9783939069782_leseprobe

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Einführung und allgemeine Vorbemerkungen Klaus Meyer-Lutterloh

Deutschland hat ein modernes leistungsfähiges und hochwertiges Gesundheitswesen mit ca. 4,4 Millionen Beschäftigten und Selbstständigen. Dennoch bestehen in dem stark regulierten sowie immer noch auf Verbändefunktionen ausgerichteten Vertrags- und Versorgungssystem mit seinen sektoralen Budget- und Partikularinteressen Probleme bei der Umsetzung der medizinischen Versorgungsaufgaben. Dies gilt insbesondere aus dem Blickwinkel folgender Entwicklungen: Die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung bei gleichzeitig abnehmender Geburtenrate führt zu einem zunehmenden Anteil älterer Bürger an der Gesamtpopulation und Veränderungen des Morbiditätsspektrums. Multimorbidität, chronisch Kranke und eine deutliche Zunahme Pflegebedürftiger sind die Herausforderungen der Zukunft. Seitens der Versicherten und Patienten sind gesteigerte Erwartungen gegenüber der Ge-

sundheitsversorgung zu verzeichnen. Individuelle Präferenzen der Versicherten und Patienten gewinnen an Bedeutung. Hier gilt es für ein innovatives Gesundheitsunternehmen auch über den gesetzlich finanzierten Mindestanspruch hinaus ein an den Bedürfnissen der zu versorgenden Bevölkerung orientiertes Angebotsspektrum auf dem sogenannten „zweiten Gesundheitsmarkt“ zu schaffen. Die kontinuierliche Zunahme des medizinischen und technischen Fortschrittes hat einen entsprechenden steigenden Finanzierungsbedarf zur Folge. Dem Vorhaben, diese Innovationen gezielt, qualitativ hochwertig und dennoch wirtschaftlich einzusetzen, gilt verstärkte Aufmerksamkeit. Obwohl nach wie vor ausreichend Mediziner in der Bundesrepublik Deutschland ausgebildet werden, stehen diese zukünftig nicht in genügender Anzahl für die unmittelbare medizinische Patientenversorgung

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I Allgemeiner Teil

zur Verfügung. Diese Entwicklung wird ver-

Schwer zu versorgende Gebiete müssen

schärft durch die Überalterung dieser Berufsgruppe. Es entwickeln sich in einzelnen Regionen Ungleichgewichte zwischen Versorgungsbedarf und Versorgungsangeboten mit der Folge, dass die Versorgung mancherorts immer schwieriger wird. Gemeinsames Merkmal ist die fehlende Nähe zu adäquaten Behandlungsmöglichkeiten oder ein erschwerter Zugang zu ihnen. In solchen Regionen ist wegen fehlender Angebotsalternativen kaum Wettbewerb möglich. Bevor ein Qualitätswettbewerb entstehen kann, muss dort zunächst einmal das Notwendige an Grundversorgung sichergestellt werden.

nicht unterversorgt sein. Sie stellen lediglich höhere Anforderungen an die Organisation der Versorgung. Die Gründe hierfür können vielfältig sein: beispielsweise keine ausreichende „kritische Masse“ zur Versorgung (Bergtäler) oder schwer zu überwindende Distanzen. Hier sind neue Lösungsansätze gefordert: z. B. Agnes, Telemedizin etc. Derartige Regionen und spezielle Problemlösungen gibt es überall (USA, Kanada, England, Schweiz). Um all diesen Herausforderungen zu begegnen, wurden die gesetzlichen und untergesetzlichen Rahmenbedingungen für die Neugestaltung von Versorgungsstrukturen, Versorgungsprozessen und Versorgungsverträgen im Laufe der letzten zehn bis zwölf Jahre ständig weiterentwickelt. Sie lassen den Akteuren inzwischen viele Spielräume für innovative Konzepte und Versorgungsmodelle. Die Grenzen zwischen den herkömmlichen Sektoren werden immer durchlässiger. Diese Entwicklungen sind noch im Fluss. Gesundheitsfonds und Morbi-RSA werden außerdem die Strategie von Krankenkassen und Leistungserbringern nachhaltig beeinflussen. Die Versorgung chronisch Kranker bekommt eine neue Wertigkeit.

