9783939069843_leseprobe

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1 Einleitung

Bereits seit einigen Jahren werden der sozioökonomische Wandel, die demografischen Veränderungen sowie der medizinisch-technische Fortschritt in Deutschland im Zusammenhang mit der Entwicklung der Ausgaben für Gesundheit diskutiert. Der erwartete Anstieg der Gesundheitsausgaben in Deutschland wird als Argument dafür angeführt, dass es sich bei der Gesundheitswirtschaft um eine Wachstumsbranche handelt. So zeigen Studien auf Basis der Gesundheitsausgabenrechnung, dass die Gesundheitsbranche, trotz aller Anstrengungen zur Kostendämpfung in der Vergangenheit, schon heute ein bedeutender Träger für Wachstum und Beschäftigung ist. Jedoch mangelt es bei einer fundierten Betrachtung bis heute an einer validen Datenbasis, mit der Wachstums- und Beschäftigungseffekte dieser Branche analysiert werden können. Es wird bislang noch vorwiegend in Ausgaben- oder Umsatzkategorien, nicht aber – wie es eigentlich geboten ist – in Wertschöpfungskategorien diskutiert. Dazu wird in dieser Arbeit eine Methodik entwickelt, mit der erstmals die Gesundheitswirtschaft in VGR-Kategorien abgebildet werden kann. Ziel dieser Arbeit ist es, anhand der neu entwickelten Methodik den Beitrag der deutschen Gesundheitswirtschaft zu Wachstum und Beschäftigung zu berechnen und vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, dem medizinisch-technischen Fortschritt und dem wirtschaftlichen Strukturwandel zu analysieren. Als zentrale Fragestellung wird beantwortet, ob die deutsche Gesundheitswirtschaft bzw. die dazugehörigen Wirtschaftszweige in der Vergangenheit tatsächlich Wachstums- und Beschäftigungstreiber waren und wie sie sich in Zukunft entwickeln werden.

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1 Einleitung

Der Aufbau der Arbeit gliedert sich wie folgt. Zunächst wird in Kapitel 2 die Branche Gesundheitswirtschaft definiert, bevor auf die verschiedenen gesundheitswirtschaftlichen Einflussgrößen eingegangen wird. In Kapitel 3 folgt die Darstellung der gegenwärtigen Diskussion zur Thematik Wachstums- und Beschäftigungseffekte im Gesundheitsbereich und es werden Schlussfolgerungen für diese Arbeit gezogen. In Kapitel 4 werden die bestehenden Statistiken für den Gesundheitssektor beschrieben, wobei die Gesundheitsausgaben- und -personalrechnung mit den VGR bzw. der Erwerbstätigenrechnung der VGR verglichen werden. In Kapitel 5 wird die Methodik des Wertschöpfungsansatzes erläutert. Dazu wird zunächst die Branchenabgrenzung der Gesundheitswirtschaft in VGR-Kategorien vorgenommen, bevor auf die einzelnen Berechnungsschritte zur Ermittlung der Kennzahlen detailliert eingegangen wird. Das Kapitel schließt mit einer Gegenüberstellung der Ergebnisse auf Basis des Wertschöpfungsansatzes und den einschlägigen Statistiken der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Dabei werden zur Validierung des Wertschöpfungsansatzes Umrechnungstabellen für die Jahre 1996 bis 2005 sowohl für den Produktionswert als auch für die Erwerbstätigenzahlen der Gesundheitswirtschaft erstellt. In Kapitel 6 wird schließlich der Wertschöpfungsansatz auf die deutsche Gesundheitswirtschaft angewendet. Das Kapitel beinhaltet eine nach Wirtschaftszweigen differenzierte Analyse der Wachstums- und Beschäftigungseffekte der deutschen Gesundheitswirtschaft für den Zeitraum von 1996 bis 2030. Die Arbeit schließt mit einem Fazit.

