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TEIL I: GRUNDLAGEN

1 Einleitung Wie entwickeln, legitimieren und internalisieren Menschen in Organisationen das soziale Konstrukt, welches sie als ihre Strategie bezeichnen? Obwohl diese einfache Frage für die Strategieforschung fundamental erscheint, gibt es darüber erstaunlich wenig empirische Erkenntnisse (Regnér, 2003). Die Ursache dieses Phänomens ist darin zu vermuten, dass die Definition von Strategie vom Forscher in der Regel als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Zumindest gilt die Annahme, dass die Strategie ab dem Zeitpunkt der Definition durch einen Entrepreneur fertig konstruiert ist (Orlikowski, 2000). Dieser kritischen Annahme der Stabilität von Strategiekonzepten im Verlauf ihrer Realisierung gilt das Forschungsinteresse dieser Dissertation. Sie geht der Frage nach, wie Führungskräfte mit ihrem Konzept von Strategie in eine bestehende Organisation intervenieren und damit fortlaufend Kontexte schaffen, die wiederum auf die situative Anwendung dieser Strategie und ihre Promotoren zurückwirken (Knoblauch, 1995). Das Ziel der Forschung ist also, das Repertoire von Praktiken und deren sinnhafte Deutung durch die Beteiligten zu rekonstruieren, um zu verstehen „how plans were translated into action and, by so doing, how they got modified, adapted and changed“ (Tsoukas & Chia, 2002). Und weil die Strategiearbeit in ein soziales Geflecht eingebunden ist, gilt es zu beachten, wie die Transformation des Konzepts von Strategie mit der Rekonstruktion von Rollen, Interaktionsordnungen und Orten der Bearbeitung verknüpft sind (Barley, 1986). Die Bearbeitung des Forschungsinteresses erfolgt anhand einer ethnographischen Einzelfallstudie in einem Universitätsspital, dessen Spitalleitung sich für eine Schwerpunktstrategie entschieden hat. Anhand der Initiative Behandlungszentren, welche diese Strategie konkretisiert, rekonstruiert der Forscher, wie die Handelnden spezifische Kontexte erzeugen, welche die „strategy-in-use“ (Jarzabkowski, 2004) über die Zeit und die Hierarchien der Umsetzung fortlaufenden Transformationen unterziehen (Goffman, 1980). Definition des zentralen Konstrukts und der Forschungsstrategie Neben der Schwierigkeit, Strategien als starre Konstrukte anzunehmen, widerspricht die klassische Strategieprozessforschung einem sozialkonstruktivistischen Vorgehen auch darin, die Definition dieses Konstrukts vorauszusetzen, anstatt empirisch dessen intersubjektive Aushandlung durch die Organisationsmitglieder zu rekonstruieren. Wenn Chandler Strategie als „the determination of the basic long-term goals and objectives of an enterprise, and the adoption of courses of action and the allocation of 1


resources necessary for carrying out these goals“ (Chandler, 1962: 13) definiert, verschliesst er sich damit der Möglichkeit, die Nuancen der Anpassung, Erweiterung oder Umgehung von lokalen Strategiedefinitionen während der Umsetzung überhaupt wahrzunehmen (Weick, 1989). Um diese Vorwegnahme des Forschungsziels zu vermeiden, konzeptualisiert diese Arbeit Strategie als eine Institution (Whittington, 2007). Wie Krieg oder Recht, Journalismus oder Heirat ist Strategie etwas, das Leute handelnd erzeugen mit Hilfe von gewissen Artefakten und eingebettet in ihre Gemeinschaft. Durch dieses „soziologische Auge“ kann Strategie benutzt und verstanden werden wie “many other institutionalized activities in our lives“ (Whittington, 2007). Das neue Phänomen von Strategie, deren Formulierung und Umsetzung allgemein als die zentrale Aufgabe von Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen verstanden wird (Rumelt, Schendel & Teece, 1994), darf jedoch nicht nur im Hinblick auf den „Geschäftserfolg“ verstanden werden. Sondern Strategie muss auch als institutionalisiertes