9783939069836_leseprobe

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1 Einleitung

Bereits seit einigen Jahren werden der sozioökonomische und der demografische Wandel sowie der medizinisch-technische Fortschritt in Deutschland im Zusammenhang mit der langfristigen Entwicklung der Ausgaben für Gesundheit diskutiert. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen werden in der deutschen Gesundheitsbranche überdurchschnittliche Wachstums- und Beschäftigungspotenziale gesehen.1 Unklar ist jedoch, in welchen Regionen in Deutschland Wachstum und Beschäftigung in der Gesundheitswirtschaft generiert werden. Zahlreiche Regionen versuchen sich als Gesundheitswirtschaftsregionen zu etablieren und haben Maßnahmen zur Förderung der Gesundheitswirtschaft ergriffen, um sich in dieser Zukunftsbranche im nationalen und internationalen Wettbewerb zu positionieren. Dieser regionale Wettbewerb wird sich durch die Ausschreibung des BMBF „Gesundheitsregion der Zukunft“ noch verstärken. Die Ausschreibung sieht vor, in einem zweistufigen Verfahren aus den Bewerbern zunächst zwanzig Gesundheitsregionen auszuwählen, aus denen im zweiten Schritt die fünf erfolgreichsten Gesundheitsregionen identifiziert und gezielt gefördert werden sollen.2 1 Frühere Studien zeigen, dass die deutsche Gesundheitswirtschaft bereits heute ein bedeutender Träger für Wachstum und Beschäftigung ist, vgl. Ostwald, 2009. 2 Im Rahmen des BMBF-Wettbewerbs „Gesundheitsregionen der Zukunft“ sollen in einer ersten Phase (Konzeptentwicklungsphase) bis zu 20 Regionen bei der Konzeptentwicklung unterstützt und anschließend in einer zweiten Phase (Realisierungsphase) bis zu fünf Regionen ausgezeichnet und besonders gefördert werden, die das Potenzial besitzen, in selbst gewählten Innovationsfeldern der Gesundheitswirtschaft durch die zielorientierte Nutzung von Forschung und Entwicklung eine starke Innovations- und Wirtschaftskraft zu entfalten. Zielsetzung des Wettbewerbs ist es, die Wachstumspotenziale der Gesundheitswirtschaft zu fördern sowie eine bessere Versorgung der Patienten bei gleichzeitig geringeren Kosten zu erreichen, vgl. BMBF, 2008.

