"Amok, Massaker, Terror – forensisch psychiatrische Aspekte" von Reinhard Haller

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9 Amok, Massaker, Terror – forensisch psychiatrische Aspekte Reinhard Haller

Die forensische Psychiatrie ist im Zusammenhang mit Fällen von Amokläufen, Terroranschlägen und Massakern in vielerlei Hinsicht gefragt. Neben der durch die Seltenheit der Ereignisse und dem häufigen Suizid der Täter nur in wenigen Fällen möglichen traditionellen Aufgabe der gutachterlichen Beurteilung von Schuld-/Zurechnungsfähigkeit und Gefährlichkeitsprognose ergeben sich Herausforderungen für die kriminalpsychiatrische Forschung, die Öffentlichkeitsarbeit und die Darstellung der Psychiatrie ganz allgemein. Bei solchen, die Bevölkerung sehr bewegenden, meist großes mediales Interesse hervorrufenden Ereignissen traut man der Kriminalpsychiatrie offensichtlich am ehesten eine fundierte Einschätzung der Tatmotivation und eine Analyse der Täterpersönlichkeit zu. Der forensischen Psychiatrie wird dabei, worauf Nedopil (2012) immer wieder hinweist, der verantwortungsvolle und mit Vorsicht wahrzunehmende Auftrag übertragen, die Ansprüche der Bevölkerung auf Information zu befriedigen und Erklärungsmöglichkeiten für beunruhigende, oft als „unfassbar“ bezeichnete Taten zu geben. Ferner wird die Frage „mad or bad“ nirgendwo intensiver diskutiert als bei Fällen von Amok, Massaker und Terror, was sich zuletzt in der leidenschaftlich geführten Diskussion über die Frage der Zurechnungsfähigkeit des norwegischen Attentäters Anders Breivik eindrucksvoll gezeigt hat. Da solche Aggressionshandlungen die Spitze der Schwerstkriminalität darstellen und zu den folgenschwersten Verbrechen gehören, liegt die Vermutung nahe, dass auch Tatmotive und Täterpersönlichkeiten in den Bereich der schweren Abnormität fallen und nicht mit üblichen Maßstäben zu messen sind. Aus all den Erkenntnissen, die man bei der Analyse großer Verbrechen findet, lassen sich zahlreiche Schlussfolgerungen für die Beurteilung der Alltagskriminalität und die forensisch-psychiatrische Routinetätigkeit ziehen (Haller 2008).

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Aus Art, Genese und Psychodynamik derartiger verbrecherischer Handlungen ergeben sich aber auch wichtige Erkenntnisse für das allgemeine Verständnis psychischer Störungen. So wurde etwa Kretschmers Lehre vom sensitiven Beziehungswahn (1918), in welcher eine psychogenetische Ableitung des Verfolgungswahns vorgenommen wird, ganz entscheidend aus den durch die psychiatrischen Untersuchungen des „Massenmörders“ Ernst Wagner gewonnenen Erkenntnissen abgeleitet. Wichtige Aufgaben stellen sich für den psychiatrischen Sachverständigen schließlich in der gutachterlichen Beurteilung der überlebenden Anschlagsopfer, also in der Einschätzung von Traumen und Traumafolgen einschließlich der Dauer- und Spätschäden bei den Hinterbliebenen. Die Lehre der begrifflich heute inflationär verwendeten posttraumatischen Belastungsstörung wurde maßgebend an den Beispielen von überlebenden Terror- und Massakeropfern entwickelt. Da sich die Begriffe „Amok“, „Massaker“ und „Terror“ erheblich überschneiden und meist unscharf gebraucht werden, eine genaue Abgrenzung zum besseren kriminalpsychologischen Verständnis aber unabdingbar ist, wird zunächst eine genaue Beschreibung vorangestellt. Eine exakte Differenzierung ist erforderlich, da sich sowohl Täterpersönlichkeiten und Tatmotive als auch die jeweiligen Tatkonstellationen in den drei Unterformen dieser „Trias des Schreckens“ erheblich unterscheiden. Einschränkend ist vorauszuschicken, dass trotz der in den letzten Jahren als Folge der Schulmassaker intensivierten Forschung insgesamt wenig empirisches Untersuchungsmaterial zur Verfügung steht. Aus diesem Grund werden neben der Darstellung des heutigen Wissensstandes einzelne Fallbeispiele eingebracht, womit auch dem Anspruch der forensischen Psychiatrie als „letzter Heimat der Kasuistik“ Rechnung getragen wird.

