Fehler des Monats Februar

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Das Helfersyndrom als Gefahrenquelle Die Leitstelle erhält gegen 15:20 Uhr folgende Mitteilung: „In einem Chemiebetrieb ist es zu einem Gasaustritt mit voraussichtlich 7 Verletzten gekommen“. Die Einsatzzentrale beordert sofort 3 RTW und einen NAW in den etwa 5 km entfernten Betrieb. Da kurze Zeit später die Verletztenzahl mit 8 Personen angegeben wird, muss ein NEF alarmiert werden. Nach etwa 7 Minuten trifft der erste Notarzt mit dem NAW am Unfallort ein. Von einem hektisch gestikulierenden Werksarbeiter wird er mit der Meldung empfangen: „... sechs Arbeiterinnen sind bewusstlos, bei drei Frauen wird bereits eine Laienreanimation durchgeführt“. Als ausgetretenes Gas wird Wasserstoffperoxyd vermutet. Der Notarzt und ein Rettungsassistent eilen sofort zum Eingangstor der Fabrikhalle, wo die Opfer abgelegt wurden. Nach einem kurzen Überblick über den Zustand der Verunfallten beginnt der Notarzt sofort mit der Reanimation der ersten Patientin. In der Zwischenzeit trifft auch das NEF ein. Der zweite Notarzt begibt sich ebenso zum Einfahrtstor und übernimmt die Reanimation einer weiteren Patientin. Wohl fällt den Notärzten der leicht süßliche und nach faulen Eiern riechende Gestank auf, sie schenken diesem jedoch in Anbetracht der kritischen Situation der Verunfallten und der ohnehin bereits im Freien befindlichen Patienten keine wesentliche Bedeutung. Beide Notärzte müssen unabhängig voneinander erkennen, dass ihre Reanimationsbemühungen keinen Erfolg haben. Zu diesem Zeitpunkt wird auf Grund einer Schnellanalyse der Feuerwehr bekannt, dass das ausgetretene Gas Schwefelwasserstoff ist. Der weitere Einsatz läuft auf Grund zahlreicher Arbeiter, die über Kopfschmerzen und zum Teil auch Übelkeit klagen, hektisch ab. Weitere Notärzte und Allgemeinmediziner sind im Einsatz, der um 18:05 Uhr schließlich beendet werden kann. Gegen 19:30 Uhr treten leichte Atembeschwerden und Kopfschmerzen beim ersteingetroffenen Notarzt auf. Dieser schenkt diesen Symptomen jedoch keine Bedeutung. In den darauf folgenden Wochen klagt er immer wieder über Atembeschwerden und chronischen Husten.

Hintergrund Bei dem dargestellten Fallbericht handelt es sich um eine besonders herausfordernde Lage für den Rettungsdienst. Die Kombination eines Giftnotfalls mit einem Massenanfall an Verletzten birgt zahlreiche Möglichkeiten für Gefahren und Fehler:

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Lagebeurteilung und Selbstgefährdung Jeder Einsatz, aber v. a. der Massenanfall muss mit einer genauen Lagebeurteilung beginnen. Um gezielt vorgehen zu können, wäre es wichtig gewesen, sich nach Eintreffen nicht nur von „einem hektisch gestikulierenden Werksarbeiter“ einweisen zu lassen, sondern primär den Kontakt zum Einsatzleiter der Feuerwehr vor Ort zu suchen und im Weiteren eine eigene Lagebeurteilung durchzuführen. Die erste Aufgabe innerhalb der Lagebeurteilung ist die Feststellung einer möglichen Selbstgefährdung. Allein die Alarmmeldung: „Gasaustritt – bewusstlose Personen“ hätte den Notarzt warnen und auch an den Selbstschutz denken lassen müssen. In der Folge hätte sich der Notarzt an die DIII-Regel (Detektion – Identifikation – Information – Intervention) halten sollen. Die Detektion, also das Erkennen des Unfallherganges durch toxisches Gas, ist erfolgt. Bis zur Stoffidentifikation wäre es jedoch angezeigt gewesen, die Patienten in einen sicheren Bereich zu evakuieren, ggf. erst durch Feuerwehrleute in entsprechender Schutzausrüstung versorgen zu lassen und die Patienten ggf. zu dekontaminieren. Die erforderlichen Informationen wären vermutlich über die eingesetzte Werks-Feuerwehr rasch zu ermitteln gewesen, da diese in der Regel weiß, welche Gase austreten können.

Triage Ein Massenanfall von Verletzten macht eine Triage erforderlich. Dabei wird in allen Triagesystemen bewusst zwischen Toten und Patienten mit dringlicher bis aufgeschobener Behandlungsindikation unterschieden. In dieser Situation wäre es vorteilhafter gewesen, zunächst alle Patienten vom ersteintreffenden Notarzt zu sichten und erst dann mit der Behandlung bzw. dem Transport zu beginnen. Gerade bei schweren Vergiftungen ist es wichtig, Patienten in akuter Lebensgefahr (z. B. Bewusstlosigkeit, Hypoxie, Atemstillstand) zu identifizieren und rasch effektive Behandlungsschritte (Seitenlage, Sauerstoffinhalation, Beatmung) einzuleiten. Eine Reanimation wird bei einem Massenanfall meist nicht begonnen, weil dafür häufig die Ressourcen fehlen. In dem konkreten Fall wurden durch die parallele Durchführung von zwei Reanimationen sechs weitere Patienten, davon vier mit gestörten Vitalfunktionen, überhaupt nicht behandelt.

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Dynamik der Lage Bereits von Beginn an muss mit einer dynamischen Lageentwicklung gerechnet werden, wodurch es zu einer vorausschauenden Anforderung von Personal und Material (z. B.: Nachalarmierung einer SEG, Leitender Notarzt) kommen sollte. Dies muss sowohl von den Einsatzkräften vor Ort als auch von der Leitstelle berücksichtigt werden. Analysiert man das beschriebene Unfallgeschehen, kann man erkennen, dass der Notarzt auf Grund seines bedingungslosen Helferwillens organisatorische Fehler begangen hat, die zu einer unzureichenden Versorgung der übrigen Patienten führten und die ihm und seinem Team gesundheitliche Schäden hätten zufügen können. Der bedingungslose Helferwille, aber auch der Druck der anwesenden Arbeitskollegen der Verunfallten, wären dem Notarzt beinahe zum Verhängnis geworden und führten darüber hinaus zu einer unzureichenden Versorgung im Rahmen eines Massenanfalls von Verletzten.

Fehler und Gefahren Vernachlässigung des Eigenschutzes. Fehlen von Anmeldung beim Einsatzleiter, Sichtung und Lagemel-

dung bei einem Massenanfall von Verletzten.

Fehlervermeidung Grundsätze der Bewältigung eines Massenanfalls in Theorie und Praxis

üben. Orte mit bekannten Gefahrstoffen (z. B. Fabriken, Lager) in regelmä-

ßigen Abständen besuchen und mit Verantwortlichen entsprechende Notfallpläne erarbeiten bzw. aktualisieren. Beachtung von Eigenschutz, Kontakt zum Einsatzleiter der Feuer-

wehr, Sichtungsprinzipien und Lagemeldung.

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