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DIE DFG FORSCHERGRUPPE FOR 655

DI E DFG FOR SCH E RG RU PPE FOR 655: PR IOR I S I E RU NG I N DE R M E DI Z I N: E I N E TH EOR ETI SCH E U N D E M PI R I SCH E ANALYS E U NTE R B E SON DE R E R B E RÜCKS ICHTIG U NG DE R G E S ETZ LICH E N KRAN KE NVE R S ICH E RU NG WALTE R A. WOH LG E M UTH, KATH R I N ALB E R, B I RG ITTA BAYE R L, M ICHAE L H. FR E ITAG

Dieser einführende Beitrag zum gemeinsamen Sammelband der DFG-Forschergruppe FOR 655 beschäftigt sich mit den thematischen Grundlagen der Priorisierung in der Medizin und stellt die Forschergruppe FOR 655, ihre Aktivitäten und Ziele dar. Die Forschergruppe FOR 655 „Priorisierung in der Medizin: Eine theoretische und empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)“ ist das erste Forschungsprojekt zum Thema „Priorisierung in der Medizin“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird. Ziel der Forschergruppe ist, durch multidisziplinäre theoretische und empirische Untersuchungen anfallende Fragen der Priorisierung in der Medizin in Deutschland systematisch zu beantworten Darüber hinaus werden Priorisierungsmodalitäten anderer Länder wie beispielsweise Schweden in die Analyse mit einbezogen. Die Aktualität dieses Themas spiegelt sich auch in der zunehmenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung, wie z.B. den Stellungnahmen der Zentralen Ethikkommission im Jahr 2000 und 2007 bei der Bundesärztekammer zur Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) 1, wider. Nach einem Überblick über den Status quo im deutschen Gesundheitswesen mit Fokus auf die Finanzierungskrise der GKV wird die Priorisierung als eine mögliche Lösungsstrategie vorgestellt, um dem ständig steigenden Kostendruck im Gesundheitswesen zu begegnen. Im zweiten Abschnitt werden die organisatorischen und inhaltlichen Strukturen sowie die Ziele der FOR 655 aufgezeigt. Der vorliegende Sammelband entstand im Kontext der ersten Tagung der Forschergruppe im November 2007 und spiegelt den bis dato erreichten Forschungsund Arbeitsstand wider.2 1. PR IOR I S I E RU NG I N DE R M E DI Z I N

In der Diskussion um die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens in Deutschland unter den Bedingungen knapper Ressourcen kommt den Konzepten der Rationalisierung, Priorisierung und Rationierung eine immer sichtbarere Rolle zu. Mit Rationalisierung werden Maßnahmen 1 2

Vgl. Zentrale Ethikkommission (2007), S. 1-32, Zentrale Ethikkommission (2000), S. A1017-A1023. Aus Gründen der vereinfachten Lesbarkeit wird in dieser Veröffentlichung die männliche Schreibweise verwendet. Die weibliche Form ist ausdrücklich und in jedem Fall eingeschlossen.

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PRIORISIERUNG IN DER MEDIZIN

der Effizienzsteigerung verbunden, die durch systemverändernde Maßnahmen (von der Makrobis zur Mikroebene) den notwendigen Mitteleinsatz für eine gegebene Leistung zu verringern helfen. Rationierung hat die (vorübergehende oder dauerhafte) Vorenthaltung medizinisch notwendiger oder zumindest nützlicher Leistungen unter Knappheitsaspekten zur Folge.3 Rationierenden Verfahren sollten idealerweise Instrumente der Priorisierung vorangestellt sein, anhand derer die relative Gewichtung konkurrierender Mittelverwendungen, z. B. in Form einer Rangfolge bzw. Prioritätenliste, abbildbar ist.4 Um einen breiten, in der gesamten Gesellschaft verankerten Konsens über Kriterien einer Priorisierung von medizinischen Leistungen zu erzielen, ist es notwendig, normative und empirische Grundlagen für diesen Diskussionsprozess zu erarbeiten. Bislang wurden Fragen nach Prioritäten medizinischer Versorgung in der GKV weitgehend einzelfallbezogen oder eher faktisch, je nach politischer Dringlichkeit, entschieden: Auf der Mikroebene wird das Behandlungs- und Verordnungsverhalten des niedergelassenen Arztes von Budgetrestriktionen beschränkt, auf der Mesoebene entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) über die Erstattungsfähigkeit einzelner Therapien ohne wirklichen kontextübergreifenden Bezug. Auf der Makroebene konkurriert die Gesundheitspolitik mit anderen politischen Ressorts.5 Vielfältige bisherige Gesundheitsreformen zielten auf Kostensenkungsprogamme und Beitragssatzstabilität ab, ohne in gleichem Maße die Leistungsgewährung hinsichtlich einer Prioritätensetzung zu fokussieren.6 Es fehlte und fehlt an klaren Konzepten sowie etablierten Verfahren der Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung, um solche wichtigen Entscheidungen einer Priorisierung und Posteriorisierung innerhalb des deutschen Gesundheitswesens überhaupt systematisch vorbereiten zu können. KOSTE N DRUCK I M G E SU N DH E ITSWE S E N