Diese in der Aufzählung zuletzt genannten Gebiete stellen eine besondere Herausforderung dar. Landläufig wird dabei der Begriff der „Unterversorgung“ verwendet. Sinnvoller erscheint es uns, statt von regionaler Unterversorgung von „schwer zu versorgenden Gebieten“ zu sprechen, bei dem der ärztliche Versorgungsgrad nur einen Teil des komplexen Gesamtgeschehens darstellt. Auch wenn dies auf den ersten Blick vielleicht unbedeutend erscheint, so erzwingt die präzise und möglichst deskriptive Formulierung eines solchen Begriffes aus Sicht des BMC die strukturierte Auseinandersetzung mit den aktuell verfügbaren Möglichkeiten zur Lösung von Versorgungsproblemen1. Auch im internationalen Vergleich mit entsprechenden Problemen und Lösungsansätzen in anderen Ländern bietet es sich an, auf den aus dem § 100 des SGB V abgeleiteten Begriff Unterversorgung zu verzichten, der sich auf den Sicherstellungsauftrag durch die Kassenärztlichen Vereinigungen bezieht und damit die Problembeschreibung auf die Anzahl regional zugelassener Vertragsärzte reduziert.

1 Dirk Russ, Aktuelles aus dem BMC „Schwer zu versorgende Regionen“, Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 3/2008, Seite 140

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Innovative Modellentwicklungen Durch neue Versorgungsmodelle sollten Angebote entstehen, die diesen Herausforderungen gerecht werden und die sich im Wettbewerb durch besondere Alleinstellungsmerkmale hervorheben; diese sind insbesondere: Netzwerke strategischer Allianzen zur flächendeckenden Versorgung strukturierte Behandlungsprozesse Qualitätsmanagement medizinische Versorgung auf hohem Niveau hohe Produktivität bei wettbewerbsfähiger Preisgestaltung


I

Einführung und allgemeine Vorbemerkungen

Orientierung an den Bedürfnissen der zu

versorgenden Bevölkerung. Die Anforderungen an zukunftssichere Modelle sind hoch. Der Nachweis von Effektivität und Effizienz ist hierfür eine unabdingbare Voraussetzung. Dies wurde bisher bei vielen neuen Modellen wie zum Beispiel der integrierten Versorgung in Entwicklung, Umsetzung und Betrieb unterschätzt. Es ist deshalb von besonderer Bedeutung, dass bei der Entwicklung zukünftiger Versorgungsangebote eine professionelle Vorbereitung erfolgt. Von der Vertragsgestaltung über die Qualitätssicherung bis zur Implementierung und Vermarktung müssen hohe Maßstäbe angesetzt werden. Die Etablierung von Gesundheitsunternehmen als Versorger der Zukunft setzt allerdings nicht nur unternehmerische Kompetenz vor-

aus, sondern benötigt auch langfristige Planungssicherheit durch Rahmen- und Umfeldbedingungen, die eine solche Entwicklung ermöglichen und fördern. Dabei sind nicht nur die Gesetzgebung, untergesetzliche Normen sowie wirtschaftliche und steuergesetzliche Vorgaben von Bedeutung. Vielmehr spielen gesellschaftliche Strömungen und Trends, psychologische und mentale Faktoren und die öffentliche Meinungsbildung eine ebensolche Rolle. Bemerkenswert sind die Varianten, die durch die bereits erwähnten Gesundheitsgesetzgebungen der letzten zehn bis zwölf Jahre für neue Versorgungsstrukturen geschaffen wurden. Während früher nur einige wenige Organisationsformen möglich waren, ist inzwischen das Spektrum der Möglichkeiten und Chancen sehr breit geworden (s. Abb. 1).