Feld in all seinen Manifestationen rekonstruiert werden. Welche Orte lassen sich bestimmen, welche typischen Episoden und Themen sind auszumachen, welche sozialen Probleme ergeben sich und mit Hilfe welches Repertoires an Praktiken lösen die Beteiligten die typischen Herausforderungen (Snow, 1999)? Damit versucht diese Arbeit eine wissenssoziologische Neuauflage der klassischen Arbeit von Mintzberg, Mintzberg & Waters (1978; 1985) sowie Bower und Burgelman (1970; 1983), die mit sorgfältigen und langjährigen Einzelfallstudien Erneuerungsprozesse von Strategien in komplexen Unternehmen rekonstruiert haben. Mintzberg und Kollegen sowie Bower und Burgelman haben damit entscheidend zum Verständnis beigetragen, warum sich eine Organisation über den Zeitraum von Jahren von einem Archetyp A zu einem Archetyp B entwickelt hat (Greenwood & Hinings, 1996; Mintzberg, 1978). Um solche Zeitspannen überhaupt fassen zu können, verliess sich die klassische Strategieprozessforschung jedoch auf eine synoptische Betrachtung von Wandel. Ihre Studien zeigen auf, wie die Strategien der Unternehmen zu verschiedenen Momentaufnahmen verschiedene Zustände aufweisen (Tsoukas & Chia, 2002). Die Veränderungen werden anhand von Schlüsseldimensionen, wie der Wettbewerbsposition, dem Produktangebot oder der Organisationsstruktur, festgemacht und auf zentrale Ursachen, wie eine veränderte Ressourcenallokation (Bower, 1970), ein neuer CEO (Mintzberg, 1978) oder Veränderungen in der Industriestruktur (Pettigrew, 1985), zurückgeführt. Damit aber werden eigentlich nur Zustände verglichen, wogegen der Wandel selber, der zwischen diesen Zuständen vor sich geht, weitgehend unergründet bleibt (James, 1996: 234). Stand der Strategieforschung Die Strategieforschung wird seit Jahren durch statistische Varianzmodelle dominiert, in denen Menschen und ihre Handungen nicht mehr vorkommen (March & Sutton, 1997). Die Unzufriedenheit damit hat zur Gründung einer neuen Forschungsströmung 2


unter dem Namen „Strategy-as-Practice“ geführt (Johnson, Melin & Whittington, 2003). Deren Vertreter fordern, Strategie nicht mehr als Eigenschaft von Organisation, sondern Strategie als „doing“ zu verstehen und zu erkunden, „how it is influenced by and influences their organizational and institutional context“ (Johnson et al., 2007). Allerdings ist sich diese Community noch unsicher, ob ihr Ansatz einfach eine Variante der klassischen Strategieprozessforschung darstellt, deren Unit of Analysis so fein eingestellt ist, dass wieder einzelne Menschen und ihre Interaktionen in den Blick kommen, oder ob damit auch ein neues Handlungsverständnis einhergeht (Johnson, Melin & Whittington, 2003). Um sich der zweiten Variante zuzurechnen, baut diese Arbeit auf der Wissenssoziologie nach Knoblauch (1995) sowie wissenssoziologisch geprägten Organisationsforschern auf (Barley, 1986; Orlikowski, 2000; Tsoukas, 2005). In Anbetracht der Situativität von Handeln und getrennten Wissensvorräten der Mikro-Milieus ist Strategie als „an ongoing improvisation enacted by organizational actors trying to make sense of and act coherently in the world “ (Orlikowski, 1996) zu untersuchen. Denn was aus der Distanz wie regelkonformes Verhalten aussieht, entpuppt sich aus der Nähe als eine delikate und dynamische Serie von Abstimmungen „was vor sich geht“. Strategien funktionieren nicht einfach so, sondern es ist erst der konkrete Gebrauch der Menschen, der abstrakte Strategien zur sozialen Realität macht (Barley, 1986; Feldman, 2000; Feldman & Pentland, 2003; Orlikowski, 1996; Orlikowski, 2000; Tsoukas & Chia, 2002; Whittington, 2007). Spezifizierung der Forschungsinteressen Der Fokus dieser Arbeit, wie die Organisationsmitglieder das Konzept von Strategie im Prozess der Umsetzung fortlaufend hervorbringen, legitimieren, problematisieren