerplanmäßig Professor für Psychiatrie. Er war Oberarzt der Psychiatrischen Universitätsklinik in Würzburg, leitender Oberarzt am Zentrum der Psychiatrie der Universität Frankfurt am Main, Leiter der stationären Versorgung des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen und stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP). Er ist Herausgeber der Fachzeitschrift „Psycho/-neuro“. Seit 1997 leitender Arzt des Verbandes der privaten Krankenversicherung, Köln. Seit 2000 ist er gesundheitspolitischer Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Seit 2002 Geschäftsführer des Institutes für das Entgeltsystem im Krankenhaus GmbH. Seit 2006 stellvertretender Vorsitzender des „Aktionskreises Psychiatrie e. V.“.

In der Prävention von Krankheit wird traditionell zwischen primärer bis quartärer Prävention unterschieden. Primärprävention meint die Verminderung der Ursachen und Risikofaktoren von Krankheiten mit dem Ziel, deren Inzidenz zu mindern. Sekundärprävention meint das Entdecken von Krankheiten in – auch symptomfreien – Frühstadien, die dadurch ermöglichte erfolgreiche Frühtherapie; zum Teil wird auch die Rezidivprophylaxe der Sekundärprävention subsumiert. Tertiärprävention strebt an, bei bereits manifester Erkrankung deren Verschlimmerung zu verhindern, oder zumindest zu verzögern und abzumildern und Funktionseinbußen zu verhindern oder zumindest zu mildern, was den Zielen der Rehabilitation entspricht. Quartäre Prävention zielt auf das Bewahren der Selbständigkeit und Lebensqualität. Die Unterscheidung wird inzwischen hinterfragt, indem zum Beispiel die Sekundärprävention einer Krankheit der Primärprävention einer anderen Krankheit entsprechen kann (s. Tab. 1). Die Primärprävention von Krankheiten liegt grundsätzlich im Verantwortungsbereich und im ureigensten Interesse jedes – grundsätzlich gesunden – einzelnen Bürgers. Sie gehört damit grundsätzlich zum Bereich der privaten Lebensführung. Die Fürsorgepflicht des Sozialstaates macht Primärprävention zur gesamtgesell-

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1 Prävention und Gesundheitsförderung

Tab. 1

Prävention

Primär

Verminderung von (Teil-)Ursachen von Krankheiten, Verminderung der Inzidenz

Sekundär

Entdeckung von (auch symptomlosen) Frühstadien einer Erkrankung und deren erfolgreiche Frühtherapie, auch Rizidivprophylaxe

Tertiär

Verhütung, Verzögerung, Abmilderung der Verschlimmerung einer manifesten Erkrankung; Verhinderung, Milderung von Funktionseinbußen (Rehabilitation)

Quartär

Selbstständigkeit, Lebensqualität

schaftlichen Aufgabe, wenn der einzelne Bürger oder bestimmte Bevölkerungsgruppen an der Aufgabe subsidiär eigenverantwortlicher Prävention scheitern, auch weil andere sozialstaatliche Pflichten zur Gewährleistung der Chancengleichheit – zum Beispiel in Hinsicht der Bildung – unzureichend eingelöst werden. Indem jeder vernünftige Mensch Präventionsleistungen grundsätzlich in Anspruch nimmt, können sie eigentlich keine Versicherungsleistungen sein, auch wenn ihre Inanspruchnahme auch im ökonomischen Interesse der Versicherung ist. Leistungen, die grundsätzlich jeder in Anspruch nimmt, sind als Versicherungsleistungen grundsätzlich teurer als sie wären, wenn sie der einzelne selbst finanziert. Solche versicherungsfremden Leistungen sind also aus Perspektive des Beitragszahlers ökonomisch irrational. Inwieweit der Sozialstaat seine ggf. bestehende Fürsorgepflicht in Form von Präventionsleistungen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe erfüllt, kann auch von der jeweiligen Organisation des Gesundheitswesens abhängen. In Europa sind die Gesundheitssysteme zum Beispiel in Großbritannien, Irland, Schweden, Finnland, Italien, Portugal und Spanien steuerfinanziert, in Frankreich durch Zwangsbeiträge zur Sécurité sociale bei genereller Versicherungspflicht finanziert. Steuerfinanzierung ist nicht unbedingt gleichzusetzen damit, der Staat würde 100 % aller Gesundheitsleistungen finanzieren. In Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal werden knapp