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Zunahme der Gestaltungsoptionen für neue Versorgungsformen durch die Gesetzgebung

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I Allgemeiner Teil

Als gesetzliche Grundlage für die Förderung eines Vertrags- und Leistungswettbewerbs hat

lität und Wirtschaftlichkeit im Versorgungssystem führen. Flankierend zur integrierten

der Gesetzgeber die §§ 140 a ff. SGB V im Gesundheitsmodernisierungsgesetz zum 01.01.2004 modifiziert. Diese Paragraphen regeln die integrierte Versorgung. Ziele der integrierten Versorgung sind unter anderem die ambulanten und stationären sowie arztgruppenbezogenen Versorgungsgrenzen zu überwinden, die Versorgungsqualität sowie die Transparenz über Angebote bzw. Leistungen zu erhöhen. Das bereits in früheren Gesetzen ab 1997 eingeführte und inzwischen weiterentwickelte Selektivvertragsprinzip zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern soll zudem zu mehr Vertragswettbewerb führen. Durch den integrativen Versorgungsansatz werden ganzheitliche Behandlungsprozesse definiert, die im optimalen Fall alle Stationen einer Patientenbehandlung über die verschiedenen Leistungssektoren hinweg innerhalb der vertikalen und horizontalen Ebenen beinhalten. Insbesondere unter Berücksichtigung des gesteigerten Gesundheitsbewusstseins der Bevölkerung und der Möglichkeiten durch den „zweiten Gesundheitsmarkt“ ist das Zukunftsziel über die Behandlung im Krankheitsfall hinaus eine ganzheitliche Gesundheitsbetreuung – von der Geburt bis zum Tod – erstrebenswert. Diese Form der Gesundheitsversorgung manifestiert sich im „Integrated Delivery System“, ein Modell das seine Wurzeln in den USA hat, aber auch dort noch eher eine Zukunftsvision verkörpert als dass es ein in greifbarer Nähe zu realisierendes Konzept darstellt. Der angestrebte Nutzen von solchen effizienten neuen Versorgungsangeboten besteht nicht nur in einer Verbesserung der Strukturen, Prozesse und Ergebnisse, sondern auch gerade darin, durch möglichst optimalen Ressourceneinsatz einer Rationalisierung von Leistungen entgegenzuwirken. Erwartet wird dabei, dass ablauforganisatorische Problemstellungen durch Produkt- und Prozessinnovationen gelöst werden. Dies soll zu nachweislich mehr Qua-

Versorgung wurden vom Gesetzgeber flexiblere Rahmenbedingungen, kassenartenübergreifende Fusionen und die Einführung von Wahltarifen geschaffen. Hierdurch sollen Anreize zur Optimierung von Versorgungsprozessen und -strukturen entstehen. Der Sachverständigenrat monierte allerdings im Jahresgutachten von 2007, dass das bisher mit integrierten Versorgungsformen Erreichte trotz einiger „Leuchtturmprojekte“ unter gesundheitlichen und ökonomischen Aspekten noch nicht zufriedenstellend ist und dass erhebliche Defizite bezüglich der Evaluation der Outcomes und der Transparenz der neuen Vertrags- und Versorgungsformen für Versicherte und Patienten bestehen. Daraus leitet sich ein Optimierungsbedarf ab. Ebenfalls im Jahre 2004 hat der Gesetzgeber im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) mit dem § 95 SGB V die Eckpunkte für Medizinische Versorgungszentren (MVZ) definiert. Medizinische Versorgungszentren nehmen an der vertragsärztlichen Versorgung teil und sind fachübergreifende ärztlich geleitete Einrichtungen, in denen Ärzte als Angestellte oder Vertragsärzte tätig sind. Die Medizinischen Versorgungszentren können sich aller zulässigen Organisationsformen bedienen. Sie können von Leistungserbringern, die aufgrund von Zulassung, Ermächtigung oder Vertrag an der medizinischen Versorgung der Versicherten teilnehmen, gegründet werden; also auch von Kliniken. Die Zulassung erfolgt für den Ort der Niederlassung. Anfang 2008 gab es bereits über 1000 MVZ-Gründungen in Deutschland. Allerdings besteht die weitaus größte Zahl aus durchschnittlich vier Ärzten. Im Prinzip handelt es sich dabei kaum um etwas anderes als kleinere Gemeinschaftspraxen oder Berufsausübungsgemeinschaften2. Größere Medizinische Versorgungszentren mit einem umfassenden

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2 § 33 Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV)


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Einführung und allgemeine Vorbemerkungen