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1 Einleitung

Vor dem Hintergrund dieser Ausschreibung wird die Notwendigkeit deutlich, Gesundheitsregionen miteinander zu vergleichen. Ein Vergleich von Gesundheitswirtschaftsregionen hinsichtlich ihrer Wachstums- und Beschäftigungseffekte konnte aufgrund der folgenden Probleme bisher nicht vorgenommen werden: 1. Es bestehen unterschiedliche Branchenabgrenzungen der Gesundheitswirtschaft. 2. Die amtlichen Statistiken der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE) lassen eine Regionalisierung auf Gesundheitswirtschaftsregionen nicht zu. 3. Die Branche wird als Kostenfaktor und nicht als wertschöpfende Branche einer Volkswirtschaft betrachtet. Folglich orientiert sich die bestehende Datenbasis an einer kosten- bzw. finanzierungsseitigen Betrachtung. So weist die GBE Gesundheitsausgaben und Beschäftigte, nicht aber wirtschaftliche Kenngrößen, wie z.B. Umsätze oder Bruttowertschöpfung aus. 4. Die GBE setzt bei Ausgabenträgern, Einrichtungen und Leistungsarten an, eine differenzierte Betrachtung der Wirtschaftszweige der Gesundheitswirtschaft ist nicht möglich. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Wettbewerbs und der o.g. Probleme ergibt sich folgende zentrale Fragestellung dieser Arbeit: Gibt es regional unterschiedliche Wachstums- und Beschäftigungseffekte in der deutschen Gesundheitswirtschaft und wenn ja, auf welche Einflussfaktoren lassen sich diese zurückführen? Zur systematischen Beantwortung der Fragestellung teilt sich die Arbeit in drei Teilbereiche. Ziel des ersten Abschnitts ist es, die Grundlagen für eine Quantifizierung der Gesundheitswirtschaft und eine Analyse der unterschiedlichen Entwicklungen zu legen. Der zweite Teilbereich widmet sich der notwendigen methodischen Neuerung im Rahmen der VGR und der dritte Teilbereich stellt basierend auf der Methodik die empirischen Ergebnisse für die Gesundheitsregionen vor und es werden Unterschiede mit Hilfe der in Teilbereich 1 erarbeiteten Erkenntnisse analysiert. Im ersten Teil der Arbeit (Kapitel 2) werden zunächst wichtige Begriffsdefinitionen erläutert, bevor wirtschaftliche Vergleichsindikatoren für Regionen dargestellt werden, die im Regionalvergleich der Gesundheitswirtschaft Verwendung finden. Kapitel 2 schließt mit der Darstellung von gesundheitsrelevanten Wachstumsdeterminanten und theoretischen Erklärungsansätzen für unterschiedliche Regionalentwicklungen in der Gesundheitswirtschaft. Im methodischen Teil (Kapitel 3 bis 5) wird zunächst die bestehende Datenlage in Deutschland beschrieben. Dazu werden die verschiedenen Konzepte der Gesundheitsausgaben- und -personalrechnung sowie der VGR und der Erwerbstätigenrechnung der VGR miteinander verglichen. In Kapitel 4 wird der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Diskussion zum Thema „Wachstumsund Beschäftigungseffekte in Gesundheitsregionen“ dargestellt und davon

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1 Einleitung

ausgehend die Innovation dieser Arbeit herausgestellt. In Kapitel 5 wird die Gesundheitswirtschaft – entsprechend der in Kapitel 2 gewählten Branchendefinition – in VGR-Kategorien abgebildet. Darauf aufbauend wird eine Berechnungsmethodik entwickelt, die es ermöglicht, die Bruttowertschöpfung, die Erwerbstätigen sowie die Arbeitsproduktivität einzelner Wirtschaftszweige der Gesundheitswirtschaft für Wirtschaftsregionen auszuweisen. In den Kapiteln 6 und 7, dem empirischen Teil, werden schließlich die Wachstums- und Beschäftigungseffekte der Gesundheitswirtschaft am Beispiel von vier ausgewählten Europäischen Metropolregionen berechnet. Dazu wird in Kapitel 6 zunächst eine räumliche und ökonomische Abgrenzung der vier Metropolregionen Berlin-Brandenburg, Halle/Leipzig Sachsendreieck, Hamburg und Rhein-Main vorgenommen. Die Charakterisierung der Regionen lehnt sich an den für die Gesundheitswirtschaft maßgeblichen Wachstumsdeterminanten an und soll im nachfolgenden Kapitel Aufschluss über mögliche unterschiedliche Entwicklungen der regionalen Gesundheitswirtschaft geben. In Kapitel 7 wird erstmals die Branche Gesundheitswirtschaft am Beispiel von bundeslandübergreifenden Metropolregionen einem Regionalvergleich unterzogen. Zur Darstellung unterschiedlicher Wachstums- und Beschäftigungseffekte werden die in Kapitel 2 beschriebenen Indikatoren für jede der vier Wirtschaftsregionen berechnet und einander gegenübergestellt. Dabei wird durch statistische Fortschreibungsverfahren auch ein Ausblick auf die zukünftige Entwicklung der Regionen gegeben. Schließlich werden unterschiedliche Entwicklungen herausgearbeitet und es wird versucht, diese auf unterschiedliche Voraussetzungen hinsichtlich der Wachstumsdeterminanten zurückzuführen. Die Arbeit schließt mit einem Fazit.