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2 Wachstum in der Gesundheitswirtschaft

Zur Beantwortung der Frage, ob es sich bei der Gesundheitswirtschaft um einen Wachstums- und Beschäftigungstreiber handelt, wird im Folgenden zunächst erläutert, was unter Wachstum zu verstehen ist bzw. wie es gemessen werden kann und wie die Branche Gesundheitswirtschaft abgegrenzt wird. Im Anschluss werden die maßgeblichen Einflussgrößen auf das Wachstum der Gesundheitswirtschaft erläutert.

2.1 Erläuterung und Abgrenzung des Wachstumsbegriffs Im Allgemeinen wird unter Wirtschaftswachstum die Zunahme der Leistungsfähigkeit der Ökonomie im Hinblick auf die gesamtwirtschaftliche Ausbringung verstanden. Unter Wachstum kann einerseits der Anstieg des Produktionspotenzials, d.h. der Wertschöpfungs-„Möglichkeit“ bzw. Wertschöpfungs-„Kapazität“ verstanden werden (jeweils gerechnet für einen bestimmten Zeitraum, bezogen auf einen vergleichbaren vorangegangenen Zeitraum). Andererseits kann Wachstum als Nutzung des Produktionspotenzials, d.h. als tatsächliche Wertschöpfung verstanden werden. Durch das Wachstum des Produktionspotenzials wird das maximale Wachstum einer Volkswirtschaft in einer Periode zum Ausdruck gebracht. 1 Es ist somit eine Maßzahl für das potenziell mögliche Wachstum des gesamtwirt-

1 Das Produktionspotenzial kann auf verschiedene Arten geschätzt werden. Für die Bundesrepublik Deutschland publiziert u.a. der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) jährlich Daten über das Produktionspotenzial.

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2 Wachstum in der Gesundheitswirtschaft

schaftlichen Waren- und Dienstleistungsangebots. Potenziell deshalb, weil es voraussetzt, dass die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital voll oder zumindest normal ausgelastet sind. Das Wachstum des Produktionspotenzials hängt folglich von der Erhöhung der Menge der verfügbaren und somit einsetzbaren Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, ...) sowie von der möglichen Steigerung der Faktorproduktivität (Arbeitsproduktivität, Kapitalproduktivität) ab, für die wiederum der Stand des technischen Wissens ausschlaggebend ist. Das Wachstum der Wertschöpfung bestimmt sich nach dem tatsächlichen Faktoreinsatz und der realisierten Produktivitätsentwicklung.2 Es muss zwischen Wachstum und Konjunktur unterschieden werden. Während Wachstum den langfristigen Trend der wirtschaftlichen Entwicklung beschreibt, wird unter Konjunktur die kurzfristige Entwicklung verstanden. Konjunktur kann definiert werden als periodisch wiederkehrende, gesamtwirtschaftlich durchwirkende Veränderung der tatsächlichen Wirtschaftstätigkeit, die zu einer unterschiedlichen und im Zeitablauf schwankenden3 Auslastung des Produktionspotenzials führt (in Abgrenzung von langfristigen Schwankungen des Potenzials selbst).4 Der Konjunkturzyklus ist aus der Perspektive des Produktionspotenzials die Abweichung des tatsächlichen vom potentiellen Wachstum. Diese Abweichungen werden durch die so genannte Output-Lücke gemessen, welche die Differenz der Wachstumsraten von tatsächlichem und potenziellem BIP zum Ausdruck bringt. Ungleichgewichte zwischen tatsächlichem und Potenzialwachstum lösen auf volkswirtschaftlicher Ebene in der Regel Preisniveauänderungen aus. Im Allgemeinen gilt: Ist das BIP Wachstum größer als das des Produktionspotenzials, steigt tendenziell die Inflationsrate und damit das Preisniveau, wächst es langsamer, sinkt die Inflationsrate (so genannte Disinflation) und möglicherweise sogar das Preisniveau (bei einer negativen Inflationsrate). Tendenziell deshalb, weil die Preise in der Regel nicht flexibel auf Ungleichgewichte von Angebot und Nachfrage reagieren und je nach Marktform ein unterschiedlich langes Time-Lag 5 existiert. Das gilt insbesondere bei einem Preisdruck ‚nach unten‘, also einem Überschussangebot an Waren und Dienstleistungen und weniger bei einer Überschussnachfrage. ‚Nach oben‘ erweisen sich die Preise in der Regel als deutlich flexibler als ‚nach unten‘.6 Es können vier Phasen der Konjunktur unterschieden werden: Die Phase der Erholung, die Phase der Prosperität, sowie die Phasen der Rezession und