In den steigenden Kosten wird der wesentliche Grund für die Reformbedürftigkeit des Gesundheitssystems gesehen. Es zeichnet sich ab, dass die verschiedenen bisherigen Reformversuche der GKV keine langfristige finanzielle Entlastung bieten.7 Die Nachfrage nach medizinischen Leistungen wird weiter steigen, und somit auch die Ausgaben der GKV. Für einen steigenden Bedarf an Gesundheitsleistungen ist unter anderem der demographische Wandel 8 verantwortlich. Durch die immer älter werdende Bevölkerung sind immer mehr Menschen von chronisch-degenerativen und vaskulären Erkrankungen betroffen9, bei denen keine Heilung im Sinne einer Restitutio ad integrum möglich ist, sondern nur ein Linderung oder Verzögerung der Beschwerden. Der mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung 3 4 5 6 7 8 9

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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Zentrale Ethikkommission (2007), S. 3. Zentrale Ethikkommission (2007), S. 2-3, Gosepath, S. (2006), S. 29-30. Preusker, U. (2007), S. A930, Gosepath, S. (2006), S. 31-33. Schöne-Seifert, B./Buyx, A./Ach, J. (2006), S. 7-13. Zentrale Ethikkommission (2007), S. 1. Statistisches Bundesamt (2006), S. 1-66. Eckmanns, T. (2006), S. 1187.


DIE DFG-FORSCHERGRUPPE FOR 655

parallel einhergehende Geburtenrückgang verringert die Finanzierungsbasis der GKV weiter. Der an sich begrüßenswerte medizinisch-technische Fortschritt wird oft nur noch als Kostentreiber gesehen10, denn durch neue Technologien werden Krankheiten erst behandelbar. Sind die Menschen früher an ihren Krankheiten gestorben, leben sie nun länger mit ihnen.11 Damit wächst auch die Kluft zwischen dem medizinisch Machbaren und dem, was sich eine Gesellschaft finanziell leisten kann. 12 Auch die Medikalisierung gesellschaftlicher Probleme (soziale Probleme, die nicht in die gesellschaftlichen Vorstellungen von individueller Leistungs- und Genussfähigkeit passen, wie zum Beispiel Über- und Unterforderungssyndrome an vielen Arbeitsplätzen sowie psychosomatischen Folgeerkrankungen nach Mobbing) verteuert das Gesundheitssystem. 13 1.2 LÖSU NG SSTRATEG I E N

Dem Problem der Knappheit von Ressourcen kann auf mehreren Wegen begegnet werden: Zunächst könnte man versuchen, die finanziellen Mittel im Gesundheitswesen zu erhöhen. Eine Steigerung der Einnahmen der GKV durch Erhöhung der paritätisch finanzierten Beiträge ist jedoch sowohl gesellschaftlich als auch politisch unerwünscht 14, bedeutet eine Beitragssatzerhöhung doch ein Ansteigen der Lohnnebenkosten und damit eine Verteuerung der menschlichen Arbeitskraft. Eine Alternative stellt die Verbreiterung der Beitragsbemessungsgrundlage auf andere Einkünfte dar. 15 Grundsätzlich sind einer Verbreiterung der Finanzierungsbasis im Gesundheitswesen aber Grenzen gesetzt, da auf kollektiver Ebene vielfältige (staats)politische Aufgabengebiete um diese Mittel konkurrieren und auch der Bürger einer individuellen Schwelle für seine Gesundheitsausgaben unterliegt. 16 Als zweite Lösungsstrategie werden häufig die möglicherweise immer noch vorhandenen Rationalisierungspotentiale im deutschen Gesundheitswesen bemüht, wenn diskutiert wird, wo und wie Kosten eingespart werden können. Schöpft man Wirtschaftlichkeitsreserven durch einen effizienteren Mitteleinsatz aus, kann durch diese Maßnahmen Ressourcenknappheit reduziert, jedoch nicht behoben werden.17 Folglich ist man gezwungen, sich mit der Verteilung der knappen Güter vor dem Hintergrund von Rationierung und Priorisierung auseinanderzusetzen. Rationierungskonzepte unterliegen in der Literatur definitorischen Unterschieden. Rationierung wird z.B. als „die Verteilung knapper Grundgüter nach rationalen und transparenten Kriterien“18 oder auch als „das (vorüber10 11 12 13 14 15 16 17 18