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2 Regionale Wachstumsbetrachtung der Gesundheitswirtschaft Die Fragestellung dieser Arbeit ist, ob es regionale Unterschiede in der Wachstumsentwicklung der Branche Gesundheitswirtschaft gibt und wenn ja, worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind. Um diesen branchenspezifischen Regionalvergleich durchführen zu können, muss im ersten Schritt zunächst die Branche Gesundheitswirtschaft definiert werden, bevor die in dieser Arbeit betrachteten Wirtschaftsregionen definiert sowie der Wachstumsbegriff für die Gesundheitswirtschaft erläutert werden. Im zweiten Schritt werden Vergleichsindikatoren zur Quantifizierung regionaler Wachstums- und Beschäftigungseffekte beschrieben. Im dritten Schritt werden theoriebasiert die wichtigsten Einflussfaktoren auf das Wachstum der Gesundheitswirtschaft beschrieben und deren Bedeutung für regionales Wachstum herausgestellt. Im letzten Schritt werden darauf aufbauend regionale Wachstumstheorien herangezogen, deren Erklärungsansätze für unterschiedliches Wachstum bei der Analyse der Berechnungsergebnisse in Kapitel 7 Verwendung finden.

2.1 Begriffsdefinitionen 2.1.1 Branche „Gesundheitswirtschaft“ Die Begriffe „Gesundheitsbranche“ und „Gesundheitswirtschaft“ können synonym verwendet werden. Gesundheitswirtschaft ist der Oberbegriff für alle Wirtschaftszweige, die mit Gesundheit zu tun haben, wobei die Bedeutung weit gefasst wird. Bei der 1. Nationalen Branchenkonferenz Gesundheitswirtschaft wurde 2005 als Definition festgelegt: „Gesundheitswirtschaft umfasst

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die Erstellung und Vermarktung von Gütern und Dienstleistungen, die der Bewahrung und Wiederherstellung von Gesundheit dienen.“1 Nach Schwartz und Busse fasst die Gesundheitswirtschaft im weiteren Sinne Waren und Dienstleistungen im Sinne der Vorbeugung, Gesundwerdung und Gesunderhaltung unter Einbeziehung unterschiedlicher Branchen zusammen.2 Bereits diese beiden Definitionen verdeutlichen, dass eine trennscharfe Abgrenzung der Branche Gesundheitswirtschaft schwierig ist. Sie ist eng verbunden mit der Definition des Gesundheitsbegriffs. Die OECD definiert den Gesundheitsbegriff in ihrem „System of Health Accounts“ als „Aktivitäten oder Güter, die von Einrichtungen oder Individuen durchgeführt oder bereit gestellt werden und die dabei medizinisches, hilfsmedizinisches oder pflegerisches Wissen oder die dafür erforderlichen Technologien verwenden.“3 Voraussetzung ist, dass sie dabei eines der folgenden Ziele verfolgen: Gesundheit fördern und Krankheit verhindern Krankheiten heilen und vorzeitige Mortalität reduzieren Personen versorgen, die chronische Krankheiten haben und pflegerische Hilfe benötigen Personen versorgen, die gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Behinderungen haben und pflegerische Hilfe benötigen Patienten einen würdevollen Tod ermöglichen Öffentlichen Gesundheitsschutz oder öffentliche Gesundheitsprogramme für die Bevölkerung bereitstellen und verwalten Zugang zu Versicherungssystemen (gesetzlich oder privat organisiert) schaffen, welche die Bevölkerung vor den finanziellen Folgen von Krankheit schützen; der Aufbau solcher Systeme, deren Verwaltung und Kontrolle sind Teil der Gesundheitsleistungen Nach dieser Definition zählen in Deutschland Leistungen und Güter mit dem Ziel der Prävention, Behandlung, Rehabilitation und Pflege, sowie Investitionen der Einrichtungen des Gesundheitswesens zur Gesundheitswirtschaft. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat eine etwas weiter gefasste Abgrenzung für Gesundheit. Nach dieser Definition ist unter Gesundheit „der Zustand des vollständigen körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefindens und nicht alleine die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen“4 zu verstehen. Entsprechend dieser Definition könnte die Gesundheitswirtschaft z. B. auch Functional Food umfassen. Bis vor einigen Jahren wurde dem Gesundheitsbereich lediglich das Gesundheits- und Sozialwesen und dessen Einrichtungen zugerechnet. Dieser Bereich umfasst Leistungen, die direkt am Patienten ansetzen. Er schließt die stationäre und ambulante Gesundheitsversorgung (Krankenhäuser, Vorsorge- und