und wieder verändern und damit Kontexte aufbauen, die ihre Folgehandlungen beeinflussen, erfolgt aufgrund theoretischer und praktischer Konvergenzen (Knoblauch, 1995). Praktisch hat die Hinwendung zum Thema der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit unübersehbar gesellschaftsdiagnostische Züge, indem sie dem Umstand der Bedeutungszunahme kommunikativen Handelns in modernen Gesellschaften Rechnung trägt (Knoblauch, Jürgen & Schnettler, 2002: 30). Die rasante Ausdifferenzierung des Wissens stellt Führungskräfte vor die Herausforderung, verschiedene Sonderwissensbereiche in der Umsetzung von Initiativen miteinander zu verknüpfen. In besonderer Schärfe trifft diese Herausforderung auf Universitätsspitäler zu, die durch eine beispiellose Ausdifferenzierung und Professionalisierung gekennzeichnet sind. Die dadurch entstandene arbeitsteilige Praxis von wechselseitig abhängigen Aktivitäten wird bisher durch eine grosszügige personelle Ressourcenausstattung stabilisiert. Aber die Ökonomisierung wird nun diese frei verfügbaren Ressourcen wegrationalisieren und damit das Problem der Wissensvermittlung und Handlungskoordination noch stark akzentuieren (Rüegg-Stürm, 2008c). Insgesamt steigt damit für die Manage3


mentpraxis der Bedarf an Wissen über kommunikative Kompetenzen, über Struktur und Ablauf und das Misslingen von Kommunikation. Ist die zentrale Funktion von Management tatsächlich die prozessuale Stabilisierung und Integration von Wissensvorräten, dann verdient die „kommunikative Apparatur, die die Gesellschaft schafft, um sichtbar die Rationalität ihrer Entscheidungsprozesse zu demonstrieren“ (Gumperz, 1982: 4, Hervorhebung angefügt), eine besondere Aufmerksamkeit. Spannend ist dieser „kommunikative Apparat“ auch deshalb, weil neue Technologien dem Management Kommunikationsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, die mit noch ungeklärten Folgen eine Medialisierung der Alltagswahrnehmungen und des Alltagshandelns vorantreiben (Soeffner & Raab, 1998). Habermas geht sogar noch weiter, indem er die Schlüsselposition der Kommunikation dadurch begründet, dass nur sie allein die schrumpfenden lebensweltlichen Hintergrundsüberzeugungen der zerstückelten Gesellschaft integrieren kann (Habermas, 1992: 4). Ob eine „kommunikative Lösung“ die Mikro-Milieus tatsächlich re-integrieren kann, bezweifelt Schelsky (1965). Durch den Verlust traditioneller Verbindlichkeiten könnten Organisationen auch in eine „Dauerreflexion“ fallen, weil plötzlich zu viele Dinge zur Debatte stehen. Anstatt einer gelingenden Integration könnte es zur Ausbildung von „Schwatzgemeinschaften“ mit einer Unzahl von sich immer weniger überschneidenden „Versionen“ des Allgemeinwissens kommen (Knoblauch, 1995). Es bildeten sich „Gesellschaften innerhalb der Gesellschaft“ heraus (Schütz & Luckmann, 1979: 378). Weil also die verbindende Kommunikation zur Produktion einer internalisierten organisatonalen Strategie so zu einem dauerhaft zu bewältigenden, sozialstrukturell relevanten Problem werden dürfte, rechtfertigt sich die Hinwendung zu Prozessen der Vermittlung, Legitimierung und Internalisierung von Wissen in besonderem Masse (Berger & Luckmann, 1980). Ein zweiter Fokus dieser Arbeit ist die Erforschung und theoretische Benennung des Repertoires an Praktiken der untersuchten Organisation. Ausgehend von der Annahme, dass eine Organisation wesentlich aus einem intersubjektiv geteilten Repertoire von Praktiken besteht, muss eine Erklärung von deren Transformationen bei der Beschreibung dieses Repertoires ansetzen. Natürlich hat auch die Strategieprozessforschung schon immer versucht, die entscheidenden Vorgänge zur Etablierung einer Strategie zu identifizieren. Aber sie hat das Offensichtlichste und empirisch Fassbarste an diesen Prozessen, das