2 Vgl. Glastetter, 1995. 3 Die Unstetigkeit der Wertschöpfung kann neben konjunkturell bedingten Schwankungsursachen auch auf exogene Phänomene zurückgeführt werden. Sie kann aus Zufallsereignissen resultieren (Kriege, Missernten, politische Veränderungen), auf saisonale Schwankungen zurückzuführen sein (Baustop im Winter, Oster- oder Weihnachtsgeschäft) oder durch längerfristig wirksame Faktoren ausgelöst worden sein (technischer Fortschritt, Bedarfsstrukturveränderung, Bevölkerungswanderung). 4 Vgl. SVR, 2004, S. 129 ff. und SVR, 2003, S. 412. 5 Zeitliche Verzögerung. 6 Vgl. Löchel, 2000, S. 9.

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2.1 Erläuterung und Abgrenzung des Wachstumsbegriffs

Depression. Die Phase der Erholung beginnt in der Krise, dem unteren Wendepunkt der Konjunktur. Der sich zunächst beschleunigende Produktionsanstieg führt zu einer ebenfalls beschleunigt steigenden Kapazitätsauslastung, bis eine „Normal“-Auslastung der Kapazitäten erreicht ist. In der Phase der Prosperität steigt die Produktion, sich zwar verlangsamend, weiter an und führt zu einer nun aber ebenfalls verlangsamt steigenden Überbeanspruchung der Kapazitäten. Die Überbeanspruchung begrenzt zunehmend den Produktionsanstieg, bis ein oberer Wendepunkt erreicht ist. In der Phase der Rezession sinkt die Produktion mit zunehmendem Tempo, was allerdings noch eher den Charakter einer Entspannung hat, denn der Auslastungsgrad sinkt zwar, liegt jedoch noch über dem Niveau der „Normal“-Auslastung. In der Phase der Depression führt der Produktionsrückgang dazu, dass der Grad der „Normal“-Auslastung unterschritten wird. Der Rückgang von Produktion und Auslastungsgrad schwächt sich zwar ab, jedoch liegen immer mehr Arbeits- und Sachkapazitäten brach. Die Krise setzt ein und eine neue Erholungsphase beginnt.7 Das allgemein verwendete Maß für das Wirtschaftswachstum ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das den Auslastungsgrad des Produktionspotenzials angibt. Das BIP ist definiert als der Marktwert aller für den Endverbrauch bestimmten Waren und Dienstleistungen, die in einem Land in einer Periode hergestellt werden. Die einfache Vergleichbarkeit der Zuwachsraten des BIP einzelner Jahre ist aufgrund konjunktureller Schwankungen nicht geeignet, um Aussagen über die langfristige wirtschaftliche Entwicklung eines Landes zu machen. Dazu sollten entweder die durchschnittlichen Zuwachsraten des BIP über längere Zeiträume bzw. des Pro-Kopf-BIP oder das Konzept des Potenzialwachstums herangezogen werden. Zur Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit werden die langfristigen durchschnittlichen Wachstumsraten des BIP, als Kennzahl für die tatsächlich erwirtschaftete Wertschöpfung, herangezogen. Die Verwendung des BIP als Wohlstandsmaß bzw. als Maßgröße der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft ist jedoch nicht unumstritten. Es gibt einige Kritikansätze, die darauf hinweisen, dass dieser Indikator die tatsächliche Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft nur unvollständig widerspiegelt. So werden bei der Ermittlung des BIP nur Transaktionen berücksichtigt, die über den Markt abgewickelt werden; Eigenproduktion – wie z.B. handwerkliche Eigenleistungen, Hausfrauentätigkeiten oder Leistungen durch unentgeltlich arbeitende Familienangehörige – wird somit nicht berücksichtigt. Je ärmer ein Land ist, desto weniger Dienstleistungen werden über den Markt bezogen und desto mehr Agrarprodukte werden selbst erstellt. Insofern ist der Wohlstand dieser Länder höher als es durch die Höhe des BIP zum Ausdruck kommt. Das BIP kann zudem nur die Transaktionen erfassen, die dem Staat gemeldet werden. Bei der Schwarzarbeit ist dies nicht der Fall. In einem