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Die 1. Nationale Branchenkonferenz Gesundheitswirtschaft fand am 7. und 8. Dezember 2005 in Rostock statt. Vgl. Schwartz/Busse, 1998. OECD, 2000, S. 42. WHO, 2006.


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2.1 Begriffsdefinitionen

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Abbildung 2-1: Schichtenmodell der Gesundheitswirtschaft. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Hilbert et al., 2002. Rehabilitationseinrichtungen sowie niedergelassene Ärzte und Zahnärzte) sowie den Pflegebereich mit ein.5 Jedoch werden bei der ausschließlichen Betrachtung des Gesundheits- und Sozialwesens wichtige Bereiche, die ebenfalls Waren und Dienstleistungen herstellen, die der Bewahrung und Wiederherstellung von Gesundheit dienen, nicht berücksichtigt. Das Gesundheits- und Sozialwesen ist somit nur ein Teilbereich der Gesundheitswirtschaft. Diesen Sachverhalt verdeutlicht auch das Schichtenmodell der Gesundheitswirtschaft, vgl. Abbildung 2-1. Im Kern des Modells befindet sich das Gesundheits- und Sozialwesen mit den dazugehörigen Wirtschaftszweigen. Die einzelnen Teilbereiche, die über den Kernbereich hinausgehen, sind durch konzentrische Schichten dargestellt. Dabei verdeutlichen die Schichten die Position der Einrichtungen bzw. der Unternehmen in der Wertschöpfungskette und dadurch auch in gewisser Weise die Distanz zur primären Behandlung von Krankheiten. Die folgenden Schichten umlagern den Kernbereich der Gesundheitswirtschaft: 1. 2. 3. 4.

Schicht: Handel Schicht: Verarbeitendes Gewerbe Schicht: Weitere Einrichtungen Schicht: Randbereiche mit ausgeprägten gesundheitlichen Bezügen

5 Vgl. Ostwald/Ranscht, 2007a, b, c.

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2 Regionale Wachstumsbetrachtung der Gesundheitswirtschaft

Das Gesundheits- und Sozialwesen enthält die beschäftigungsintensivsten Wirtschaftszweige der Gesundheitswirtschaft. Es umfasst Leistungen, die direkt am Patienten ansetzen. Es schließt die stationäre und ambulante Gesundheitsversorgung sowie den Pflegebereich, wie z.B. Krankenhäuser, Vorsorgeund Rehabilitationseinrichtungen, Pflegeeinrichtungen sowie niedergelassene Ärzte und Zahnärzte, mit ein. Die erste Schicht um den Kern beinhaltet den Bereich des Handels. Sie umfasst den Groß- und Einzelhandel mit pharmazeutischen, medizinischen und orthopädischen Erzeugnissen sowie die Apotheken. Die zweite Schicht, das Verarbeitende Gewerbe, bildet die kapital- und technologieintensive Vorleistungs- und Zuliefererindustrie, wozu neben den so genannten Health Care Industries (Pharmazeutische Industrie, Medizintechnik, Bio- und Gentechnologie) auch das Gesundheitshandwerk zählt. Die dritte Schicht umfasst die Weiteren Einrichtungen im Gesundheitsbereich. Zu nennen sind hier private und gesetzliche Krankenversicherungen (inkl. Pflegeversicherungen), Teile der Renten- und Unfallversicherung, die öffentliche Verwaltung auf dem Gebiet Gesundheitswesen, Organisationen des Gesundheitswesens sowie Forschung und Entwicklung im Bereich Medizin. Wird die noch weiter gefasste Abgrenzung des Gesundheitsbegriffs der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugrunde gelegt, könnten auch noch Randbereiche und Nachbarbranchen mit ausgeprägten gesundheitlichen Bezügen, wie z.B. Freizeit- und Tourismusbranche, Ernährung oder der Wellnessbereich zur Gesundheitswirtschaft im weitesten Sinne gezählt werden. Diese Bereiche sind in der äußersten Schicht des Modells dargestellt. Die im Folgenden zugrunde gelegte Abgrenzung der Gesundheitswirtschaft orientiert sich am Schichtenmodell und umfasst alle Wirtschaftszweige, die sich maßgeblich mit der Verringerung von Mortalität und Morbidität befassen.6 Entsprechend zählen der Kernbereich sowie die ersten drei Schichten zur Gesundheitswirtschaft, während der äußere Ring (z.B. Wellnessbereich) nicht der Gesundheitswirtschaft im engeren Sinn zugeordnet wird.7