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Jachertz, N./Rieser, S. (2007), S. A22. Bauch, J. (2000), S. 35. Jachertz, N./Rieser, S. (2007), S. A22. Badura, B./Feuerstein, G. (2001), S. 377. Gosepath, S. (2006), S. 29. Wohlgemuth, W./Mayer, J./Nagel, E. (2004), S. 17-18. Gosepath, S. (2006), S. 29. Zentrale Ethikkommission (2007), S. 20-21. Rosenberger, M. (2006), S. A764.

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PRIORISIERUNG IN DER MEDIZIN

gehende oder dauerhafte) Vorenthalten medizinisch notwendiger oder wenigstens nützlicher Leistungen aus Knappheitsgründen“ 19 verstanden. Eine explizite Rationierung fand bisher in Deutschland nicht statt, eine implizite Rationierung auf der Mikroebene in Form von Budgets durchaus.20 Sofern eine Rationierung unumgänglich wird, sollte zunächst ein systematischer Prozess der Priorisierung bzw. Prioritätensetzung vorausgehen. Umgekehrt führen Maßnahmen der Priorisierung aber nicht zwangsläufig zur Rationierung von Leistungen. 21 Statt einer impliziten, verdeckten Rationierung wird in der wissenschaftlichen Literatur eine offene, transparente Diskussion über Priorisierung angeregt.22 Unter Priorisierung versteht die Zentrale Ethikkommission „die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Indikationen, Patientengruppen oder Verfahren vor anderen.“ 23 Dabei entsteht eine mehrstufige Rangreihe, in der nicht nur Methoden, sondern auch Krankheitsfälle, Kranken- und Krankheitsgruppen, Versorgungsziele und vor allem Indikationen (d.h. Verknüpfungen bestimmter gesundheitlicher Probleme mit zu ihrer Lösung geeigneten Leistungen) in einer Rangfolge angeordnet werden können. An oberster Stelle der Rangreihe befinden sich die Elemente, die nach wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Perspektive als unverzichtbar und wichtig beurteilt werden, an letzter Stelle befinden sich die Elemente, die als wirkungslos eingestuft werden. Dabei lassen sich vertikale und horizontale Priorisierung unterscheiden. Vertikale Priorisierung meint Priorisierung innerhalb eines definierten Versorgungsbereichs (z.B. Herzkrankheiten und ihre Versorgung), horizontale Priorisierung meint die Priorisierung unterschiedlicher Krankheits- und Krankengruppen bzw. Versorgungsziele. 24 Tabelle 1 zeigt im Überblick Definitionen der Möglichkeiten zum Umgang mit dem Problem der Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen: TAB E LLE 1: DE FI N ITION E N RATIONALI S I E RU NG

Durch Rationalisierung soll eine bessere Wirkung mit den gleichen Mitteln oder die gleiche medizinische Wirkung mit weniger Mitteln erzielt werden. Rationalisierung stellt eine der Optionen dar, den zunehmenden Finanzierungsengpässen im Gesundheitswesen, z.B. durch die Steigerung der Effizienz von medizinischen Prozessen oder durch Einsparungen von Verwaltungskosten zu begegnen. […] PR IOR I S I E RU NG

Unter Priorisierung oder Prioritätensetzung versteht man die relative Gewichtung konkurrierender Mittelverwendungen, die sich z.B. in Form einer Liste darstellen lässt. Die zur Verfügung stehenden Mittel werden dann zunächst der ersten Verwendungsoption auf der Liste

19 20 21 22 23 24

4

Vgl. Zentrale Ethikkommission (2007), S. 3. Vgl. Jachertz, N./Rieser, S. (2007), S. A23. Vgl. Zentrale Ethikkommission (2007), S. 3. Vgl. Preusker, U. (2007), S. A930-A936, Zentrale Ethikkommission (2000), S. A1017-1023. Zentrale Ethikkommission (2000), S. 1017. Vgl. Zentrale Ethikkommission (2007a), S. 3.