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Amok

Unter „Amok“ wird nach der WHO-Definition eine plötzliche, willkürliche, nicht provozierte Gewaltattacke mit mörderischem oder zumindest erheblich zerstörerischem Verhalten, häufig mit Umschlagen in „suizidale Reaktionen“ verstanden. Obwohl der Begriff selbst aus der malaiisch-indonesischen Kultur (Amok = Wüten, Rasen) stammt, stellt das, was damit gemeint ist, ein interkulturelles Phänomen dar. Im nordeuropäischen Bereich entspricht die „Berserkerei“, im südamerikanischen die „Colerina“ und im nordamerikanischen die als „li’aa“ bezeichnete Raserei dem Amoklauf. Mit der Bezeichnung „Rampage-Killer“ wird in den USA jener Tätertyp gemeint, der gleich dem Amokläufer anfallsartig in kurzer Zeit möglichst viele Opfer töten will. In den großen psychiatrischen Klassifikationssystemen, in denen Amok nur indirekt erwähnt wird, wäre der Begriff am ehesten der Kategorie der im DSM angeführten intermittierenden explosiblen Störung, früher auch als „katathyme Krise“ bezeichnet, zuzuordnen. Während diese im ICD-10 nicht eigens abgehandelt, sondern der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (F 60.3) bzw. den „sonstigen abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F 63.8)“ zugeordnet wird, ist sie im DSM IV-TR unter der Nummer 312.34 gesondert beschrieben und durch folgende Kriterien definiert:

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Kriterium A: Mehrere umschriebene Episoden des Versagens, aggressiven

Impulsen zu widerstehen, die zu schweren Gewalttätigkeiten oder zur Zerstörung von Eigentum führen. Kriterium B: Das Ausmaß der Aggressivität während der Episoden steht im groben Missverhältnis zu irgendeinem provozierenden oder auslösenden psychosozialen Belastungsfaktor. Kriterium C: Die aggressiven Episoden können nicht besser durch eine andere psychische Störung, wie antisoziale Persönlichkeitsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, psychotische Störung, manische Episode, Störung des Sozialverhaltens oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom erklärt werden und gehen nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Drogen) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z.B. Kopfverletzung) zurück. Im DSM wird der Begriff Amok sogar einmal direkt erwähnt und als eine Episode akuten, ungezügelten gewalttätigen Verhaltens charakterisiert, für die die Betroffenen eine Amnesie angeben. Anders als die intermittierende explosible Störung trete Amok typischerweise als einzelne Episode und nicht als ein Muster aggressiven Verhaltens auf und gehe oft mit ausgeprägten dissoziativen Merkmalen einher. Episodisches gewalttätiges Verhalten komme häufiger bei Männern als bei Frauen vor. Als Risikoalter wird die Phase zwischen der späten Adoleszenz und dem dritten Lebensjahrzehnt genannt. Allerdings fehlen, so wird auch im DSM festgestellt, zuverlässige Informationen zu dieser offenbar seltenen Störung (Saß et al. 2003). In verschiedenen Untersuchungen, etwa jenen von Adler (2000), Hoffmann (2003), Scheithauer et al. (2008) oder Scheithauer und Bondü (2008) wurden Amokläufe in mehrere Stadien eingeteilt. Im Prodromalstadium werden durch negative Erlebnisse Verstimmungszustände wie Dysphorie, Gekränktheit, depressives Brüten, Rückzug und Rachegedanken ausgelöst. Das Stadium des homizidalen Ausbruchs beginnt mit einem Verlust der Impulskontrolle und führt über einen Bewegungssturm mit rücksichtslosen Aggressionen, ja Raserei, zur Fortführung der homizidalen Handlungen, ehe ein schlafähnlicher Zustand mit totaler Erschöpfung, Depression, Stupor und Amnesie als vierte Phase die Episode beendet. Amokläufe wurden früher immer mit schweren psychischen Störungen, vor allem mit latenter Epilepsie, organischen Dämmerzuständen, idiosynkratischen Substanzreaktionen und pathologischen Räuschen, aber auch mit paranoiden Psychosen und psychotischen Depressionen in Verbindung gebracht. In späteren Untersuchungen wurden psychosoziale Umstände, narzisstische Kränkungen und Konversionsstörungen inklusive dissoziativer Fugue und Trance in den Vordergrund der Erklärungen gerückt. Nach heutigem wissenschaftlichem Verständnis wird versucht, nicht mehr nur Ursachenanalysen abzugeben, sondern zentrale Risikofaktoren zu identifizieren. Diese bestehen vor allem in narzisstischer Persönlichkeitsstruktur, Gewaltphantasien, kriti-

