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Exkurs: Strategische Frühaufklärung – Zukunftsbetrachtung im Strategischen Managementprozess Markus Müschenich ConceptHealth, Berlin

Der Strategieprozess eines Unternehmens beginnt in der Regel mit der sogenannten Strategischen Planung [Sobhani 2009]. In der Erwartung, dass eine gute Vorbereitung auch zu einem guten Ergebnis des Strategieprozesses führt, wird im Vorfeld der Informationsbedarf, der zur Durchführung des strategischen Planungsprozesses notwendig scheint, klar definiert. Mit dieser Logik beginnt nicht selten ein systematischer Fehler, der den gesamten Strategieprozess durchzieht. Denn nachgefragt werden weitestgehend Informationen aus der Vergangenheit. Leistungskennziffern der zurückliegenden Jahre werden gepaart mit historischen Strukturen und Prozessen. Die Zukunft spielt bestenfalls in der epidemiologischen Betrachtung oder der Entwicklung der Vergütung in der DRG-Systematik eine Rolle. Meist erschöpft sich so die Betrachtung des Planungshorizonts in der wenig differenzierten Botschaft, dass die Patienten zukünftig älter, kränker und anspruchsvoller werden und Leistungen mit einer niedrigen Bewertungsrelation eher ab-, und höherwertige Leistungen eher aufgewertet werden. Ansonsten wird die Zukunft gerne linear aus der Vergangenheit fortgeschrieben und so bilden traditionelle Organisationstrukturen, Hierarchien, Aufgabenzuordnungen und Werkzeuge häufig immer noch den exklusiven Rahmen der

Strategischen Planung. Erfahrungswerte werden – ohne deren Zukunftsfähigkeit ausreichend zu reflektieren – zur Grundlage für existenzielle Entscheidungen und damit nicht selten zu Garanten des Stillstands und Wegbereiter des Rückschritts. Die Erwartungen des Krankenhauses an die Möglichkeiten der Zukunft ergeben sich so beinahe vollständig aus den Erfahrungswerten der Vergangenheit. Die Frage nach noch unbekannten existenziellen Risiken wird meist ebenso wenig gestellt, wie nach neuen existenzsichernden Chancen. Die Gefahr in einem Strategieprozess gewissermaßen die Zukunft der Schreibmaschine zu planen, während das Krankenhaus um die Ecke bereits auf Tablet-PCs und Internetmedizin setzt, ist groß, wenn die systematische Zukunftsvorausschau nicht zum festen Bestandteil im Strategieprozess gehört. Das Problem des unverhältnismäßigen Vergangenheitsbezugs ist natürlich nicht auf das Krankenhausmanagement beschränkt. Dies zeigen viele Beispiele aus der Welt jenseits unseres Gesundheitswesens. Microsoft erkannte nicht rechtzeitig das Zukunftspotenzial des Internets und Nokia unterschätzte die Marktchancen der Smartphones. Zu einem guten Strategischen Managementprozess gehört deshalb die sogenannte Strategi-

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Störereignis mögliche Szenarien

lineare Projektion

Zukunft

t0 = Gegenwart

Abb. 1

Denkmodell zur Darstellung von Szenarien [nach v. Reibnitz]