D D II EE D D FF G G- F O R S C H E R G R U P P E F O R 6 5 5

zugeführt, dann der zweiten usw. Priorisierung stellt die notwendige Voraussetzung jeder sinnvollen Rationierung dar: Wer Mittel einer sinnvollen medizinischen Verwendung vorenthält, sollte wissen, wo er sie aus welchem Grund besser einsetzen kann. RATION I E RU NG

Als Rationierung bezeichnet man die Einschränkung des Zugangs zu medizinisch nützlichen Maßnahmen, die einen positiven Effekt auf die Lebensqualität bzw. Lebenserwartung von Patienten haben. Von impliziter Rationierung ist die Rede, wenn die Leistungseinschränkung nicht als solche thematisiert wird. […] Explizit ist die Rationierung dann, wenn die Leistungseinschränkung als solche [… ] auch klar benannt wird. Q U E L L E : N AT I O N A L E R E T H I K R AT ( 2 0 0 6 ) , S . 4 - 5 .

2. DI E DFG-FOR SCH E RG RU PPE FOR 655

Die Forschergruppe FOR 655 ist das erste Forschungsprojekt zum Thema „Priorisierung in der Medizin“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über die zentralen Forschungsfragen und Ziele der Forschergruppe sowie über ihre interne Struktur. 2.1 FOR SCH U NG S FRAG E U N D Z I E LE

Ziel der interdisziplinären DFG-Forschergruppe FOR 655: „Priorisierung in der Medizin: Eine theoretische und empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)“ ist es, Fragen der Priorisierung in der Medizin systematisch durch disziplinübergreifende, theoretische und empirische Untersuchungen zu beantworten und so Grundlagen für eine mögliche explizite Priorisierung zu schaffen. Von zentraler Bedeutung dabei ist, nach welchen Kriterien die Priorisierung medizinischer Leistungen erfolgen soll und wie diese Kriterien in Deutschland gewichtet werden sollen. Die wesentliche Innovation gegenüber bisherigen Projekten zur Priorisierung in der Medizin bildet dabei nicht nur die enge Verzahnung von theoretisch-abstrakten und empirisch-konkreten Überlegungen verschiedener Disziplinen, sondern der systematische Fokus auf Präferenzen und Interessen von gesunden Personen, akut oder chronisch Erkrankten sowie deren Angehörigen, von Medizinern und Pflegepersonal sowie Kostenträgern und Politikern. Die heterogenen Perspektiven sind unabdingbar, um zu einer gesellschaftlich belastbaren, demokratisch akzeptierten Priorisierungsordnung auf Basis von rationalen, transparenten und expliziten Kriterien zu gelangen, die das System der solidarisch finanzierten GKV zukunftsfähig gestalten. In diesem Kontext gilt es, verschiedene Perspektiven der Priorisierung in der Medizin einzunehmen, wie z.B. die Priorisierung einzelner Patienten im Hinblick auf eine Behandlungsmethode (welcher Patient auf der Warteliste hat die höchste Priorität bezogen auf ein aktuell zur Verfügung stehendes Spenderorgan?) oder die Priorisierung der Behandlungsmethoden und ihrer Intensität bei gegebenem Krankheitsbild (sollen Patienten mit der Claudicatio intermittens eine Bypassoperation erhalten, die lediglich ihre schmerzfreie Gehstrecke verlängert?). Neben diesen Aspekten vertikaler Priorisierung müssen auch horizontale Gesichtspunkte betrachtet 5