Leistungsangebot und zahlreichen Fachrich-

Strukturen weiterzuentwickeln. In diesem Be-

tungen sind absolut in der Minderheit. Die im speziellen Teil dieses Buches vorgestellte Zentrumsidee entwickelt die größeren Einrichtungen konzeptionell weiter und hat zum Ziel, eine ganze Population umfassend zu versorgen. Die seit 2004 zunehmende Zahl von Medizinischen Versorgungszentren und Verträgen der integrierten Versorgung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele dieser Einrichtungen und Modelle auf Dauer nur geringe Überlebenschancen haben, da es an Managementkompetenz der Betreiber fehlt. Die Herausforderungen derartiger Business-Modelle lassen sich nicht in vereinsähnlichen Strukturen, teilzeitmäßig, ehrenamtlich und in der Art und Weise von Selbstverwaltungsstrukturen bewältigen. Insofern ist Folgendes wünschenswert: n Ärzte und andere Leistungserbringer im Gesundheitsunternehmen müssen sich der Realität stellen, dass sie entweder in die Ausbildung ihrer Managementqualitäten investieren müssen oder Managementvorgänge durch qualifizierte Manager erledigen lassen sollten. n Leistungserbringer müssen die Möglichkeit erhalten, sich wieder auf ihre Kernkompetenz zu konzentrieren. Neue Berufsfelder sind zu integrieren (z. B. Patienten- und Gesundheitscoachs, IT-Spezialisten). Gleichzeitig müssen alle Leistungserbringer bereit und in der Lage sein, arbeitsteilig und vernetzt zusammenzuarbeiten. n Das bedeutet beispielsweise für Ärzte, dass sie das qualifizierte Pflegesegment als fachkundig, gewichtig und weitgehend eigenständig bei gleichzeitiger fachlicher Einbindung anerkennen müssen.

reich geht es primär um die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen wie Teamfähigkeit, vernetztes Denken und Kommunikationsfähigkeit (Amelung et al. 2008). „Gerade vor diesem Hintergrund ist es wichtig, konsequent in die Personalentwicklung zu investieren“ (Amelung/Berchtold 2008). In der stationären Versorgung übernehmen zunehmend Krankenhaus-Unternehmen den Betrieb. Krankenhäuser werden von diesen Unternehmen nach einem gewinnorientierten Geschäftsmodell betrieben. Und selbst bei (noch) kommunalen oder städtischen Krankenhausbetrieben ist eine betriebswirtschaftliche Ausrichtung zu beobachten. Häufig wird der Betrieb der Grund- und Regelversorgung dabei durch besondere Leistungen – z. B. durch eine indikationsorientierte Spezialisierung – ertragsorientiert ergänzt. In der ambulanten ärztlichen Versorgung hat die herkömmliche Einzelpraxis, sowohl mit hausärztlicher als auch mit fachärztlicher Tätigkeit, zunehmend um ihre Existenz zu kämpfen. Angesichts der erschwerten Bedingungen fehlt es nicht selten an der erforderlichen unternehmerischen Kompetenz der Betreiber. Eine Konsequenz aus diesen Entwicklungen muss sein, verstärkt unternehmerisches Know-how zu entwickeln. Das Gesundheitsunternehmen wird dabei zum Regelbetrieb im Gesundheitswesen. Das gilt beispielsweise ebenso für die Einzelpraxis in ländlichen Gebieten, die Schwerpunkt- und Nischenpraxis mit einem hochspezialisierten Angebot im Ballungsgebiet, wie auch für mittlere und große Versorgungseinrichtungen mit Betriebsstätten an mehreren Standorten. Neben der medizinischen Tätigkeit müssen dabei – unabhängig von der Betriebsgröße – weitere Funktionen und Kompetenzen bzw. Unternehmensbereiche treten, die für einen erfolgreichen Betrieb erforderlich sind. Ähnliche Entwicklungen haben sich bereits seit Längerem auch in anderen Branchen – spe-

Dabei geht es darum, einerseits neue Berufsfelder, die für den Erfolg entscheidend sind, auszubilden (hier insbesondere Case und Disease Manager sowie Gesundheits- und Patientencoachs) und andererseits die bestehenden