7 Vgl. Glastetter, 1995.

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2 Wachstum in der Gesundheitswirtschaft

Land mit sehr viel Schwarzarbeit ist das Wohlstandsniveau folglich höher als dies in der Statistik ausgewiesen wird. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Nichtberücksichtigung der Arbeitszeit, die zur Erstellung des BIP notwendig ist. So liegt das BIP pro Kopf mit 34.100 US-$ in den USA deutlich über dem deutschen Niveau von 24.920 US-$. Die tarifliche Arbeitszeit ist dort aber mit 1.904 Stunden pro Jahr um 20 % höher als in Deutschland, womit der Abstand des BIP von 37 % relativiert wird. Des Weiteren erfasst das BIP auch die Produktion von Gütern, die nicht erwünscht sind bzw. die eine Wohlfahrt senkende Wirkung haben. Z.B. erhöhen Müllentsorgung, Verkehrsunfälle sowie Umweltschäden und deren Beseitigung das Wirtschaftswachstum. Im Gegensatz zu diesen kompensatorischen Ausgaben wird jedoch die Abnutzung oder Zerstörung des Naturvermögens nicht berücksichtigt. Es ist jedoch zu erwarten, dass Umweltschäden zukünftig erhebliche Kosten verursachen werden; diese Finanzmittel werden für andere Zwecke nicht mehr zur Verfügung stehen.8 Schließlich ist ein internationaler Vergleich von Kenngrößen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen problematisch, weil nationale Buchführungen sehr unterschiedlich und Preise oft nicht vergleichbar sind.9 Die Berechnung nationaler BIP beruht auf regionalen Preisen. Diese können durch Monopolsituationen oder staatliche Einflussnahme (z.B. gesetzliche Festlegung von Höchstpreisen für Grundnahrungsmittel) nicht dem realen Wert entsprechen. Um eine internationale Vergleichbarkeit zu erhalten, werden die Angaben in nationalen Währungen, basierend auf jeweils gültigen Wechselkursen, in US-$ umgerechnet. Die Wechselkurse entsprechen jedoch nicht immer den realen Kaufkraftwerten der Länder. Dieses Vergleichsproblem versucht die Weltbank durch die Berücksichtigung von Kaufkraftparitäten zu kompensieren. Dabei hat ein internationaler Dollar, bezogen auf das BIP10 des jeweiligen Landes, die gleiche Kaufkraft wie ein US Dollar, bezogen auf das BIP der Vereinigten Staaten.11 In den siebziger Jahren wurde das BIP als Wohlstandsmaßstab in Zweifel gezogen. Statt einer eindimensionalen Messung der wirtschaftlichen Wohlfahrt wurde ein mehrdimensionaler Ansatz, der zahlreiche monetäre, nichtmonetäre und soziale Indikatoren umfasst, vorgeschlagen.12 Es sollte ein System von Sozial- und Umweltfaktoren geschaffen werden, an dem die aktuelle Wohlfahrt sowie die aktuelle Lebens- und Umweltqualität gemessen werden kann. Der Bestand des Naturvermögens sollte berücksichtigt werden und es wurde gefordert, die BIP Rechnung durch eine Nettokonsumrechnung zu ergänzen, die um kompensatorische Ausgaben bereinigt ist. Es wurde argumentiert, dass defensive oder kompensatorische Ausgaben, die die Umwelt-

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Vgl. Barthelt/Glückler, 2002, S. 59. Vgl. Barthelt/Glückler, 2002, S. 60. Die Weltbank verwendet nicht das BIP, sondern das Bruttonationaleinkommen, das dem Inländerprinzip folgt. Vgl. Weltbank, 2002, S. 285. Vgl. Oppenländer, 1988, S. 172.