PRIORISIERUNG IN DER MEDIZIN

werden. Welche Krankheitsbilder haben eine höhere Priorität als andere? Wie sollen überhaupt Diagnose-Therapie-Paare krankheitsübergreifend miteinander verglichen und nach Priorität geordnet werden? Welche spezifischen Kriterien sollen bei der Entwicklung eines Prioritätenkonzepts überhaupt angewendet werden? Sollte es beispielsweise eine Altersbeschränkung für Hüftgelenke geben? Haben Kinder grundsätzlich Vorrang? Strittig ist auch die Priorisierung von Zielen in der Medizin. Sollte Prävention allgemein hinter der Versorgung bereits Kranker zurückstehen? Stellen Wellness und persönliche Lebensgestaltung bzw. Lebensqualität keine Behandlungsziele per se dar? Wie kann eine Priorisierung von fundamentalen gegenüber marginalen therapeutischen Verbesserungen und von grundlegend nützlichen gegenüber grenzwertigen, nur marginal nützlichen Therapien konkret ausgestaltet werden? Wie können diese Fragestellungen ethisch, juristisch und ökonomisch begleitet und umgesetzt werden? 25 Um der Komplexität dieser Fragestellungen gerecht zu werden, haben sich in der DFG-geförderten Forschergruppe FOR 655 Ärzte, Psychologen, Ökonomen, Juristen, Philosophen, Soziologen, Ethiker und Gesundheitswissenschaftler zwölf verschiedener deutscher Universitäten und einer assoziierten Forschungseinrichtung zu einer interdisziplinären Forschergruppe zusammengeschlossen. Die DFG-Forschergruppe FOR 655 nahm zum 1. Mai 2007 für zunächst drei Jahre ihre Arbeit auf. Geplant ist danach eine Verlängerung der Laufzeit um weitere drei Jahre. 2.2 DI E TE I LPROJ E KTE DE R FOR 655

In den empirisch angelegten Teilprojekten (A und B) werden die Präferenzen von unterschiedlichen Interessensgruppen mit Ansprüchen und Erwartungen an das Gesundheitswesen, so genannter Stakeholdergruppen26 ermittelt. Je nach Teilprojekt werden hierzu Repräsentanten der folgenden Stakeholdergruppen befragt: gesunde Personen, akut oder chronisch Erkrankte sowie deren Angehörige, Ärzte, Pflegepersonal, Kostenträger und Politiker. Der Fokus liegt je nach Teilprojekt dabei auf der Erhebung der Präferenzen der jeweiligen Stakeholdergruppe hinsichtlich der Leistungsgewährung, beispielsweise mit Fokus auf die Krankheitsbilder Hämophilie A und periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) sowie bei der Organallokation bei Patienten mit Herz-, Leber- oder Nierenversagen. In einer ersten explorativen Phase findet die Durchführung qualitativer Interviews statt. Auf Basis der qualitativen Inhaltsanalyse und den daraus gewonnenen Erkenntnissen wird darauf folgend die Präferenzermittlung und -analyse mittels der Methode der Conjoint-Analyse (CA)27 konzipiert, die in der Marktforschung zur Ermittlung von Kundenpräferenzen etabliert ist. Parallel dazu untersuchen die theoretisch angelegten Teilprojekte (C) die Grundlagen der Priorisierung aus philosophischer, juristischer und ökonomischer Perspektive, insbesondere im Hinblick auf Aspekte wie Gerechtigkeit, Knappheit, Effizienz und Verfassungskonformität. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Teilprojekte der DFG-Forschergruppe FOR 655. 25 26 27

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Vgl. Diederich, A./Kliemt, H./Nagel, E. (2006), S. 8. Vgl. Thommen, J.-P./Achleitner, A.-K. (1999), S. 46. Vgl. Gustafsson, A./Herrmann, A./Huber, F. (2001), S. 5-46, Diederich, A. (2001), S. 245-262, Luce, R./Tukey, J. (1964), S. 1-27.


DIE DFG-FORSCHERGRUPPE FOR 655

TAB. 2: TE I LPROJ E KTE DE R DFG-FOR SCH E RG RU PPE FOR 655 Projekt

Titel

A A1

Empirische Untersuchungen zur Priorisierung Kriterien und Präferenzen in der Priorisierung medizinischer Leistungen: Eine empirische Untersuchung

B B1

Fragen zur Knappheit und Priorisierung zu spezifischen Krankheitsbildern Gerechtigkeit und Effizienz von Prioritätsänderungen – „Kontinuierliche“ und „diskontinuierliche“ Änderung formalisierter Prioritätsregeln in der Nierenallokation, deren Verbesserung und verallgemeinerbare Bedeutung Priorisierung bei einer chronischen Erkrankung mit Gelenkbeteiligung (Hämophilie A) Kriterien und Betroffenenpräferenzen bei der Organallokation am Beispiel der Herz-, Nieren- und Lebertransplantation: Eine empirische Untersuchung mit Hilfe der Conjoint-Analyse Das schwedische Modell der Priorisierung medizinischer Leistungen: theoretische Rekonstruktion, europäischer Vergleich und Prüfung seiner Übertragbarkeit Evidenzbasierte Medizin und gesundheitsbezogene Lebensqualität als potentielle Priorisierungskriterien am Beispiel der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit