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schen Lebensereignissen, Depressionen mit Suizidneigung, Zurückweisungen, Mobbing und Bullying. Adler et al. (2006), welche 143 Ereignisse aus den Jahren 1993 bis 2001 – bei denen nur eine einzige weibliche Täterschaft vertreten war – untersuchten, fanden kein einheitliches Tat- und Tätermuster, jedoch mit 72% ein Überwiegen der Opfer aus dem familiären Umfeld bzw. Bekanntenkreis. Unter den Motiven dominierte Rache mit 61%. In 22% wurden persönlich-familiäre, in 10% politische Gründe genannt und in 7% lagen psychische Erkrankungen vor. Später hat Adler (2010) ebenso wie zuvor Palermo (1994) auf die Bedeutung von Amok im Spektrum homizidal-suizidaler Handlungen hingewiesen. In kriminologischen und pädagogischen Forschungsprogrammen, wie sie insbesondere von Meloy et al. (2001), Heubrock et al. (2005), Hurrelmann und Bründel (2007) sowie Bannenberg (2010) publiziert wurden, konnten Risikofaktoren in Form von narzisstischer Persönlichkeitsstörung, geringer Frustrationstoleranz, kürzlich stattgehabten Verhaltenssprüngen, konzentriertem Konsum von Medien mit gewalttätigen Inhalten, Tolerierung krankhaft-aggressiven Verhaltens durch die Umgebung, Mangel an Nähe und zwischenmenschlicher Vertrautheit, Depressionen mit Suizidneigung, Ausgrenzung und Benachteiligung durch die Mitmenschen sowie – als durchschlagendstem Kriterium – leichter Zugang zu Waffen gefunden werden. Als typische Amok-Persönlichkeiten gelten nachgiebig-gutmütige Charaktere, welche ihre Ansprüche schwer zum Ausdruck bringen, ferner Menschen mit geltungsbedürftigen und außerordentlich empfindlichen sowie abnorm erregbaren, unkontrolliert-aggressiven Zügen. Eine besondere Gruppe scheinen junge Männer zu sein, die durch Kriegshandlungen in einen amokartigen Zustand, einen Strudel unfassbarer Dissoziationen geraten. Für die forensische Psychiatrie sind bei Amoktaten folgende Umstände von Wichtigkeit: Die Täter weisen fast ausnahmslos schwere psychische Störungen auf. Der Tatablauf hat anfallsartigen Charakter, d.h., es kommt bei vorausgehender, von der Umgebung meist nicht bemerkter konflikthafter Entwicklung oder vorbestehender psychischer Störung durch einen geringfügig anmutenden Auslöser zu einer verheerenden Reaktion mit unkontrollierter Aggressivität und „blindwütigem Agieren“, welches durch Suizid bzw. Überwältigung des Täters oder eine Art terminalen Stupors beendet wird. Detaillierte Vorplanungen oder Fluchtvorbereitungen sind meist nicht anzutreffen. Der innere Ablauf der Amoktat weist somit gewisse Ähnlichkeiten zu jenem bei klassischen Affektdelikten auf. Die Opfer werden nicht ausgesucht, sondern rekrutieren sich aus der jeweiligen Umgebung des Täters. Persönliche Übertragungen spielen dabei keine Rolle. Amok hat jedenfalls im Vergleich zu Massaker und Terror sicher die höchste psychiatrische Relevanz. In den seltenen Fällen, in denen Amoktäter begutachtet werden können, geht es um den Nachweis oder Ausschluss von organischen, affektiven und schi-

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zophrenen Psychosen, insbesondere von wahnhaften Störungen, von qualitativ und quantitativ abnormen Rauschzuständen und – im Hinblick auf die Prognose – um eine genaue Beschreibung der Persönlichkeitsstruktur, des motivationalen Gefüges und des kontextuellen Rahmens der Tat. Selbst erfahrene Sachverständige mit vieljähriger Berufspraxis werden aber höchstens singulär mit einer derartigen Gutachtensaufgabe betraut werden.