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2.1 Erläuterung und Abgrenzung des Wachstumsbegriffs

schädigung verlangsamen oder Umweltschäden beseitigen, keine Nettoproduktion darstellen und somit auch kein Nettoeinkommen entsteht. Diese Ausgaben dienten nicht der Erhöhung des Nettowohlstandes, sondern lediglich der Wiederherstellung eines schon erreichten Wohlstands- und Umweltqualitätsniveaus.13 Eine breite Umsetzung eines solchen Konzepts ist jedoch aufgrund von Erfassungs- und Bewertungsproblemen schwierig. Eine vollständige Erfassung des vielfältigen Ressourcenverbrauchs, der Emissionen und Immissionen ist kaum möglich, und auch ergänzende Schätzungen liefern nur ein lückenhaftes Bild. Zudem muss nach der Erfassung eine monetäre Umrechnung erfolgen, die sehr stark von den gewählten Bewertungsmaßstäben abhängt.14 Der Unsicherheitsbereich für die Schätzung des BIP würde durch die Einbeziehung von Schätzungen der genannten Tatbestände unverhältnismäßig erhöht. 15 Das BIP ist ein relativ einfaches und verlässliches Maß für das Wachstum. Ein mehrdimensionales Indikatorensystem wäre mit erheblichem zusätzlichen Aufwand verbunden. Aus diesem Grund wurde die Umsetzung auch bis heute nicht realisiert. Somit bleibt die wichtigste Grundlage zur Beurteilung des wirtschaftlichen Entwicklungsstandes das Standardsystem der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Es wurde in den 50er Jahren gemeinsam von dem Statistischen Amt der Vereinten Nationen (UN) und der OECD entwickelt. Die meisten Länder der Erde führen jährlich eine entsprechende Gesamtrechnung durch, wobei u.a. BIP, Produktionswerte, Bruttowertschöpfung und Erwerbstätige ausgewiesen werden. Die Berechnung dieser Kenngrößen wird detailliert in Abschnitt 3.2 erläutert. Um einen räumlich vergleichbaren Indikator zu erhalten, sollte der absolute Wert z.B. des BIP noch in Relation zur Größe eines Landes gesetzt werden.16 Die übliche Bezugsgröße ist dabei die Einwohnerzahl. Das BIP geteilt durch die Einwohnerzahl – als Pro-Kopf-BIP bezeichnet – stellt den wichtigsten ökonomischen Indikator von Ländern dar. Pro-Kopf-BIP bzw. Pro-Kopf-Einkommen dokumentieren allerdings nur die durchschnittliche Leistung aller Wirtschaftsbereiche einer Volkswirtschaft.17 Zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines bestimmten Wirtschaftsbereichs wird die Bruttowertschöpfung dieses Bereichs verwendet, während für die Beschäftigungsentwicklung die Erwerbstätigenzahlen herangezogen werden. Neben der absoluten Höhe dieser Indikatoren, die den wirtschaftlichen Entwicklungsstand bzw. die Beschäftigungssituation zu einem Beobachtungszeitpunkt dokumentieren, finden zur Analyse von Entwicklungsprozessen üblicherweise die durchschnittlichen Wachstumsraten über einen längeren

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Vgl. SVR Gesundheit 1996, 1997. Vgl. Kulke, 2004, S. 181. Vgl. Oppenländer, 1988, S. 173. Vgl. Barthelt/Glückler, 2002, S. 85. Vgl. Kulke, 2004, S. 168.