B2 B3

B4 B5

C C1 C2 C3 C4

C5

Theoretische Grundlagen der Priorisierung aus philosophischer, juristischer und ökonomischer Perspektive Rechtliche Vorgaben und Grenzen für eine Priorisierung in der öffentlichen Gesundheitsversorgung Gleichheit, Effizienz und Humanität in der Allokationsethik Minimale Wirksamkeit einer Behandlung als Ausschlusskriterium für deren Leistung innerhalb der solidarisch finanzierten Krankenversorgung? Prioritäten, Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Effizienz bei der Allokation von teilbaren medizinischen Ressourcen für Patienten unterschiedlicher Bedarfsintensitäten Anonymitätsgrade der Betroffenen in der Priorisierung

2.3 ORGAN IG RAM M FOR 655

In diesem Abschnitt wird der organisatorische Aufbau der Forschergruppe dargestellt. Sprecherin der Forschergruppe ist Frau Prof. Dr. Adele Diederich; stellvertretende Sprecher sind Herr Prof. Dr. Hartmut Kliemt und Herr Prof. Dr. Dr. Eckhard Nagel. In der Summe gibt es 17 Antragssteller und 19 wissenschaftliche Mitarbeiter (Stand September 2008). Zur Erweiterung der wissenschaftlichen Diskussion um den Aspekt der Praxis in der Reflexion der Forschergruppenarbeit wurde darüber hinaus ein Praxisbeirat der FOR 655 ins Leben gerufen. 7


PRIORISIERUNG IN DER MEDIZIN

S PR ECH E RG R E M I U M

Prof. Dr. Adele Diederich Jacobs University Bremen Sprecherin der FOR 655

Prof. Dr. Hartmut Kliemt Prof. Dr. Dr. Eckhard Nagel Frankfurt School Universität Bayreuth of Finance & Management Stellv. Sprecher der FOR 655 Stellv. Sprecher der FOR 655

ANTRAG STE LLE R Antragsteller

Institution

Projekt

Prof. Dr. Dr. Marlies Ahlert Prof. Dr. Gerhard Dannecker Prof. Dr. Adele Diederich Dr. Andrea Dörries

Martin-Luther-Universität Halle Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Jacobs University Bremen Zentrum für Gesundheitsethik Hannover

Prof. Dr. Stefan Felder Dr. Michael Freitag Prof. Dr. Arnold Ganser

Otto-von-Guericke Universität Magdeburg Universität Bayreuth Medizinische Hochschule Hannover

B1/C4 C1 A B2 (assoziiert) C4/C5 B3/B5 B2 (assoziiert) C1 C1 B1 A1 C2 B3

Prof. Dr. Stefan Huster Prof. Dr. Christian Katzenmeier Prof. Dr. Hartmut Kliemt Prof. Dr. Petra Lietz Prof. Dr. Weyma Lübbe Prof. Dr. Dr. Eckhard Nagel Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe

Ruhr-Universität Bochum Universität zu Köln Frankfurt School of Finance and Management Jacobs University Bremen Universität Leipzig Universität Bayreuth Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert Westfälische Wilhelms-Universität Münster Prof. Dr. Margrit Schreier Jacobs University Bremen Priv.-Doz. Dr. Dr. habil. Walter Wohlgemuth Universität Bayreuth/Klinikum Augsburg

B4 C3 A B5

M ITAR B E ITE R (STAN D S E PTE M B E R 2008) Mitarbeiter

Institution

Kathrin Alber Birgitta Bayerl André Bohmeier Dr. Alena Buyx Dr. Roswith Eisert

Universität Bayreuth Universität Bayreuth Ruhr-Universität Bochum Westfälische Wilhelms-Universität Münster Medizinische Hochschule Hannover

Daniel Friedrich Antje Köckeritz

Westfälische Wilhelms-Universität Münster Martin-Luther Universität HalleC4

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PROJ E KT B3 B5 C1 C3 B2 (assoziiert) C3


DIE DFG-FORSCHERGRUPPE FOR 655

Miriam Krieger Dr. Thorsten Meyer Dr. Anja Olbrich Andreas Penner Björn Schmitz-Luhn Dr. Maike Schnoor Lars Schwettmann Anne Streng Dr. Cornelia Wermes