kommunikative Handeln, lange wie eine durchsichtige Glasscheibe angesehen, durch die es hindurchzublicken gelte, um die „eigentlichen“ Vorgänge der Ressourcenallokation, der Motive und Normen, Strukturen oder Entscheide nachzuvollziehen (Knoblauch, 1995: 1-8). Erst in jüngerer Zeit wird das Augenmerk auf die Kommunikation selbst gelenkt: Durch Kommunikation werden Absichten öffentlich gemacht, Beziehungen geknüpft, Aufmerksamkeiten gesteuert und Rollen verfertigt (Samra-Fredericks, 2003). Erst in der Kommunikation werden subjektive Ideen sozial „wirklich“, gerinnen zu strategischen Initiativen und finden vielleicht den Weg in das Alltagsleben der Organisation. Vor dem Hintergrund dieser 4


„Einsicht“ zeichnet sich in der Organisationsforschung eine theoretische Konvergenz ab: Die Eigenheit des Organisierens wird in zunehmendem Masse durch kommunikatives Handeln definiert (Heracleous & Marshak, 2004; Rüegg-Stürm, 2003; Weick, 1987b). Wesentliche „Unit of Analysis“ sind dabei kommunikative Praktiken. Sie stellen gewisse typische „Stil-Einheiten“ dar, die zur Bewältigung wiederkehrender gemeinsamer Probleme intersubjektiv im Wissensvorrat abgelegt sind (Knoblauch, 2005: 175). Praktiken sind die „coordination devices“ einer Gemeinschaft, die deren Mitgliedern einen objektivierten Sinn kommunizieren und damit das wesentliche Mittel zur Koordinierung des Ablaufs von Handlungssequenzen sind. Praktiken sind also „wie Inseln im Fluss weniger strukturierter kommunikativer Prozesse“ zu verstehen (Luckmann, 2002: 189). Im Unterschied zur Strategieforschung, die fast nur rein sprachliche Praktiken wahrnimmt, versucht diese Arbeit vermehrt auch parasprachliche Aspekte dieser Praktiken, wie den Zweck, die Beteiligten, Stilmittel oder aussersprachliche Rituale und Situationen, zu beachten (Knoblauch, 1995: 162 ff.). Ein dritter Fokus dieser Arbeit gilt der dialektischen Auffassung von Handeln und Kontext. Unser Ausgangspunkt dazu bildet die Auseinandersetzung mit der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger & Luckmann, 1980). Wir gehen davon aus, dass Menschen in Organisationen durch fortwährendes kommunikatives Handeln Strukturen erzeugen, die dann ihrerseits die anschliessende Handlungspraxis beeinflussen und strukturieren. Anders als in der Strategieforschung wird also Kontext nicht primär in „administrativen Systemen“ gesehen, die einseitig das Handeln beeinflussen (Burgelman, 2002; Lovas & Ghoshal, 2000). Sondern im Kern geht es darum zu beschreiben, wie sozial Handelnde organisationale Ordnung situativ als ein Ensemble von Praktiken und Deutungen vor dem Hintergrund eines vorgegebenen Kontextes – hier eines Spitals – hervorbringen (Maeder & Nadai, 2004: 13). Weil dieses soziale Geflecht sowohl Mittel als auch Ziel, Vollzug ebenso wie Produkt, Ressource wie Hintergrund des kommunikativen Handelns darstellt, reden wir von Kontexten (Knoblauch, 1995). Diese Kontexte bestehen aus intersubjektiv objektivierten Praktiken der Interaktion und Praktiken im Umgang mit Dingen. Diese Praktiken bilden den Wesenskern einer Organisation. Entscheidend ist nun, dass Führungskräfte je nachdem, ob sie „face-to-face“ mit ihren Mitmenschen kommunizieren oder ob sie mit räumlich nicht anwesenden, unbekannten Mitarbeitern kommunizieren, ein anderes Repertoire einsetzen müssen. Damit stellt sich die wichtige Frage, wie Führungskräfte das, was sie zu wissen glauben und was sie als Wirklichkeit definieren, über die unmittelbare Situation der Interaktion hinaus vermitteln. Wie kann diese Idee den oft anonymen, betroffenen Handelnden als objektiv erfahrbare, sinn- und identitätsstiftende neue Ordnung vermittelt werden? Und schliesslich: Wie wirken diese gesellschaftlichen Konstrukte auf ihre Konstrukteure zurück (Knoblauch, Jürgen & Schnettler, 2002: 11)?