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80 % der Gesundheitsausgaben von den Sozialversicherungen bestritten bzw. aus Steuern finanziert, in den anderen genannten Staaten knapp 90 %. Das – nicht nur – deutsche Gesundheitswesen ist auch bezüglich der Prävention hochkomplex organisiert (Walter & Schwartz 1998) (s. Abb. 1). Unterschiedliche Zuständigkeiten ergeben sich zwangsläufig auch aus der Notwendigkeit nicht-medizinischer Prävention als gesundheitsförderliche oder zumindest nicht -schädliche Gestaltung der materiellen und sozialen Umwelt. Dazu gehören technische Regeln mit problem- bzw. gruppenbezogenen Normen (Bauen, Verkehr, Lebensmittel, Emission, Immission, technischer Arbeitsschutz, Drogenverbot, Straßenverkehrsrecht, Produktwerbung, Jugendschutzgesetz, Strafrecht etc.) und Instrumente zur Durchsetzung der Normen. Dazu gehört aber auch die möglichst systematische Förderung präventiver Ressourcen wie Selbstbewusstsein, Information, Bildung, Einkommen, Partizipation, Verhaltensfreiräume, Unterstützung durch soziale Netze, Freizeitgestaltung. Entsprechend reichen die Zuständigkeiten von Bundesministerien wie für Umweltschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Gesundheit mit seinen nachgeordneten Instituten, hier insbesondere der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bis zum Bundesministerium für Bildung und Forschung und den entsprechenden Ministerien auf Landesebene. Der gesetzlichen Unfallver-


1.1 Prävention – Internationaler Vergleich der Versorgungssysteme und Einflussfaktoren auf die Gesundheitslandschaft

Abb. 1

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Einrichtungen und Strukturen der Prävention und Gesundheitsförderung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene (modifiziert nach Walter und Schwartz, Prävention im Deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 201)

sicherung (Berufsgenossenschaften) obliegt der Arbeitsschutz, der insbesondere in der Unfallverhütung in den letzten Dekaden sehr erfolgreich ist. Die gesetzliche Krankenversicherung widmet sich nach § 20 ff. SGB V insbesondere der Förderung der Selbsthilfe und der betrieblichen Gesundheitsförderung. Länder und Kommunen machen ihrerseits vielfältige Angebote in verschiedenen Settings (z. B. Schule, ÖGD). Die Unternehmen und der Verband der privaten Krankenversicherung fokussieren ihren Beitrag zur Prävention in Kooperation mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auf spezifische Probleme wie die AIDS-Prävention. Ein Präventionsgesetz, das u. a. die Präventionsleistungen neu organisieren und damit fokussieren wollte, fiel im 15. Deutschen Bun-

destag der Diskontinuität zum Opfer; im 16. Deutschen Bundestag droht es an seinen neuen Bürokratismen zu scheitern. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat im Jahr 2002 das „Deutsche Forum Prävention und Gesundheitsförderung“ initiiert. Das Forum fusionierte Ende 2007 mit der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e. V. (BVPG). Das BMG fördert die Prävention aber weiterhin u. a. durch eine Informationsplattform (www.die-praevention.de). Hier liegt ein Schwerpunkt in Setting-Ansätzen („Deutschland bewegt sich in der Kindertagesstätte, in der Schule, im Seniorenheim, im Betrieb, im Verein“). In Europa stellen die nicht-übertragbaren Krankheiten (Noncommunicable Diseases, NCD) die führenden Ursachen für Tod und

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1 Prävention und Gesundheitsförderung

Abb. 2

Sieben Risikofaktoren; Proportional of total disease burden (DALYs) attributable to seven leading risk factors in the WHO European Region, 2000 (The world health report 2002 – Reducing risks, promoting healthy life; WHO, European Region)

Krankheitslast (Disability adjusted life years, 1 DALYS) dar . 86 % der Todesfälle und 77 % der Krankheitslast ergeben sich aus einem Spektrum von 9 nicht übertragbaren Krankheitsgruppen mit gemeinsamen Risikofaktoren. Mit einem Ost-West-Gefälle stellen kardiovaskuläre Krankheiten die führenden Ursachen für Tod (52 %) und Krankheitslast (23 %) in Europa (in Definiton der WHO, also 38 Staaten) dar. An Rang 2 (20 % der Krankheitslast) folgen neuropsychiatrische Krankheiten, an Rang 3 (11 % bzw. 19 % der Todesfälle) Malignome. Dieser Morbidität liegen 7 Risikofaktoren zugrunde, die fast 60 % der Krankheitslast erklären: Bluthochdruck (12,8 %), Tabakkonsum (12,3 %), Alkoholkonsum (10,1 %), Hypercholesterinämie (8,7 %), Übergewicht (7,8 %), ballaststoffarme Ernährung (4,4 %), körperliche Inaktivität (3,5 %). Insbesondere das Übergewicht zeigt – schon bei Schulkindern – einen seit den