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I Allgemeiner Teil

ziell in den klassischen „freien Berufen“3 – voll-

wenn zurzeit vielerorts die Zulassungsvoraus-

zogen. So stehen neben der einzelnen Anwaltskanzlei große Kanzleien oder zumindest viele unter einer gemeinsamen „Marke“ auftretende Anwälte, die sich auch gemeinsame Services „leisten“ bzw. dadurch erst leisten können. Steuerberater gehen ebenfalls einen ähnlichen Weg. Leistungserbringern stellt sich beispielsweise die Frage, ob die Gründung oder die Übernahme einer einzelnen „klassischen“ Praxis sich noch für ein Arbeitsleben trägt. Und auch bereits bestehende Einzelunternehmen wie die Einzelpraxis oder das kleine Kreiskrankenhaus müssen sich den Veränderungen stellen. Seit 2001 übersteigt die Zahl der weiblichen Absolventinnen im Fach Humanmedizin die ihrer männlichen Kollegen. Dies veranschaulicht eine Grafik der Bundesanstalt für Arbeit (s. Abb. 2). Zwei Drittel der Studienanfänger sind inzwischen Frauen. Darauf weist zum Beispiel eine Publikation von Hibbeler und Korzilius hin, die 2008 unter dem Titel „Die Medizin wird weiblich“ im Deutschen Ärzteblatt erschien. Die Konsequenz der Autoren: „Damit sich der Ärztemangel nicht weiter verschärft, müssen die Rahmenbedingungen den Ärztinnen angepasst werden“ (Hibbeler und Korzilius 2008). Das heißt nichts anderes, als dass für viele Ärztinnen Beruf und Familie miteinander vereinbar sein müssen, will die Bevölkerung dieses Potenzial für die Gesundheitsversorgung nutzen. Hier kommen in erster Linie Gesundheitsunternehmen in Frage, die variable Arbeitszeiten für Ärztinnen anbieten. Derartige Gestaltungsmöglichkeiten sind nicht von der Größe des Unternehmens abhängig. Es kommen dafür sowohl eine einzelne Arztpraxis als auch große Berufsausübungsgemeinschaften und Leistungsanbieter in Frage. Selbst

setzungen (Schallen, 2007) noch nicht gegeben sind, ist vorhersehbar, dass in den nächsten Jahren in zahlreichen Gegenden der Bedarf an derartigen flexiblen Konzepten, die sowohl den Bedürfnissen der Bevölkerung als auch der Lebensplanung vieler Ärztinnen entgegenkommt, steigen wird. Aus all diesen Entwicklungen folgt die Notwendigkeit, die Gesundheitsversorgung mit neuen Ideen zukunftssicher zu gestalten. Derartige Herausforderungen stellen Chancen für kreative und unternehmerische Leistungserbringer dar. Bereits jetzt zeichnen sich Entwicklungen ab, die zukünftig die Versorgungslandschaft nachhaltig verändern werden: Neben den herkömmlichen Leistungserbringerstrukturen entstehen Parallelwelten von Gesundheitsunternehmen, die professionell gemanagt werden. Einige von ihnen werden Filialen und Ketten aufbauen. Diese neuen Unternehmen entwickeln Marken, mit denen sie den Nutzern ein spezielles Leistungsversprechen und die Qualität ihrer Angebote signalisieren. Transparenz, Qualitätsmanagement und Patientenorientierung werden als Erfolgsfaktoren im Wettbewerb an Bedeutung gewinnen. Sie ermöglichen den Versicherten und Patienten, vermehrt rationale Wahlentscheidungen treffen zu können. Gleichzeitig lösen solche Veränderungsprozesse bei vielen Menschen Ängste und Befürchtungen aus. Es kursieren Schlagworte von der „Industrialisierung“ und Entpersönlichung der medizinischen Versorgung sowie von einer Bedrohung der Freiberuflichkeit. Solche Reaktionen sind menschlich, verständlich und mögen in manchen Fällen auch gerechtfertigt sein. Sie dürfen jedoch nicht das Handeln bestimmen. Das Rezept für die Zukunft sollte keine von derartigen Ängsten herrührende Verweigerungshaltung sein. Vielmehr gilt es, den versorgungspolitischen und ökonomischen Herausforderungen Rechnung zu tragen und unter den gegebenen Verhältnissen die bestmögliche

3 Der Hinweis auf die „freien Berufe“ ist hier von besonderer Bedeutung, da diesen deutlich vereinfachte Formen der Geschäftsführung, der Buchhaltung und der Bilanzierung zu Grunde liegen! – Siehe auch die Anmerkung zum freien Beruf („freiberuflich tätig“ versus „freiberuflich selbständig“) vier Absätze weiter.