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Ein vierter Fokus betrifft die Arbeit der Manager, verstanden als Funktion, die ausschliesslich auf das Führen anderer ausgerichtet ist. Manager stellen für das Spital eine historisch völlig neue Erscheinung dar. Einerseits sind die Experten froh, wenn „Administratoren“ ihnen die Koordinationsarbeit abnehmen. Andererseits sehen sie die Herausbildung dieses Berufssektors, der sich mit Belehrung, Betreuung und Planung beschäftigt, als kritisch an (Knoblauch, 2005: 270). Manager werden manchmal als eine Gruppe von „Intellektuellen“ wahrgenommen, die sich zu einer eigenen Klasse von „Sinnvermittlern“ aufschwingen (Schelsky, 1977) mit dem Versuch, die bisherige medizinisch-pflegerische Logik durch eine privatwirtschaftlich-unternehmerische Logik zu substituieren (Oakes, Townley & Cooper, 1998). Geprägt durch ManagementSeminare und „how to manage“-Bücher sind diese Führungskräfte mit Erwartungen und Identitäten ausgestattet, „which transform managers from passive administrators to self-disciplining business-winners“ (Knights & Morgan, 1991). Die Ausbildung eines professionellen Managements durchdringt deshalb immer grössere Bereiche des organisationalen Alltagslebens. Es identifiziert dort wahrgenommene Schwächen oder auch Potenziale. Diese werden aus dem unmittelbaren Handlungszusammenhang der Betroffenen herausgelöst und in der Gestalt von „Meetings“ zur Entscheidung gebracht (Knoblauch, 1995: 8). Damit diese Art von Führung funktioniert, scheinen ganz neue Fähigkeiten und Beziehungen notwendig zu sein. Eine Kernherausforderung könnte für Geführte wie Führende im Umgang mit Nichtwissen liegen. So betont Knoblauch, dass die Besonderheit des Wissens in Wissensgesellschaften darin besteht, Expertisen im Umgang mit Nichtwissen zu generieren. Nichtwissen ist eine Folge der sozialen Verteilung von Wissen: Das Management erarbeitet inhaltliche Lösungen ohne genaue Kenntnis der Verhältnisse vor Ort und die Experten können die Zeit nicht aufbringen, um die Lösungen der Manager genau zu verstehen (Knoblauch, 2005: 278). Weil sich die Experten aber eine weitgehende Autonomie in der Gestaltung ihres Alltags bewahrt haben, ist das „Zurückkoppeln“ dieser Entscheide prekär (Hendry & Seidl, 2003) und ausgearbeitete Wandelvorhaben drohen im Kontext der Alltagsorganisation in bestehende Routinen zurückzufallen oder zumindest markant angepasst zu werden (Langley & Denis, 2006). Beitrag zur Strategieforschung Damit bestätigt sich eine Beobachtung, die schon Mintzberg & Waters (1985) gemacht haben: Strategieprozesse stehen auf zwei Füssen. Einerseits sind die Konzepte von Strategie relativ „emergent“, andererseits zeichnen sich „Metastrategien“ von Unternehmen, verstanden als die grundlegende Ausrichtung, durch eine erstaunliche Beharrlichkeit aus (Mintzberg & Waters, 1985). Diese Arbeit trägt dabei sowohl zur Erklärung von Wandel wie auch zur Erklärung von Stabilität neue Aspekte bei (March, 1981). Im Unterschied zur bestehenden Forschung (Feldman & Pentland, 2003; Van 6