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2 Wachstum in der Gesundheitswirtschaft

Zeitraum Verwendung.18 Darüber hinaus können in diesem Zusammenhang auch die Wertschöpfungs- und die Erwerbstätigenquote als Indikatoren herangezogen werden; sie beschreiben den Beitrag eines Wirtschaftssektors bzw. einer Branche zum BIP bzw. zur gesamtwirtschaftlichen Beschäftigung.19

2.2 Begriffsdefinition „Gesundheitswirtschaft“ Die Begriffe „Gesundheitsbranche“ und „Gesundheitswirtschaft“ können synonym verwendet werden. Gesundheitswirtschaft ist der Oberbegriff für alle Wirtschaftszweige, die mit Gesundheit zu tun haben, wobei die Bedeutung weit gefasst wird. Bei der 1. Nationalen Branchenkonferenz Gesundheitswirtschaft wurde 2005 als Definition festgelegt: „Gesundheitswirtschaft umfasst die Erstellung und Vermarktung von Waren und Dienstleistungen, die der Bewahrung und Wiederherstellung von Gesundheit dienen.“20 Nach Schwartz und Busse fasst die Gesundheitswirtschaft im weiteren Sinne Waren und Dienstleistungen im Sinne der Vorbeugung, Gesundwerdung und Gesunderhaltung unter Einbeziehung unterschiedlicher Branchen zusammen.21 Bereits diese beiden Definitionen verdeutlichen, dass eine trennscharfe Abgrenzung der Branche Gesundheitswirtschaft schwierig ist. Sie ist eng verbunden mit der Definition des Gesundheitsbegriffs. Die OECD definiert den Gesundheitsbegriff in ihrem „System of Health Accounts“ als „Aktivitäten oder Güter, die von Einrichtungen oder Individuen durchgeführt oder bereitgestellt werden, und die dabei medizinisches, hilfsmedizinisches oder pflegerisches Wissen oder die dafür erforderlichen Technologien verwenden.“ 22 Voraussetzung ist, dass sie dabei eines der folgenden Ziele verfolgen: Gesundheit fördern und Krankheit verhindern Krankheiten heilen und vorzeitige Mortalität reduzieren Personen versorgen, die chronische Krankheiten haben und pflegerische Hilfe benötigen Personen versorgen, die gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Behinderungen haben und pflegerische Hilfe benötigen Patienten einen würdevollen Tod ermöglichen Öffentlichen Gesundheitsschutz oder öffentliche Gesundheitsprogramme für die Bevölkerung bereitstellen und verwalten Zugang zu Versicherungssystemen (gesetzlich oder privat organisiert) schaffen, welche die Bevölkerung vor den finanziellen Folgen von Krankheit schützen; der Aufbau solcher Systeme, deren Verwaltung und Kontrolle sind Teil der Gesundheitsleistungen 18 19 20 21 22

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Vgl. Kulke, 2004, S. 171. Vgl. Kulke, 2004, S. 173. Die 1. Nationale Branchenkonferenz Gesundheitswirtschaft fand am 7. und 8. Dezember 2005 in Rostock statt. Vgl. Schwartz/Busse, 1998. OECD, 2000, S. 42.


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2.2 Begriffsdefinition „Gesundheitswirtschaft“