2.1.2 Konzept und Funktionen von Metropolregionen In dieser Arbeit sollen Wirtschaftsregionen miteinander verglichen werden. Als Wirtschaftsregionen werden hierbei bundeslandübergreifende Metropolregionen, d.h. funktionale Regionen nicht aber Planungsregionen8 verstanden. Planungsregionen sind politische und administrative Gebietseinheiten (z.B. Bundesländer), deren Abgrenzungen sich aus den Planungszielen oder

6 Die gewählte Branchenabgrenzung orientiert sich an der Abgrenzung der Gesundheitspersonal- und -ausgabenrechnung sowie der Definition für Gesundheit der OECD, vgl. Destatis, 2007a, b, OECD, 2000. 7 Zur detaillierten Darstellung der Gesundheitswirtschaft und der dazugehörigen Wirtschaftszweige vgl. Ostwald/ Ranscht, 2007a, b. 8 Vgl. Lange, 1970, S. 2705–2719; Richardson, 1973, S. 6 ff.

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2.1 Begriffsdefinitionen

aus historisch geprägten bzw. politischen Kriterien ergeben. 9 Dem Vorteil der Datenverfügbarkeit steht häufig der Nachteil gegenüber, dass die Verwaltungsgrenzen zusammenhängende Wirtschaftsräume teilen. Im Gegensatz dazu kennzeichnen Metropolregionen Wirtschaftsräume unabhängig von föderalen Grenzen. Unter einer Metropolregion wird eine stark verdichtete Großstadtregion von hoher internationaler Bedeutung verstanden. Ursprünglich ist der Begriff Metropolregion eine informelle Begriffsbeschreibung für eng verflochtene Regionen mit städtischem Charakter. Bei Metropolregionen handelt es sich um funktionale Regionen, die sich durch intraregionale Interdependenz, die aufgrund einer oder mehrerer funktionaler Beziehungen besteht, auszeichnen.10 Oft handelt es sich um polarisierte Regionen, in denen die Verflechtungsbeziehungen vom Zentrum zur Peripherie abnehmen. Typische Beispiele sind Arbeitsmarktregionen, in denen Verbindungen aufgrund von Pendlerströmen das Abgrenzungskriterium bilden oder Absatzmarktregionen, für die der Einzugsbereich einzelner Anbieter das Abgrenzungskriterium bildet. In dieser Arbeit werden die vier Europäischen Metropolregionen Berlin-Brandenburg, Halle/Leipzig-Sachsendreieck, Hamburg und Rhein-Main untersucht. Bei allen genannten Regionen handelt es sich um bundeslandübergreifende Metropolen. So erstreckt sich Berlin-Brandenburg über zwei Bundesländer und die restlichen Metropolregionen sogar über drei Bundesländer, vgl. dazu Kapitel 6. Europäische Metropolregionen müssen verschiedene Funktionen und Aufgaben erfüllen, die drei übergeordneten Funktionsbereichen zugeordnet werden können:11 Entscheidungs- und Kontrollfunktionen, Innovations- und Wettbewerbsfunktionen sowie Gateway-Funktionen. In einer Metropolregion findet sich eine hohe Konzentration an politischen und ökonomischen Einrichtungen. Von diesen werden Finanz- und Informationsströme, auch über die Metropolregion hinaus, kontrolliert.12 Die größten Unternehmen eines Landes haben hier ihre Hauptsitze oder wichtige Zweigstellen. Hinzu kommen beispielsweise Regierungs- und Verwaltungseinrichtungen von Bund, Ländern und Regionen, Vertretungen anderer Länder sowie Zentralen von Verbänden und Organisationen mit nationaler und internationaler Bedeutung oder NGOs.13 Metropolregionen sind Innovationszentren und Treiber gesellschaftlicher, kultureller und technologischer Entwicklung. Dies kommt auch durch eine hohe Präsenz von Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen sowie sport9 Vgl. Schätzl, 1996, S. 95. 10 Vgl. Lange 1970, S. 2705–2719; Richardson, 1973, S. 6 ff. Des Weiteren existieren homogene Regionen, die hinsichtlich einem oder mehrerer Merkmale gleichartig strukturiert sind (z.B. gleiches Pro-Kopf-Einkommen). 11 Vgl. Böhm, 2006, S. 1, 2; Blotevogel, 2002, S. 346. 12 Vgl. Adam et al., 2005, S. 420. 13 Non Governmental Organisations.