1960er-Jahren ungebrochen steigenden Trend in allen Staaten Europas. Diese Risikofaktoren interagieren für verschiedene der Krankheiten in unterschiedlichem Maße und hängen miteinander zusammen (s. Abb. 2). Zahlreiche Studien belegen die Relevanz der 2 Risikofaktoren : Die Mortalität an koronarer Herzkrankheit steigt mit abnehmendem Ballaststoffgehalt der Nahrung – zum Beispiel erkennbar an Gradienten innerhalb Europas – an. 5 prospektive Studien in Skandinavien und den USA zeigten, dass geringe soziale Integration mit höherer Mortalität assoziiert ist. Selbst gering erlebte Kontrolle über Arbeitsabläufe ist mit höherer Inzidenz der koronaren Herzkrankheit assoziiert. Unsicherheit des Arbeitsplatzes und Arbeitslosigkeit gehen mit erhöhtem Risiko chronischer Krankheiten generell, und insbesondere psychischer Krankheiten einher. Sozioökonomische Deprivation erhöht das Risiko

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WHO Regional Committee for Europe 2006

Wilkinson & Marmot 2003


1.1 Prävention – Internationaler Vergleich der Versorgungssysteme und Einflussfaktoren auf die Gesundheitslandschaft

Abb. 3

Standardisierte Suizidrate in Europa (WHO Europe, HFA Database; www.euro.who.int!informationsources)

der Abhängigkeit von Alkohol, Nikotin und illegalen Drogen. Geringer Bildungsstand – gemessen als höchster erreichter Schul- bzw. Universitätsabschluss – geht mit um 5–10 Jahre verkürzter Lebenserwartung einher. 3 Deshalb hat die WHO Europe einen umfassenden Aktionsplan entwickelt und Bausteine für einzelne Komponenten bereitgestellt. Dieser Ansatz sieht vor, mit Bevölkerungsbezug Programme zur Gesundheitsförderung und Krankheitsvermeidung aufzulegen, daneben spezifische Hochrisikogruppen gezielt zu adressieren, die Inanspruchnahme wirksamer Therapie und Versorgung zu maximieren. Sie erkennt ausdrücklich die sozialen Gradienten bei Risikofaktoren an und Krankheitslast und strebt an, diese zu lindern. Dabei sollen in einem umfassenden und integrierten Ansatz soziale Determinanten, protektive Faktoren, riskanter Lebensstil und die oben genannten biologischen Risikofaktoren angegangen werden, um die Erkrankungsrisiken der NCDs und 3

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WHO National Counterparts for European Strategy on Noncommunicable Diseases (NCD) 2006; WHO Europa 2006

ihre Progression zu mindern und damit Behinderung und vorzeitigen Tod zu verhindern. Was ist bisher davon in Europa umgesetzt? Eine Komponente des „Health for All“-Projektes der WHO bildet die Suizidprävention. Innerhalb Europas schwanken die Suizidraten mit 4 einem Faktor von ungefähr sechs (s. Abb. 3). Die der WHO antwortenden europäischen Staaten haben angegeben, im Rahmen der Suizidprävention ihren Bürgern spezifische Dienste und Information durch Einrichtungen des Gesundheitssystems anzubieten. Variabel ist das förmliche staatliche Engagement (commitment) in Form offizieller Dokumente oder gar Beschlüsse der Parlamente. Variabel sind auch mediale Aktionen (z. B. Aufklärungskampagnen) und Erleichterungen des – also niederschwelligen – Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen spezifisch für psychische Gesundheit. In vielen europäischen Staaten wird das Suizidproblem in der Schule thematisiert, weniger in Einrichtungen des Militärs (was angesichts des bei Männern doppelten Risikos sinn4