Nach dieser Definition zählen in Deutschland Leistungen und Güter mit dem Ziel der Prävention, Behandlung, Rehabilitation und Pflege, sowie Investitionen der Einrichtungen des Gesundheitswesens zur Gesundheitswirtschaft. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat eine etwas weiter gefasste Abgrenzung für Gesundheit. Nach dieser Definition ist unter Gesundheit „der Zustand des vollständigen körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefindens und nicht alleine die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen“23 zu verstehen. Entsprechend dieser Definition könnte die Gesundheitswirtschaft z.B. auch Functional Food oder Wellness umfassen. Bis vor einigen Jahren wurden dem Gesundheitsbereich lediglich das Gesundheitswesen und dessen Einrichtungen zugerechnet. Das Gesundheitswesen umfasst die stationäre und ambulante Gesundheitsversorgung sowie den Pflegebereich.24 Jedoch werden bei der ausschließlichen Betrachtung des Gesundheitswesens wichtige Bereiche, die ebenfalls Waren und Dienstleistungen herstellen, die der Bewahrung und Wiederherstellung von Gesundheit dienen, nicht berücksichtigt. Das Gesundheitswesen ist somit nur ein Teilbereich der Gesundheitswirtschaft. Diesen Sachverhalt verdeutlicht auch das Schichtenmodell der Gesundheitswirtschaft, vgl. Abbildung 2-1.

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Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Hilbert et al., 2002.

Abbildung 2-1: Schichtenmodell der Gesundheitswirtschaft 23 WHO, 2006. 24 Vgl. Ostwald/Ranscht, 2007a.

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2 Wachstum in der Gesundheitswirtschaft

Im Kern des Modells befindet sich das Gesundheits- und Sozialwesen mit den dazugehörigen Wirtschaftszweigen. Die einzelnen Teilbereiche, die über den Kernbereich hinausgehen, sind durch konzentrische Schichten dargestellt. Dabei verdeutlichen die Schichten die Position der Einrichtungen bzw. der Unternehmen in der Wertschöpfungskette und dadurch auch in gewisser Weise die Distanz zur primären Behandlung von Krankheiten. Die folgenden Schichten umlagern den Kernbereich der Gesundheitswirtschaft: 1. Schicht: Handel 2. Schicht: Verarbeitendes Gewerbe 3. Schicht: Weitere Einrichtungen 4. Schicht: Randbereiche mit ausgeprägten gesundheitlichen Bezügen Das Gesundheits- und Sozialwesen enthält die beschäftigungsintensivsten Wirtschaftszweige der Gesundheitswirtschaft. Es umfasst Leistungen, die direkt am Patienten ansetzen. Es schließt die stationäre und ambulante Gesundheitsversorgung sowie den Pflegebereich, wie z.B. Krankenhäuser, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, Pflegeeinrichtungen sowie niedergelassene Ärzte und Zahnärzte, mit ein. Die erste Schicht um den Kern beinhaltet den Bereich des Handels. Sie umfasst den Groß- und Einzelhandel mit pharmazeutischen, medizinischen und orthopädischen Erzeugnissen sowie die Apotheken. Die zweite Schicht, das Verarbeitende Gewerbe, bildet die kapital- und technologieintensive Vorleistungs- und Zuliefererindustrie, wozu neben der Pharmazeutischen Industrie, der Medizintechnik sowie der Bio- und Gentechnologie auch das Gesundheitshandwerk zählt. Die dritte Schicht umfasst die Weiteren Einrichtungen im Gesundheitsbereich. Zu nennen sind hier private und gesetzliche Krankenversicherungen (inkl. Pflegeversicherungen), Teile der Renten- und Unfallversicherung, die öffentliche Verwaltung auf dem Gebiet Gesundheitswesen, Organisationen des Gesundheitswesens sowie Forschung und Entwicklung im Bereich Medizin. Wird die noch weiter gefasste Abgrenzung des Gesundheitsbegriffs der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugrunde gelegt, könnten auch noch Randbereiche und Nachbarbranchen mit ausgeprägten gesundheitlichen Bezügen, wie z.B. Freizeit- und Tourismusbranche, Ernährung oder der Wellnessbereich zur Gesundheitswirtschaft im weitesten Sinne gezählt werden. Diese Bereiche sind in der äußersten Schicht des Modells dargestellt. Die im Folgenden zugrunde gelegte Abgrenzung der Gesundheitswirtschaft orientiert sich am Schichtenmodell und umfasst alle Wirtschaftszweige, die sich maßgeblich mit der Verringerung von Mortalität und Morbidität befassen.25 Entsprechend zählen der Kernbereich sowie die ersten drei Schichten

25 Die gewählte Branchenabgrenzung orientiert sich an der Abgrenzung der Gesundheitspersonal- und -ausgabenrechnung sowie der Definition für Gesundheit der OECD, vgl. Destatis, 2006a, b, 2007a, b; OECD, 2000.