sche Frühaufklärung [Liebl 1996]. Zweck der Strategischen Frühaufklärung, die der Strategischen Planung vorgelagert sein muss, ist die frühestmögliche Identifikation von strategisch relevanten Umfeldveränderungen [Ansoff 1991]. Nur so kann verhindert werden, dass fehlende oder falsche Prämissen über zukünftige Entwicklungen die nachhaltige Wirksamkeit einer Strategie infrage stellen. Voraussetzung für die Strategische Frühaufklärung ist ein klares Bild über neue Entwicklungen und deren Einfluss auf das Produkt- und Leistungsportfolio des Unternehmens. Die Methoden und Werkzeuge für eine valide Zukunftsbetrachtung sind begrenzt. Wer wissen will, wie die Zukunft aussieht, kann beispielsweise Experten befragen. Dies geschieht in der Regel über die Abbildung von Einzelmeinungen zu speziellen Fragestellungen. Die Fehlbarkeit von Experten ist mittlerweile gut dokumentiert. Von einem Bill Gates, der das Internet als Modeerscheinung bezeichnete bis zu einem Nokia-CEO, der Apple die Kompetenz absprach, ein Mobiltelefon zu entwickeln. Auch die Kumulation von multiplen Expertenmeinungen über eine Delphi-Befragung liefert in der Regel nur zu einem Drittel valide Zukunftsprognosen. Noch problematischer sind Kundenbefragungen zu den künftigen Bedarfen und Bedürfnissen auf der Seite der Konsumenten. Wie schon der Auto-Pionier Henry Ford feststellte: „Wenn ich meine Kunden gefragt hätte, hätten sie schnellere Pferde und bequemere Kutschen verlangt“. In der Zukunftsvorausschau durchge-

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t2 = Betrachtungszeitpunkt

setzt, hat sich heute die sogenannte SzenarioTechnik, die ursprünglich im militärischen Kontext entwickelt wurde [Becker 1988]. Hier werden drehbuchartig Zukunftsbilder formuliert, wobei der Einfluss möglicher Störfaktoren systematisch berücksichtigt wird. Bekannt ist die grafische Visualisierung in Form des sogenannten SzenarioTrichters [von Reibnitz 1992], dessen Öffnung den Möglichkeiten-Raum in der Zukunft abbildet (s. Abb. 1). Je weiter die betrachtete Zukunft entfernt ist, umso größer ist die Trichteröffnung und umso weniger scharf wird die aufgezeichnete Zukunft abgebildet. Nicht zuletzt deshalb sprechen Zukunftsexperten gerne von Zukünften und drücken damit aus, dass die Anzahl alternativer Szenarien wächst, je weiter der Betrachtungshorizont in die Zukunft ausgeweitet wird. Auf der Basis der Szenario-Technik wurde in Anbetracht der hohen Komplexität unseres Gesundheitswesens die sogenannte Trendgestützte Vorausschau (s. Abb. 2 u. 3) als Werkzeug der Strategischen Frühaufklärung entwickelt [Müschenich u. Hildebrandt 1999]. Die Trendgestützte Vorausschau kombiniert zum einen die Szenario-Technik mit den Ansätzen des Stakeholder und des Issue-Managements. Damit wird sichergestellt, dass der Strategiebezug der Zukunftsszenarien zu den im Gesundheitswesen einflussreichen Interessengruppen (Stakeholder) ebenso berücksichtigt wird, wie die Fokussierung auf einzelne strategisch relevante Problemstellungen (Issues). Zum anderen wird durch die


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Exkurs: Strategische Frühaufklärung – Zukunftsbetrachtung im Strategischen Managementprozess

Störereignis mögliche Szenarien lineare Projektion

Zukunft

t0 = Gegenwart

Abb. 2

t1 = Trend

t2 = Betrachtungszeitpunkt

Szenariotrichter der Trendgestützten Vorausschau nach Müschenich

Verlagerung des Ausgangspunkts des SzenarioTrichters von der Gegenwart in die Zukunft die Abbildung zukünftiger Entwicklungen geschärft. Dies gelingt durch die methodische Integration der Werkzeuge der Trendforschung. Der Prozess der Strategischen Frühaufklärung mithilfe der Trendgestützten Vorausschau wird im Folgenden beschrieben.