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I

Einführung und allgemeine Vorbemerkungen

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Absolventen im Fach Medizin 2007: mehr Frauen, weniger Männer. Quelle: Statistisches Bundesamt

Gesundheitsversorgung zu organisieren. Mit einer verbesserten Effizienz der Leistungserbringung kann außerdem einer unethischen Mittelverschwendung und Leistungsrationierung entgegengewirkt werden. Zu berücksichtigen und zu überwinden sind beispielsweise der Widerstand von Interessensverbänden, das Bestandsdenken bestehender Institutionen oder deren Sorge um sinkenden Einfluss und Ängste vor einer Dominanz der Ökonomie bei der Leistungserbringung sowie vor Transparenz und Ergebnisvergleichen (Benchmarking). Auch muss sichergestellt sein, dass Ärzte und Psychotherapeuten im Sinne der Institutionen der Freien Berufe (Kammern, Verbände) entweder „freiberuflich tätig“ (auch als angestellter – Arzt, da „Katalogberuf“ gemäß § 18 EinkStG) oder „freiberuflich

selbstständig“ in neuen Versorgungsstrukturen ihren Beruf ausüben können. Im Blickfeld dieses Buches stehen Gesundheitsunternehmen, deren Zweck es ist, Gesundheitsversorgung anzubieten. Diese Feststellung ist zur Begriffsbestimmung wichtig. Auch müssen die Grenzen der Vergleichbarkeit zwischen sonstigen Wirtschaftsunternehmen und Gesundheitsversorgungsunternehmen, die hier im Buch – um es noch einmal deutlich hervorzuheben – kurz als Gesundheitsunternehmen bezeichnet werden, berücksichtigt werden. Die Versorgung mit Gesundheitsleistungen unterliegt besonderen ethischen Anforderungen und schließt damit eine Fürsorgepflicht ein, bei denen die gesundheitlichen Ergebnisse im Vordergrund stehen und Vorrang vor der Optimierung der Ertragslage haben müssen.

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1 Unternehmensziele Klaus Meyer-Lutterloh und Dominik Deimel

1.1

Bedeutung von Unternehmenszielen

Die Definition der Unternehmensziele stellt die notwendige Grundlage für die Strategie und das erfolgreiche Handeln eines jeden Unternehmens dar. Sämtliche weitere Entscheidungen und Aktivitäten des Unternehmens sind hieraus abzuleiten. Dabei ist zwischen strategischen und operativen Zielen zu unterscheiden. Bezüglich des Zeithorizonts von Unternehmenszielen wird in der Regel zwischen kurzfristigen Zielen von ca. einem Jahr, mittelfristigen Zielen von ca. 1–5 Jahren und langfristigen Zielen von über 5 Jahren unterschieden. Operative Ziele unterliegen eher einem kurz- bis mittelfristigen Zeitraum, strategische Ziele umfassen einen mittel- bis langfristigen Zeitraum. Die Festlegung von Unternehmenszielen auf einen bestimmten Zeithorizont entscheidet auch über ihren Konkretisierungsgrad. Während die strategische Zielbildung eine übergeordnete Orientie-

rungshilfe vermittelt, sollten operative Ziele einen größeren Detailgrad aufweisen, um somit letztlich den Zielerreichungsgrad übergeordneter – strategischer Ziele – überprüfen zu können.

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BBei den Unternehmenszielen ist zwischen la langfristigen strategischen und kurzfristigen operativen Zielen zu unterscheiden.