Otto-von-Guericke Universität Magdeburg Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Otto-von-Guericke Universität Magdeburg Ruhr-Universität Bochum Universität zu Köln Jacobs University Bremen Martin-Luther Universität Halle Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Medizinische Hochschule Hannover

Susanne Winkel Jeannette Winkelhage Jana Zimmermann

Jacobs University Bremen Jacobs University Bremen Martin-Luther-Universität Halle

C4 B4 C4 C1 C1 A1 C4 C1 B2 (assoziiert) A1 A1 C4

M ITG LI E DE R DE S PRAXI S B E I RATS DE R DFG-FOR SCH E RG RU PPE FOR 655 Mitglieder

Institution/ Unternehmen

Prof. Dr. Klaus Bohndorf

Geschäftsführender Direktor der Klinik für Diagnostische Radiologie und Neurologie am Klinikum Augsburg Birgit Fischer Stellvertretende Vorsitzende der Barmer Ersatzkasse Prof. Dr. Christoph Fuchs Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer Prof. Dr. Axel Haverich Ärztlicher Direktorder Klinik für Herz-, Thorax-, Transplantations- und Gefäßchirurgie an der Medizinischen Hochschule Hannover Gunther Klotz Senior Vice President Central Europe der Fresenius Medical Care Deutschland GmbH Prof. Dr. Norbert Klusen Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse Dr. Hagen Pfundner Roche Pharma AG Deutschland Prof. Dr. h. c. Vorstandsvorsitzender der Herbert Rebscher Vorstandsvorsitzender der Deutschen Angestellten-Krankenkasse Prof. Dr. Jörg Schlüchtermann Lehrstuhl für BWL V – Produktionswirtschaft und Industriebetriebslehre Anton J. Schmidt Vorstand der P.E.G. Einkaufs- und Betriebsgenossenschaft eG Dr. Gundula Schneidewind Director of Policy Affairs – Sanofi Pasteur MSD GmbH Dr. Gabriela Soskuty Vice President Government Affairs, Health Policy & Economics B. Braun Melsungen AG Rolf Stuppardt Vorstandsvorsitzender des IKK-Bundesverbandes

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PRIORISIERUNG IN DER MEDIZIN

L I T E R AT U R Badura, B./Feuerstein, G. (2001): Gesundheit und Gesundheitswesen. In: Joas, H. (Hg.): Lehrbuch der Soziologie. Frankfurt / New York: Campus. Bauch, J. (2000): Medizinsoziologie. München und Wien: Oldenbourg. Diederich, A. (2001): A Rational Reconstruction of Expert Judgements in Organ Allocation In: Analyse und Kritik, 23(2), S. 245-262. Diederich, A./Kliemt, H./Nagel, E. (2006): Antrag auf Einrichtung und Förderung der Forschergruppe FOR 655. Priorisierung in der Medizin: Eine theoretische und empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), unveröffentlicht. Eckmanns, T. (2006): Die dritte epidemiologische Transition. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 49(12), S. 1187-1188. Gosepath, S. (2006): Kann das Gut Gesundheit gerecht verteilt werden? In: Nationaler Ethikrat (Hg.): Gesundheit für alle - wie lange noch? Rationierung und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Vorträge der Jahrestagung des Nationalen Ethikrates 2006. Berlin: Nationaler Ethikrat. Jachertz, N./Rieser, S. (2007): Rationierung im Gesundheitswesen. Grenzen für den Fortschritt. In: Deutsches Ärzteblatt, 104(1-2), S. A21-A25. Luce, R./Tukey, J. (1964): Simultaneous conjoint measurement: A new type of fundamental measurement. In: Journal of Mathematical Psychology, 1(1), S. 1-27. Nationaler Ethikrat (2006): Gesundheit für alle - wie lange noch? Infobrief. In: http://www.ethikrat.org/publikationen /pdf/Infobrief_2006-03_Website.pdf [Stand: 15.03.2008]. Oberender, P./Hebborn, A. (1994): Wachstumsmarkt Gesundheit. Therapie des Kosteninfarktes. Frankfurt am Main: Fischer.