WHO 2002

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1 Prävention und Gesundheitsförderung

voll wäre) und am Arbeitsplatz. In einigen Staa-

sums, 42 % bezüglich Bluthochdruck, 76 % zum

ten wurden spezifische Institute zur Suizidprävention eingerichtet. Nur wenige führen Evaluationen der Maßnahmen zur Suizidprävention durch, anscheinend viele aber erfassen die Suizidraten. Die Erfassung der Suizidraten ist international wahrscheinlich deshalb seit Jahrzehnten etabliert, weil sie zur Kriminalitätsstatistik („Selbstmord“) gehörte. Für Deutschland konnte die WHO (2002) nichts zur Suizidprävention berichten, weil hier das „Nationale Suizidpräventionsprogramm für Deutschland“ erst später startete. Es wird von zahlreichen Organisationen des Gesundheitswesens, darunter insbesondere das Bundesministerium für Gesundheit, die gesetzliche und private Krankenversicherung, aber auch die Deutsche Bahn (jährlich ungefähr 900 Eisenbahnsuizide) unterstützt. Detaillierte Informationen zur Organisation und insbesondere Informationsbroschüren finden sich bei http://suizidpraevention-deutschland.de. Die Suizidrate (im Jahre 2004 20/100.000 für Männer und 7/1.000.000 für Frauen, also 7939 Männer und 2794 Frauen) ist in Deutschland seit 1990 rückläufig, im Wesentlichen indem sich die bis dahin (und seit dem 19. Jahrhundert) in den neuen Bundesländern höhere Suizidrate derjenigen in den alten Bundesländern angeglichen hat. Auch zum Stand der Initiativen zur Prävention der anderen nicht-übertragbaren Krankheiten hat WHO Europe eine Befragung der 5 Staaten durchgeführt . Von 52 Staaten haben 38 geantwortet. Danach haben 28 Staaten angegeben, ihre Gesundheitspolitik spezifisch auf die NCDs auszurichten und spezifisch darauf zielende Programme installiert zu haben. 25 (66 %) der 38 Staaten meldeten, Maßnahmen zur Eindämmung des Tabakkonsums ergriffen zu haben, 53 % solche im Interesse gesundheitsfördernder Ernährung, 45 % zur körperlichen Aktivität, 45 % zur Eindämmung des Alkoholkon-

Diabetes mellitus, 53 % zu Herzkrankheiten, 37 % zum Hirninfarkt („Schlaganfall“), 61 % zu Krebsleiden. Finnland wird als vorbildlich ausgewiesen („The best-documented influence of the European Health for All policy on national policy formulation“). Großbritannien weise spezifische Schwerpunkte beim Abbau sozialer Gradienten auf. Deutschland habe darunter gelitten, dass 1987/1990 eine Projekt „Gesundheit für alle“ publiziert worden sei, das als einer sozialistischen Planwirtschaft ähnelnd kritisiert worden sei. In der Hälfte der Bundesländer, beginnend in Hamburg (1992) und NordrheinWestfalen (1995) sei ein „Gesundheitsziele-Prozess“ (Stand 2005) aufgelegt worden – inzwischen in jedem Bundesland zumindest geplant. Jedoch gäbe es in Deutschland keine zielgerichteten oder systematischen Anstrengungen, das umfassende „Health-for-all“-Konzept der WHO umzusetzen. Immerhin hat die „Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung“ (GVG) 1997 einen „Gesundheitsziele-Prozess“ (www. gesundheitsziele.de) auf Bundesebene initiiert, der 2000 bis 2007 vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert wurde. Auch dieser „Gesundheitsziele-Prozess“ hat bisher den umfassenden WHO-Ansatz nicht aufgegriffen. Vielmehr wurden die krankheitsbezogenen Gesundheitsziele „Brustkrebs: Mortalität vermindern, Lebensqualität erhöhen“, „Diabetes mellitus Typ 2: Erkrankungsrisiko senken, Erkrankte früh erkennen und behandeln“ und „Depressive Erkrankungen: verhindern, früh erkennen, nachhaltig behandeln“, das präventionsbezogene Gesundheitsziel „Tabakkonsum reduzieren“, das bevölkerungsgruppenbezogene Ziel „Gesund aufwachsen: Ernährung, Bewegung, Stressbewältigung“ und das Ziel „Gesundheitliche Kompetenz erhöhen, Patientensouveränität stärken“ mit systematischer Methodik identifiziert. Für jedes Ziel sind Teilziele beschrieben sowie Maßnahmen für die