de Ven & Poole, 1995) erkundet diese Dissertation die Ursachen der häufigen Transformation der Interpretationsschemata von Strategiekonzepten in der Wechselseitigkeit sozialer Aushandlungs- und Fremdverstehensprozesse und speziell dazu geeigneter Transformationspraktiken (Eberle, 1991). Stellen Handlungsentwürfe für komplexe Initiativen selber bereits eine „praktische Utopie“ dar (Luckmann, 1992: 50), so verselbständigen sich die Interpretationen „um was es hier eigentlich geht“ noch viel weiter, je nach Standort des Empfängers der Kommunikation, je nach dem durch biographische Wissensvorräte geprägten Blickwinkel und die durch die spezifische Rolle geprägte Motivationsrelevanz (Eberle, 1991: 175). Die Führung trägt ebenso zu dieser Ungewissheit bei, indem sie zwar einerseits Wandel proklamiert, aber andererseits durch den unbewussten Gebrauch symbolisch aufgeladener Zeichen oder gar mittels gutartiger Täuschungen kommuniziert: „alles bleibt gleich“. Besonders prägnant sind diese Verstehensprobleme dann, wenn sie den unmittelbaren Kontext überschreiten und raumzeitlich entfernte Mikro-Milieus betreffen (Soeffner, 1991). Der Beitrag dieser Arbeit zur umgekehrt beobachteten grundlegenden Stabilität von Organisationen besteht in der Verknüpfung der Strategie- mit der Alltagsarbeit (Berger & Luckmann, 1980). Wenn strategischer Wandel als eine „neue Art der Herangehensweise an Herausforderungen“1 definiert wird, so scheint eine einzelne Initiative daran nur beschränkte Veränderungen auslösen zu können. Denn Strategie- und Alltagsarbeit sind untrennbar miteinander verbunden, da beide Herausforderungen mit dem gleichen Repertoire von Praktiken bewältigt werden müssen. Dieses Repertoire bezieht sich auf alle Vorgänge, die auf Bestand und Wandel einer Organisation einwirken (Luckmann, 1988). Zusätzlich ist dieses Repertoire in einer Organisation durch mehrere Stützkonstruktionen, wie unhinterfragte Referenzen, Hierarchien, Zeitbudgets, spezifische Orte und Ressourcen, stabilisiert. Damit könnte man mit Hans Magnus Enzensberger2 sagen, „die Ideen mögen sich ändern, der Charakter bleibt gleich“. Methodisches Vorgehen Die methodische Vorgehensweise erfolgt anhand einer Einzelfallstudie, um die nur situativ beobachtbaren „how“- oder „why“-Fragen rekonstruieren zu können (Yin, 2003). Als Unit of Analysis stehen primär kommunikative Praktiken als interaktive, verfestigte Muster der kollektiven Problemlösung im Vordergrund. Die Auswertung der Daten erfolgte zuerst grob durch die Methode der ethnographischen Semantik (Spreadley, 1980), um einige thematisch-inhaltliche „webs of meaning“ (Geertz, 1973) der Beforschten zu verstehen. In einem zweiten Schritt geht es um das Know how der Beteiligten, und die Auswertung orientiert sich an der Methode der Gattungsanalyse

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Rüegg-Stürm, persönliche Kommunikation im Rahmen eines Forschungsseminars.

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Interview in der „Weltwoche“, Januar 2008.