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Preusker, U. (2007): Skandinavische Gesundheitssysteme: Priorisierung statt verdeckter Rationierung. In: Deutsches Ärzteblatt, 104(14), S. A930-A936. Rosenberger, M. (2006): Die beste Medizin für alle – um jeden Preis? In: Deutsches Ärzteblatt, 103(12), S. A764A767. Schöne-Seifert, B./Buyx, A./Ach, J. (2006): Einleitung. In: Schöne-Seifert, B./Buyx, A./Ach, J. (Hg.): Gerecht behandelt? Rationierung und Priorisierung im Gesundheitswesen. Paderborn: Mentis, S. 7-13. Statistisches Bundesamt (2006): Bevölkerung Deutschlands bis 2050. 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Thommen, J.-P./Achleitner, A.-K. (1999): Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 2. Auflage. Wiesbaden: Gabler. Wohlgemuth, W./Mayer, J./Nagel, E. (2004): Handbuch zu einer strategischen Gesundheitsstrukturreform in Deutschland. Bayreuth: Verlag PCO. Zentrale Ethikkommission (2000): Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Müssen und können wir uns entscheiden? Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) In: Deutsches Ärzteblatt, 97(15), S. A1017-A1023. Zentrale Ethikkommission (2007): Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer (Langfassung). In: http ://www.zentrale-ethikkommission .de/downloads/LangfassungPriorisierung.pdf [Stand: 15.01.2008].


DIE DFG-FORSCHERGRUPPE FOR 655

KR ITE R I E N U N D PRÄFE R E N Z E N I N DE R PR IOR I S I E RU NG M E DI Z I N I SCH E R LE I STU NG E N: E NTWICKLU NG VON STICH PROB E N PLÄN E N U N D I NTE RVI EWLE ITFÄDE N Z U R VOR B E R E ITU NG E I N E R M E I N U NG SU M FRAG E B E I B ETROFFE N E N ADE LE DI E DE R ICH, MARG R IT SCH R E I E R, J EAN N ETTE WI N KE LHAG E, S I MON E H E I L, PETRA LI ETZ, FE LIX SCH M ITZ-J USTE N

1. E I N LE ITU NG

Die Feststellung und Durchsetzung von Prioritäten, d.h., Priorisierung, in der gesundheitlichen Versorgung von einzelnen Kranken, Gruppen und ganzen Populationen ist eine der dringendsten und aktuellsten Fragen im Schnittpunkt von Gesundheitsethik, Gesundheitsrecht, Sozialmedizin und Gesundheitspolitik. Dabei werden verschiedene Interessengruppen, im folgenden Stakeholder genannt, verschiedene Präferenzen haben, die sich in der jeweiligen Rangordnung bestimmter Aspekte in der Versorgung widerspiegeln werden. Das heißt, Prioritäten beinhalten in jedem Fall Präferenz- und Werteentscheidungen. Wenn eine Option gegenüber einer anderen bzw. mehreren anderen präferiert, d. h. bevorzugt wird, dann sollten die Optionen sich in eine Rangreihe gemäß der Präferenz bzw. Bevorzugung bringen lassen, die dann Grundlage einer Priorisierung sein kann 1. Wenn zum Beispiel „Behandlung“ eine höhere Präferenz hat als „Vorsorge“ und diese eine höhere als „Rehabilitation“, dann lassen sich diese Optionen ordnen, d.h., „Behandlung“ > „Vorsorge“ > „Rehabilitation“, wobei diese wiederum unterschiedliche Grundlagen haben und auf unterschiedlichen Ebenen wirksam werden: Soweit Prioritäten (auch) „evidenzbasiert“, d.h. gestützt auf Ergebnisse der evaluativen klinischen und Versorgungs-Forschung, entwickelt werden sollen, sind die Ergebnisse klinischer und Versorgungs-Studien relevant. In der Entwicklung und Durchführung entsprechender Studien spielen bisher vor allem die Sichtweisen und Werthaltungen der Kliniker und die Interessen ihrer Sponsoren eine dominante, die der Patienten und der gesunden Bevölkerung aber eine ganz untergeordnete Rolle. An der Bewertung und Zusammenstellung der empirischen Evidenz etwa in Form von Leitlinien sind zuerst Repräsentanten dieser Gruppen beteiligt und nur in geringem, wenn auch zunehmendem Umfang Patientenvertreter. Das bedeutet, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bestimmt in Form von Richtlinien den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV), d.h., er legt fest, welche Leistungen der medizinischen Versorgung von der GKV erstattet werden. Der G-BA hat 21 Mitglie1

Das Vergleichbarkeitsaxiom (Completeness) der Expected Utility Theory besagt, dass für eine Wahl zwischen Wahlalternativen A und B, entweder A gegenüber B bevorzugt (präferiert) wird (A > B) oder B gegenüber A bevorzugt wird (B > A) oder beide Optionen gleich sind (A ~ B).

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