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WHO Europe 2005


1.1 Prävention – Internationaler Vergleich der Versorgungssysteme und Einflussfaktoren auf die Gesundheitslandschaft

Umsetzung vorgeschlagen worden. Die Gesundheitsziele hat sich die Bundesregierung förmlich zu eigen gemacht. An alle Zielthemen werden die Querschnittsanforderungen Stärkung der Selbsthilfe, Bürger- und Patientenorientierung, Prävention auch bei Krankheitszielen, Evidenzbasierung, sektorale Verzahnung und Integration, gesundheitliche Chancengleichheit und Gender Mainstreaming gestellt. Die damit nur teilweise kompatiblen Gesundheitsziele der Bundesländer findet man bei www.gesundheitsziele.de synoptisch präsentiert (s. Abb. 4). Das „Deutsche Netz Gesundheitsfördernder Krankenhäuser gem. e. V.“ (http://www.dngfk. de/) ist 1996 aus einer Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahre 1993 mit derzeit ungefähr 70 Mitgliedskrankenhäusern hervorgegangen. Heute gibt es über 800 Krankenhäuser, die auf dieser Basis in 20 nationalen und 10 regionalen Netzen in 23 europäischen

Abb. 4

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Ländern organisiert sind. Das Netzwerk hat „Achtzehn grundlegende Strategien für gesundheitsfördernde Krankenhäuser“ formuliert und in einer Matrix zusammengestellt mit Bezug jeweils auf Patienten, Mitarbeiter und die Region: Befähigung zum gesundheitsfördernden Selbstmanagement, Befähigung zur Koproduktion von Gesundheit, Entwicklung eines gesundheitsfördernden KrankenhausSettings, Befähigung zu gesundheitsförderndem Krankenhausmanagement, Befähigung zu gesundheitsfördernden Lebensstilen, Entwicklung eines gesundheitsfördernden RegionSettings. Angesichts von jährlich ungefähr 17 Mio. Krankenhausfällen in Deutschland bietet sich in der Tat an, diesem erheblichen, Krankenhausleistungen in Anspruch nehmenden Anteil der Bevölkerung nicht nur die spezifische krankheitsbezogene Intervention zukommen zu lassen, sondern die Chance zur Prävention zu nutzen.

Gesundheitsziele der Bundesländer (modifiziert nach www.gesundheitsziele.de)

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1.2

Mehr Licht! Präventive Gesundheitsförderung durch Architektur Hemma Fasch

Hemma Fasch Fasch & Fuchs ZT-GesmbH Wien

Hemma Fasch wurde 1959 in Graz, Österreich, geboren. Nach ihrem Studium an der TU Graz und dem Diplom bei Prof. Domenig 1989, arbeitete sie als Assistentin an der TU Wien bei Prof. Richter. 1994 erhielt Frau Fasch die Befugnis für Architektur und gründete eine Bürogemeinschaft gemeinsam mit Jakob Fuchs. Im Jahr 2006/2007 erhielt sie eine Gastprofessur an der TU Wien, Abteilung Hochbau und Entwerfen. Zu ihren realisierten Bauten gehören die Pädagogische Akademie Salzburg, das Kindermuseum Graz, das Landeskrankenhaus Knittelfeld und die Sonderschule Schwechat. Für diese und andere Projekte erhielt sie viele renommierte Preise. Das Landeskrankenhaus Gmunden befindet sich derzeit im Bau.

Im Büro Fasch & Fuchs stellt die Krankenhausplanung nur ein Segment von sehr vielfältigen Planungsaufgaben dar. Allen Projekten gemeinsam ist die grundlegende intensive Beschäftigung mit Lichtführung und die Nutzung von Tageslicht. Dieser Planungsparameter ist in den durch das Büro Fasch & Fuchs geplanten Gebäuden konzeptbestimmend. 2005 wurde ein Landeskrankenhaus in Knittelfeld/ Österreich eröffnet. Derzeit erfolgt die bauliche Umsetzung eines Wettbewerbsprojektes in Gmunden/Oberösterreich. „Prävention und Gesundheitsförderung“. Die Assoziationen zu diesen Schlagworten liegen bei Architekten naturgemäß in räumlichen und raumbedingenden Überlegungen, die anhand zweier Projekte aus dem Büro erklärt werden: Schule Schwechat für „Kinder mit besonderen Bedürfnissen“ – Fertigstellung 2006 (s. Abb. 5) Landeskrankenhaus in Knittelfeld – Fertigstellung 2005 (s. Abb. 6) Menschen befinden sich den ganzen Tag, das ganze Jahr über permanent in temporären, wechselnden Wohnsituationen. Die Qualität dieser „temporären Wohnungen“ – am Arbeitsplatz, in der Schule, unterwegs – ist ein wesentlicher Faktor im Themenkreis Prävention und Gesundheitsförderung.

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