Dies gilt natürlich auch für Gesundheitsunternehmen. Die Unternehmensziele werden nach den Regeln des Projektmanagements4 schon in der ersten Phase einer Unternehmensgründung festgelegt und müssen, wenn es dafür Anlässe gibt, im Laufe der Unternehmensgeschichte angepasst und modifiziert werden. Durch die 4 Siehe Kapitel Projektmanagement in Amelung et al. 2008, Seite 83 ff.

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I Allgemeiner Teil

stetige Überprüfung strategisch und operativ

sonalmanagements aber auch des Marketings.

gesetzter Ziele, kann das Unternehmen dynamisch agieren, auf veränderte Markt- und Unternehmensgegebenheiten reagieren und somit einem drohenden Geschäftsmisserfolg adäquat entgegenwirken. Überprüfung und gegebenenfalls Revision der Unternehmensziele sollte seitens Unternehmensführung in enger Zusammenarbeit mit den einzelnen Geschäftsbereichen, insbesondere mit dem Controlling erfolgen (vgl. insb. Kapitel I.5 – Controlling und Kapitel I.6 – Kennzahlenmanagement).

Nähere Ausführungen hierzu finden Sie in den Kapiteln I.4 (Finanzierung/Geschäftsplanung), Kapitel I.8 (Vermarktung/Marketingstrategie) und Kapitel I.9 (Unternehmenskommunikation). Für eine hohe Glaubwürdigkeit der Unternehmensziele sind diese von der Führung selbst (vor-)zuleben. Für eine kurze und prägnante Zielformulierung und -vermittlung empfiehlt sich ein Leitbild (eine Vision) aufzustellen. Eine kurze von den Mitarbeitern einprägsame Vision zu erreichender Ziele senkt den Informationsgehalt des oft komplexen Zielbündels und ist somit für die Praxis von erheblichem Wert. Neben der Innensicht sind auch die Vorstellungen und Ansprüche unternehmensexterner Akteure (kurzum auch als Kunden oder Stakeholder bezeichnet) im Umfeld des Unternehmens zu berücksichtigen. Mögen Unternehmensziele noch so ausgefeilt sein, werden sie nicht zum Erfolg führen, wenn sie an den Stakeholdervorstellungen vorbeigehen. Speziell für das Gesundheitsunternehmen gelten Versicherte bzw. Patienten als die Zielgruppe, die es gilt umfassend im Unternehmenskonzept zu berücksichtigen. Des Weiteren sind weitere Geschäftspartner (wie Leistungserbringer, Krankenversicherungen und Managementgesellschaften) und deren Ansprüche in der Unternehmenszielbildung zu berücksichtigen. Eine Fremdfinanzierung macht zudem die Einbeziehung von Investoren und deren Vorstellungen erforderlich. Will ein Gesundheitsunternehmen auf dem gesetzlich krankenversicherten Markt agieren, sind darüber hinaus Anforderungen gesetzlicher Rahmenbedingungen mit einzubeziehen. Die gezielte Ansprache sämtlicher unternehmensrelevanter Kunden wird in erheblichem Maß von der Marketingabteilung bestimmt, auf deren Aktivitäten in Kapitel I.8 (Vermarktung/Marketingstrategie) im Detail eingegangen wird.

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Wichtig ist, Wichtig is dass mit der Zielvorgabe gleichzeitig eitig Kriterien Krit Krite bestimmt werden, nach denen die Ergebnisse gemessen oder abgeschätzt werden können. Dadurch werden die Voraussetzungen für eine Evaluation bzw. Zielüberprüfung geschaffen (vgl. Kapitel I.10 – Qualitätsmessung, Nutzenbewertung und Evaluation, Kapitel I.5 – Controlling und Kapitel I.6 – Kennzahlenmanagement).

Gesundheitsunternehmen können sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden, zum Beispiel durch Größe, Zusammensetzung und Organisation, aber auch hinsichtlich ihrer selbst gesteckten Ziele. Ziele helfen, planloses Agieren zu vermeiden. Sie dienen nach innen als Führungsinstrument und nach außen zur Profilierung5. Für die Innensicht ist bedeutsam, Bedürfnisse und Ansprüche der Mitarbeiter hinreichend zu berücksichtigen. Die hinreichende Berücksichtigung von Belangen der Mitarbeiter fördert eine Identifizierung selbiger mit den Unternehmenszielen und sichert somit, dass Unternehmensziele auch in der Praxis umgesetzt und gelebt werden. Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Mitarbeiterbedürfnissen ist Aufgabe des Per5 Wer sich ausführlicher mit dem Thema Unternehmensziele befassen möchte, dem sei z. B. Achleitner, 2006 empfohlen.