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(Günther & Knoblauch, 1997). Es interessiert, mit welchen kommunikativen Praktiken neues Wissen im konkreten Handlungsvollzug legitimiert, herausgefordert, stabilisiert, angepasst oder institutionalisiert wird. Zwar erfolgt aus diesen Schritten eine detaillierte Beschreibung von Praktiken, Rollen und Orten. Aber den Anforderungen ethnomethodologischer Adäquanzkriterien entsprechend handelt es sich dennoch nur um „eine weitere mentalistische Andeutung" (Goffman, 1980, zitiert durch Eberle, 1991: 202). Im Trade-off zwischen Erkenntnisinteresse und wissenschaftlicher Rigidität wird klar zugunsten des „heuristischen Potentials“ der Erkenntnisse entschieden (RüeggStürm, 2005). Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist in drei übergeordnete Teile strukturiert. Der erste Teil „Grundlagen“ umfasst diesen Einführungstext, zwei Kapitel mit theoretischen Voraussetzungen und dem Kapitel Forschungsmethoden. Das folgende, zweite Kapitel startet mit einem Überblick der praxeologisch ausgerichteten Strategieprozess- und Strategy-as-PracticeForschung (Johnson et al., 2007). Ausgehend von wissenssoziologischen Fragestellungen (Knoblauch, 1995) präzisiert das Kapitel dort, wo die Arbeit einen Beitrag leisten kann, die entsprechenden Forschungsfragen. Im dritten Kapitel werden aufbauend auf der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ grundlegende Annahmen expliziert, das begriffliche Gerüst definiert und ein Organisationsverständnis herausgearbeitet. Der erste Teil schliesst mit der Darstellung der Forschungsmethoden und der Forschungsstrategie. Der zweite Teil „empirische Rekonstruktion“ umfasst die Beschreibung der Fallstudie und die Analyse der Praktiken und Kontexte. Der Verlauf der Initiative ist in acht Episoden unterteilt. Die Episoden beinhalten je eine Vignette, welche die „brute facts“ wiedergibt, gefolgt von der Beschreibung und Analyse typischer Praktiken sowie dem daraus resultierenden Kontext, der dann wiederum der Ausgangspunkt für die nächste Episode ist. Der dritte Teil der Arbeit versucht, die beobachteten Praktiken und Kontexte zu systematisieren und den Verlauf der Initiative zu erklären. Deshalb rekonstruiert das sechste Kapitel die Reinterpretationen des Strategiekonzepts im Zeitverlauf, während das siebte Kapitel die dafür verantwortlichen Praktiken und Kontexte beschreibt. Das achte Kapitel fasst die wissenssoziologischen Erklärungen für die Stabilität organisationaler Repertoires von Praktiken und der Veränderlichkeit inhaltlicher Strategiekonzepte zusammen. Zuletzt versucht die Arbeit, einige Implikationen für die Praxis zu entwerfen, indem sie zentrale Dilemmata beschreibt, vor denen Führungskräfte stehen, und mögliche Handlungsoptionen zum beobachteten Vorgehen nennt.

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2 Stand der Strategieforschung 2.1 Was ist Strategie Strategie wird heute als fundamentale Verantwortung von Verwaltungsräten und Führungskräften und gleichzeitig als zentrale akademische Disziplin angesehen (Rumelt, Schendel & Teece, 1994). Die Frage, ob es auch Unternehmen ohne eine Strategie gibt, ist von der Forschung kaum je gestellt worden (Lechner, 2005). Die Interpretationen, was Strategie genau ist, sind vielfältig. Strategie wird erstens als die Aufgabe verstanden, das Unternehmen im Wettbewerbsumfeld ihrer Industrie zu positionieren (Porter, 1980), zweitens als Beschäftigung mit bedeutenden Entscheidungen und Veränderungen (Pettigrew, 1987; Pettigrew, Ferlie & McKee, 1992a) oder drittens als Prozess der Ressourcenallokation (Bower & Gilbert, 2005; Burgelman, 1983). Andere Forscher sehen Strategie in der Entwicklung von schwer imitierbaren Kompetenzen und Fähigkeiten (Teece, Pisano & Shuen, 1997). Weiter wird Strategie als strukturierter Prozess der Formation und Implementation neuen Wissens (Floyd & Wooldridge, 2000) oder überhaupt als Prozess der Wissenskreation verstanden (Grant, 2003; Spender, 1996). Vor allem in den Anfängen der Disziplin wurde Strategie mit Entscheidungsprozessen gleichgesetzt (Eisenhardt & Zbaracki, 1992), der zuerst nur TopManager, später aber auch Middle-Manager (Balogun & Johnson, 2004) oder spezialisierte