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2 Regionale Wachstumsbetrachtung der Gesundheitswirtschaft

lichen oder kulturellen Einrichtungen zum Ausdruck. Diesen wissenschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten wird das Potenzial beigemessen, Innovationen am Standort zu fördern – direkt durch das Vorhandensein von Forschungseinrichtungen und indirekt durch das Erfüllen von Ansprüchen, die kreative junge Führungskräfte oder Wissenschaftler an das kulturelle Angebot vor Ort stellen.14 Eine gute internationale Erreichbarkeit ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor für den Austausch von Wissen und Informationen. Typisch für Metropolen ist ihr hochrangiges Verkehrsinfrastrukturangebot. Die enge Einbindung in das international und interkontinental ausgerichtete Verkehrsnetzwerk durch Flughäfen, Schnellbahnsysteme und Autobahnverbindungen sichert nicht nur eine gute Erreichbarkeit der Metropolen, sondern trägt in Kombination mit anderen Standortfaktoren dazu bei, dass ein hohes Zugangspotenzial zu Wissen, Informationen und Märkten in diesen Regionen gegeben ist. Messen, Kongresse, Standpunkte von Internet-Servern und eine technisch weit entwickelte Telekommunikationsinfrastruktur sind Kennzeichen der GatewayFunktionen von Metropolräumen.15 Metropolregionen gelten in einer zunehmend global agierenden Ökonomie als innovative Zentren und Knotenpunkte vielfältiger materieller und immaterieller grenzüberschreitender Ströme und Aktivitäten.16 Der internationalen Wettbewerbsfähigkeit solcher regionalen Zusammenhänge kommt für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung große Bedeutung zu. Dies unterstreicht auch der Beschluss der Ministerkonferenz für Raumordnung zum Raumordnungspolitischen Handlungsrahmen 1995, der die Bedeutung der Metropolregionen in Deutschland („Europäische Metropolregionen“) wie folgt beschreibt: „Als Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung sollen die Metropolregionen die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit Deutschlands und Europas erhalten“.17 Die Politik hat in den vergangenen Jahren verstärkt die Regionen entdeckt. Förderprogramme werden als Wettbewerb zwischen den Regionen ausgeschrieben (z.B. „BioRegio-Wettbewerb“ und „Gesundheitsregion der Zukunft“), Technologietransferzentren werden als Schnittstellen regionaler Entwicklung gefördert, und spezielle Förderinstrumente werden für die Probleme ländlicher Räume entwickelt.18 Die sich aus der Globalisierung und der Europäischen Integration ergebende internationale Standortkonkurrenz führt zu einer Spezialisierung auf einzelne Wirtschaftsbranchen und einem damit einhergehenden räumlichen Strukturwandel.19 Im globalen Wettbewerb gewinnt die Dynamik und Kreativität

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Vgl. Adam et al., 2005, S. 420. Vgl. Adam et al., 2005, S. 420. Vgl. Fischer et al., 2005, S. 439. Adam et al., 2005, S. 417. Vgl. Wink, 2003, S. 1, 2. Vgl. Böhm, 2006, S. 1.