STRATEGIC AGENDA BUILDING

TREND AGENDA BUILDING

Bezugsrahmen

Wissensbasis Trend

Issues

Stakeholders

Signale scanning

Trendhypothese monitoring

Aufbau der Strategischen Agenda (Strategic Agenda Building) In einem ersten Schritt werden die für das Krankenhaus strategisch relevanten Problemstellungen (Issues) identifiziert und beschrieben. Dazu gehören z. B.: Neuausrichtung des Leistungsportfolios Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven Management von Investitionen Personalrekrutierung und -entwicklung Sektorenübergreifende Leistungserbringung In Schritt zwei werden die relevanten Interessengruppen (Stakeholder) dargestellt, die Einfluss auf den Erfolg eines Krankenhauses haben. Dazu gehören insbesondere: Patienten Mitarbeiter Gesellschafter/Trägervertreter Krankenkassen Meinungsbildner Shareholder/Investoren/Kapitalgeber

Trend

diagnostic framing

Strategic Agenda

Trend Agenda

Key-Strategic Issues

Key-Trends Trend-Messages

Future Agenda Building Future Agenda

Future Agenda Messages

Strategische Planung Abb. 3

Die Trendgestützte Vorausschau

In einem dritten Schritt werden die Issues mit den Stakeholdern in Beziehung gesetzt. Dabei wird qualifiziert und quantifiziert, welche Sachverhalte welche Interessengruppen betreffen und wie die

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D Das Krankenhaus und seine Strategie

Interessengruppe durch ihr Handeln die Problemstellungen beeinflussen können. Am Ende stehen auf der Strategischen Agenda die sogenannten Key Strategic Issues als integrierte Darstellung der Wirkungsbeziehung zwischen Issues und Stakeholdern. Dies dient der strukturierten Vorbereitung auf die Beantwortung der Frage, welchen spezifischen Einfluss zukünftige Entwicklungen und die im Strategieprozess definierten Antwortstrategien im Sinne von Chancen und Risiken auf diese generisch personalisierten Sachverhalte haben.

Aufbau der Trend Agenda (Trend Agenda Building) Zur Klärung der Frage, welche zukünftigen Entwicklungen von Relevanz sein werden, erfolgt der Aufbau der sogenannten Trend Agenda (Trend Agenda Building). Im Verständnis eines Trends als „der frühzeitigste Ausdruck einer neuen Entwicklung sozioökonomischer Muster und/oder struktureller Prozesse“ [Horx u. Wippermann 1996] gilt es u. a. gesellschaftliche, technische, ökonomische Entwicklungen als sogenannte Key-Trends in einem frühestmöglichen Stadium zu identifizieren. Dabei geht es nicht nur um spezifische Trends des Gesundheitssystems. Im Gegenteil, häufig sind gerade die Trends interessant, die Entwicklungen zeigen, die noch nicht der Gesundheitsversorgung zuzuordnen sind. Solche „externen“ Trends müssen zunächst aus ihrem Kontext gelöst und im Folgenden in das Gesundheitswesen rekontextualisiert werden. So wurde beispielsweise aus dem Trend der mobilen Kommunikation, der um das Jahr 2000 aufkam, kurze Zeit später der Trend „Mobile Health“. Mit der Identifikation der relevanten Trends ist der Aufbau der Trend Agenda noch nicht abgeschlossen. Vielmehr gilt es, die konkreten Folgen dieser Trends zu antizipieren und als Trendbotschaften (Trend Messages) zu beschreiben. Die Trend Message zum Trend Mobile Health beispielsweise zeigte auf, wie klassisch diagnostische und therapeutische Verfahren unabhängig vom traditionellen Ort der Leistungserbringung möglich werden würden. So können heute Patienten mit Herzerkrankungen Dank der Anwendungen von Mobile Health-Anwendungen sogar eine Rehabilitationsmaßnahme zu Hause durchführen und erhalten Therapievorschläge, praktisch Remote von einer Zentrale aus. Weiterhin konnte vorhergesagt werden, dass sich – weit über rein medizinische Anwendungen hi-