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2.3 Gesundheitswirtschaftliche Einflussgrößen

zur Gesundheitswirtschaft, während der äußere Ring (z.B. Wellnessbereich) nicht der Gesundheitswirtschaft im engeren Sinn zugeordnet wird.26

2.3 Gesundheitswirtschaftliche Einflussgrößen 2.3.1 Wachstumstheoretische Hintergründe Die ersten Ideen zur theoretischen Fundierung des ökonomischen Wachstums entstanden, als dieses mit der industriellen Revolution im späten 18. Jahrhundert spürbar wurde. Die Klassiker, beginnend bei Smith (1776) über Ricardo (1817) bis hin zu Mill (1848) waren davon überzeugt, dass das Wachstum natürliche Grenzen habe. Für diese Schlussfolgerung war das Ertragsgesetz von Turgot (1846) von großer Wichtigkeit, der mit der Annahme abnehmender Grenzerträge von Produktionsfaktoren in der Landwirtschaft auch den Grundstein für das Grundprinzip der abnehmenden Grenzerträge des Kapitals legte.27 Jedoch wurden bereits gegenläufige Tendenzen wie der technischen Fortschritt erkannt, dem allerdings keine dauerhaft überlegene Bedeutung beigemessen wurde.28 Im 19. Jahrhundert entwickelte sich in Deutschland die Historische Schule, deren Vertreter die Entwicklung einer Volkswirtschaft an bestimmten Stufen festmachten. Als Ursache für den Übergang von einer zur anderen Stufe wurden Strukturveränderungen und der damit verbundene institutionelle Wandel identifiziert.29 Die Theorie der Wirtschaftsstufen beschreibt die langfristige Entwicklung der Wirtschaft unter Berücksichtigung der Interdependenz ökonomischer, demografischer, sozialer und politischer Einflussgrößen. Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen die Aufeinanderfolge von Wirtschaftsstufen in Richtung auf eine evolutionäre Höherentwicklung. Die Gliederung dieses Entwicklungsprozesses in einzelnen Stufen erfolgt durch eine Kombination zeitlicher, sachlicher und räumlicher Kriterien. Es lassen sich zwei Entwicklungstendenzen identifizieren, die einen sich wandelnden Erkenntnisstand der Wissenschaft reflektieren. Erstens die Erkenntnis, dass der Übergang von einer Wirtschaftsstufe zu einer anderen vom Menschen entscheidend beeinflusst wird, und zweitens die Einsicht, dass nicht alle Regionen zwangsläufig den gleichen Entwicklungspfad durchlaufen, sondern

26 Zur detaillierten Darstellung der Gesundheitswirtschaft und der dazugehörigen Wirtschaftszweige vgl. Ostwald/ Ranscht, 2007a, b. 27 Vgl. Maußner/Klump, 1996, S. 13–18. 28 Vgl. Arnold, 1997, S. 3–7. 29 Als Begründer der Theorie der Wirtschaftsstufen sind die Vertreter der Deutschen Historischen Schule der Nationalökonomie anzusehen. Sie suchten nach Entwicklungsgesetzen, die eine chronologische Aufeinanderfolge von Wirtschaftsstufen bewirken (z.B. Wilhelm Roscher (1849), Karl Knies (1853), Friedrich List (1841), Bruno Hildebrandt (1848)). Die Vertreter der jüngeren Historischen Schule, deren wichtigste Vertreter Gustav Schmoller (1884) und Karl Bücher (1893) sind, vollzogen eine Wandlung vom chronologischen zum typologischen Stufenbegriff vgl. Frenkel/Hemmer, 1999, S. 8, 9.

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