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2.1 Begriffsdefinitionen

einer Region eine wachsende Bedeutung als Standortfaktor.20 Die Regionen befinden sich in einem Qualitätswettbewerb. Angesichts der im weltwirtschaftlichen Strukturwandel zunehmenden Relevanz regionalwirtschaftlicher Fragestellungen und wegen der bestehenden Forschungsdefizite empfiehlt Paul Krugman „A revival of research into regional economics and economic geography“.21 Dies gilt auch für die Gesundheitsregionen in Deutschland. Vor diesem Hintergrund sollen in dieser Arbeit ausgewiesene Gesundheitsmetropolen einander gegenübergestellt werden und hinsichtlich ihrer gesundheitswirtschaftlichen Bedeutung sowie ihrer Wachstumspotenziale untersucht werden. Dazu wird im nächsten Abschnitt zunächst definiert, was unter Wachstum der Gesundheitswirtschaft verstanden wird und wie es gemessen werden kann.

2.1.3 Wachstum und Wachstumsindikatoren der Gesundheitswirtschaft Im Allgemeinen wird unter Wirtschaftswachstum die Zunahme der Leistungsfähigkeit verstanden.22 Unter Wachstum im Sinne der volkswirtschaftlichen Expansion kann einerseits der Anstieg des Produktionspotenzials, d.h. der Wertschöpfungs-„Möglichkeit“ bzw. Wertschöpfungs-„Kapazität“ verstanden werden. Durch das Wachstum des Produktionspotenzials wird das maximale Wachstum einer Volkswirtschaft in einer Periode zum Ausdruck gebracht. Es ist somit eine Maßzahl für das potenziell mögliche Wachstum des gesamtwirtschaftlichen Waren- und Dienstleistungsangebots. Das Wachstum des Produktionspotenzials hängt ab von der Erhöhung der Menge der verfügbaren und somit einsetzbaren Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, ...) sowie von der möglichen Steigerung der Faktorproduktivität (Arbeitsproduktivität, Kapitalproduktivität), für die wiederum der Stand des technischen Wissens ausschlaggebend ist. Andererseits kann Wachstum als Nutzung des Produktionspotenzials, d.h. als tatsächliche Wertschöpfung verstanden werden. Das Wachstum der Wertschöpfung bestimmt sich nach dem tatsächlichen Faktoreinsatz und der realisierten Produktivitätsentwicklung. Die wichtigste Grundlage zur Beurteilung des wirtschaftlichen Entwicklungsstandes von Regionen bildet das Standardsystem der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Es wurde in den 50er Jahren gemeinsam von dem Statistischen Amt der Vereinten Nationen (UN) und der OECD entwickelt. Die meisten Länder der Erde führen jährlich eine entsprechende Gesamtrechnung 20 Vgl. Porter, 1993, S. 182. 21 Krugman, 1991b, S. 498. 22 Der Begriff Entwicklung wird vielfach synonym zu dem des wirtschaftlichen Wachstums verwendet. Die beiden Begriffe könnten differenziert werden, wenn Wachstum als quantitative Erhöhung des Outputs verstanden wird und Entwicklung eine zusätzliche Verbesserung in der Struktur des Outputs und in der Allokation der zur Produktion von Waren und Dienstleistungen eingesetzten Inputs voraussetzt, vgl. Kindleberger, 1965, S. 3 f. Andererseits kann Entwicklung als normativer Begriff im Sinne einer langfristigen Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung verstanden werden. In diesem Fall wäre das wirtschaftliche Wachstum ein Indikator für das Entwicklungspotenzial, vgl. Seers, 1974, S. 39–67.

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