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I

1 Unternehmensziele

n Gewährleistung der gemeinschaftlichen Ver-

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Zi dienen nach innen als FührungsinstruZZiele m ment und nach außen zur Profilierung.

Auch wenn von den Akteuren in der Frühphase kooperativer Versorgungsformen häufig die Bedeutung einer Zieldefinition verkannt wurde, gab es auch damals schon Beispiele für konkrete Zieldefinitionen.

Beispiel 1: Ziele von Praxisnetzen der ersten Generation n Verbesserung der kollegialen Zusammenarbeit,

der Kommunikation und der Qualität der Patientenversorgung, Erweiterung der Präsenzzeiten n Entlastung der Ärzte von organisatorischen Aufgaben, Verbesserung der Lebensqualität n Reduzierung der Praxiskosten und Maximierung der Umsätze durch Nutzung von Synergieeffekten (z. B. gemeinsamer Einkauf von Waren und Dienstleistungen, Schaffung eines Personalund Gerätepools, strukturiertes Angebot von IGeL-Leistungen) n Erreichung einer Markt- bzw. Verhandlungsmacht gegenüber gegenwärtigen und/oder potenziellen zukünftigen Vertragspartnern Beispiel 2: Ziele der ersten Gesundheitszentren in Brandenburg n Umsetzung eines geschlossenen Konzepts für

die ambulante medizinische Betreuung, welches die Vorzüge des umfassenden Leistungsprofils ehemaliger Polikliniken mit einer rationellen, an den Patientenbedürfnissen orientierten Leistungsmedizin verbindet n Enge Verzahnung verschiedener Fachdisziplinen unter einem Dach bei konsequenter gemeinschaftlicher Nutzung der vorhandenen Ressourcen wie z. B. des medizinisch-technischen „Gerätepools“ und des „Mitarbeiterpools“

antwortung der Ärzte und aller anderen Mitarbeiter für die erfolgreiche Entwicklung des Unternehmens bei gleichzeitiger individueller Bewertung der Leistung jeder einzelnen Arztpraxis und Sicherung des Prinzips der eigenverantwortlichen Praxisführung n Konsequente Durchsetzung des Sachkundeprinzips6 und der entsprechenden Aufgabenteilung mit dem Ziel, die Ärzte weitgehend von nichtärztlichen, d. h. administrativen Aufgaben zu entlasten. Auf diese Weise wird der erforderliche Zeitfonds u. a. für kontinuierliche Fortbildung sowie Qualitätssicherungsmaßnahmen verfügbar.

Diese Ziele der Netze und Gesundheitszentren der ersten Stunde haben auch heute noch eine gewisse Vorbildfunktion. Die Liste möglicher Ziele ist natürlich von Fall zu Fall unterschiedlich. Die Zielgruppen bzw. Kunden sollten hierbei maßgeblich die Definition der Unternehmensziele bestimmen. Unterschiedliche Zielkombinationen ergeben dabei verschiedenste Unternehmensprofile. Jedoch ist stets zu beachten, dass im Gegenteil zu For-Profit-Unternehmen, die Zielsetzungen auf dem GKV-Markt durch gesetzliche und untergesetzliche Rahmenbedingungen teilweise vorgegeben sind. Das Sozialgesetzbuch V schreibt beispielsweise im § 70 Abs. 1 vor, dass die Krankenkassen und die Leistungserbringer eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten haben. Die Versorgung der Versicherten muss ausreichend und zweckmäßig sein, darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten und muss in der fachlich gebotenen Qualität sowie wirtschaftlich erbracht werden. Ein Gesundheitsunternehmen, das

6 Unter dem Sachkundeprinzip ist hier die Erbringung von Leistungen entsprechend der jeweiligen fachlichen Kernkompetenz zu verstehen.

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