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naus – ein großer Markt sogenannter Medical Apps entwickeln würde, die sich der Patient selber beschaffen und auch ohne ärztliche Verordnung nutzen können würde [Müschenich 2013]. Auch der Anspruch der Methode der trendgestützten Vorausschau, über einen Trend hinaus noch weiter in die Zukunft zu blicken, lässt sich am Thema Mobile Health gut illustrieren. Der Folgetrend heißt hier „Quantified-Self“ und beschreibt den Umstand, dass sich immer mehr Menschen bemühen, ihren Alltag in Echtzeit über gesundheitsassoziierte Messwerte (Blutdruck, Puls, Gewicht, Laufstrecke, Kalorienzufuhr, usw.) abzubilden, die meist über Apps auf speziellen Internetplattformen oder den eigenen Social Media-Accounts gespeichert werden. Klar abzusehen, sind hier in der späteren Zukunft neue alltagsfähige Präventionskonzepte auf der einen und eine stärkere Einbeziehung der sozialen Netzwerke in die Dokumentation der Gesundheitsversorgung – bis zur Etablierung internetbasierter Patientenakten durch die sozialen Netzwerke selbst – auf der anderen Seite [Müschenich 2012].

Aufbau der Future Agenda (Future Agenda Building) Der letzte Schritt der Strategischen Frühaufklärung mittels der trendgestützten Vorausschau besteht in der Formulierung der sogenannten Future Agenda als Informationsbasis für den Strategischen Planungsprozess. Über die Integration der spezifischen Problemstellungen (Key Strategic Issues) auf der einen und der beschriebenen zukünftigen Entwicklungen (Key Trends und Trend Messages) auf der anderen Seite entstehen Informationen, die die individuellen, zukünftigen Rahmenbedingungen des betreffenden Krankenhauses beschreiben. Auf dieser Informationsbasis, die sowohl Chancen als auch Risiken darstellt, können im Rahmen der Strategischen Planung nachhaltig wirksame Antwortstrategien formuliert werden.

Literatur Ansoff HI (1991) Strategic Management in a Historical Perspective. In: International Review of Strategic Management 2, 3–69 Becker HA (1988) Scenario Projects 1988. Social Impact Assessment by Scenario Projects Combining Quantitative and Qualitative Analysis. In: Impact Assessment Bulletin 6, 89–102 Horx M, Wippermann P (1996) Was ist Trendforschung. S. 17. Econ Verlag Düsseldorf


Exkurs: Strategische Frühaufklärung – Zukunftsbetrachtung im Strategischen Managementprozess

Liebl F (1996) Strategische Frühaufklärung: Trends-Issues-Stakeholders. S. 18. R. Oldenbourg Verlag München, Wien Müschenich M (2012) Patient in Deutschland: Gehört die Zukunft Dr. Google? Deutsches Ärzteblatt 2012, 109(47): A-2356/B1921/C-1883 Müschenich M (2013) Internetmedizin für den Patienten 2.0. URL: http://www.gesundheit-braucht-vielfalt.de/internetmedizinfuer-den-patienten-2.0 (abgerufen am 21.05.2013) Müschenich M, Hildebrandt H (1999) Die zukünftige Entwicklung des Gesundheitswesens – Ergebnisse einer Trendgestützten Vorausschau. In: Görres S, Hoffmann W, Terschüren C

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(Hrsg.) Entwicklung des Gesundheitswesens bis zum Jahr 2020 – Trends und Einflußfaktoren. Expertenpapier des Zentrums für Public Health der Universität Bremen im Auftrag der Robert-Bosch-Stiftung, Universität Bremen, Fachbereich 11. Bremen Reibnitz U von (1992) Szenario-Technik: Instrumente für die unternehmerische und persönliche Erfolgsplanung. S. 27. Gabler Verlag Wiesbaden Sobhani B (2009) Strategisches Management Zukunftssicherung für Krankenhaus und Gesundheitsunternehmen. S. 35. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin

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