Strategen umfasste (Whittington et al., 2006). Andere Forscher verstehen Strategie als Identitätsarbeit (Langley Strategic Organization), Sensemaking und Sensegiving (Gioia & Chittipeddi, 1991), Issue Selling (Dutton, O'Neill & Lawrence, 2001) oder strategische Konversationen (Hoon, 2007). Nicht zuletzt können Manager durch ihre spezifischen Führungs- und Koordinationspraktiken ebenfalls strategische Vorteile erzeugen (Jarzabkowski, 2003; Mintzberg, 1973). Die Vielzahl dieser Konzeptionen von Strategie korreliert mit der Vielzahl von Aktivitäten, die von entsprechenden Managern oder Forschern als strategisch eingeordnet werden. Jede dieser Konzeptionalisierungen betont gewisse Prozesse und Herausforderungen, die strategisch sein sollen, während andere vernachlässigt werden (Van de Ven & Poole, 1995). Indes scheint ein Muster im Verständnis von Strategie vorherrschend zu sein: Strategisch sind diese Aktivitäten, die aktuell oder potenziell wichtig für die Organisation sind, folglich mit der Identität und der zukünftigen Entwicklung des Unternehmens als ganzem verbunden sind (Johnson, Scholes & Whittington, 2005: 9). Dieses Verständnis ist vermutlich der Grund für die Inflation von Konzeptionalisierungen von Strategie. Jeder Strategieforscher will wichtige Prozesse und Aktivitäten erforschen und rahmt daher seine Konstrukte als „strategische“. Damit wird praktisch jede Aktivität eines Managers und jede Sub-Disziplin in der Managementforschung als

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aktuell oder potenziell relevant für die Strategie interpretiert (Grand, Rüegg-Stürm & von Arx, 2009). Das Besondere dieser Dissertation ist, in Übereinstimmung mit dem sozialkonstruktivistischen Forschungsprogramm keine Definition von Strategie vorauszusetzen, sondern die unternehmensspezifische Konstruktion, was genau das Verständnis von Strategie beinhaltet, selber als empirischen Forschungsfokus zu betrachten. Denn die fortlaufende Entwicklung und Anpassung des Selbstverständnisses einer Geschäftsleitung, was strategisch für die Unternehmung ist (Weick, 1995), hat oft einen fundamentalen Einfluss auf Prioritäten, Erwartungen, Aktivitäten einer Organisation (Pettigrew, 1987). Strategie sowie verwandte Themen, wie Performance oder Wandel, sind damit hochgradig abhängig von ihrer Konzeptionalisierung, die in sozialen Konstruktionsprozessen zwischen Managern und Forschern stattfinden und deren lokale Anwendung wiederum auf den Diskurs zurückwirkt (Berger & Luckmann, 1980). Damit beschränkt sich dieser Überblick auf die Punkte, zu denen die Arbeit einen Beitrag leisten will. Empirisch sind das wenige langjährige Studien der Strategieprozessforschung, deren Forschungsfrage praxeologisch neu aufgelegt werden soll, indem nicht mehr ganze Organisationen, sondern die Rekonstruktion des „internal life of process“ das Forschungsziel darstellt (Brown Druguid, Jarzabkowski et. al. 2007). Dieses Kapitel ist daher wie folgt strukturiert. Der erste Abschnitt erklärt die Konvergenz der Strategieforschung hin zu MikroPhänomenen und hat den Zweck, diese Arbeit in der Strategy-as-Practice-Community zu verorten. Der zweite Abschnitt stellt die empirischen Studien von Mintzberg und Kollegen vor, die bereits früh die Veränderlichkeit von geplanten Strategien oder sogar emergenten „grass root“-Strategien beobachtet, aber nicht erklärt haben (Mintzberg & Waters, 1985). Damit bilden sie den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Der dritte Abschnitt skizziert das Strategiemodell von Bower & Burgelman, weil es das bekannteste Kontextkonzept beinhaltet, dem diese Arbeit eine dialektische Sichtweise entgegenstellen will. Floyd & Wooldridge (2000) haben daraus ein integrierendes, auf dem Konzept von Wissen basiertes Modell des Verlaufs von Strategieprozessen entwickelt. An diesem Modell sollen der Verlauf und die Praktiken der hier untersuchten Empirie gespiegelt werden. Im letzten Abschnitt werden diejenigen Annahmen und Traditionen der Strategieprozessforschung hinterfragt, welche diese Forschung mit Hilfe des „soziologischen Auges“ weiterentwickeln will. Entsprechende Forschungsfragen sind aufgeführt.

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