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Massaker

Sowohl bei den „School-Shootings“ als auch den Massentötungen durch Einzeltäter, die gemeinlich als „Amokläufe“ oder „Terroranschläge“ bezeichnet werden, handelt es sich im Prinzip um Massaker. Mit diesem vom altfranzösischen maçacre (= Schlachthaus) abgeleiteten Ausdruck wird ein gezielter Massenmord unter besonders grausamen Umständen verstanden. In kriegerischen Auseinandersetzungen meint man damit Hinrichtungen von Zivilpersonen, Gräueltaten, Genozide, Pogrome und Völkermord. Berühmt geworden sind nach dem 2. Weltkrieg die Massaker von My Lai, welches 1968 während des Vietnamkrieges 503 Ziviltote forderte, jenes von Srebrenica, bei welchem im Juli 1995 ca. 8.000 Bosniaken – vor allem Männer und Jungen zwischen 12 und 77 Jahren – das Leben verloren haben, und aktuell jenes vom 25.05.2012 im syrischen Houla mit 118 Todesopfern, darunter 49 Kinder und 34 Frauen. Das Columbine Massaker, bei welchem zwei schwer bewaffnete Schüler am 20. April 1999 in ihrer High School zwölf Mitschüler und einen Lehrer töteten und sich anschließend suizidierten, ist wohl der bekannteste Massenmord außerhalb kriegerischer Auseinandersetzungen. Sofern Massakristen psychologisch-psychiatrisch beurteilt werden sollen, ist zunächst zu unterscheiden, ob die Täter innerhalb eines Systems ideologischer bzw. hierarchischer Strukturen oder als Einzeltäter gehandelt haben. Bei den in ein System integrierten Massakristen gibt es wenige psychiatrische Auffälligkeiten, Motive und psychische Befunde entsprechen am ehesten jenen bei Terroristen. Zu verweisen ist auf die psychologisch-psychiatrischen Untersuchungen, welche bei NS-Tätern vorgenommen wurden und kaum auffallende Ergebnisse erbracht haben. Lediglich bei 8,5% der Täter, welche Gräueltaten, sogenannte Säuberungsaktionen, Massentötungen usw. verübt haben, wurden Persönlichkeitsstörungen gefunden, bei allen übrigen ergab sich das erschreckende Bild der „Normalität des Bösen“, wie dies die Philosophin Hannah Ahrendt (1965) dargestellt hat. Ganz anders stellt sich die Situation bei Einzeltätern dar, bei welchen wiederum zwischen Erwachsenen und jugendlichen School-Shootern zu unterscheiden ist. Während erstere nach allen vorliegenden Erkenntnissen durchaus schwere psychische Störungen aufweisen bzw. während der Planungs-, Durchführungs- oder Verarbeitungsphase der Taten psychisch krank geworden sind, hat das mit den modernen Kommunikationsmöglichkeiten unabdingbar ver-

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bundene School-Shooting einen ganz anderen kriminalpsychologischen und persönlichkeitsspezifischen Hintergrund.

9.2.1 Massaker durch erwachsene Einzeltäter In der Kriminalgeschichte gibt es außerhalb der kriegerischen Auseinandersetzungen bedeutsame Fälle von Massakern durch Einzeltäter: Jener des Hauptlehrers Ernst Wagner, des Oklahoma Attentäters Timothy McVeigh, des „Unabombers“ Ted Kaczynski, des „Bombenhirns“ Franz Fuchs und des Norwegers Anders Breivik. Bei allen lagen jedenfalls schwere psychische Störungen vor und wurde die Frage zwischen „noch normal“ und „bereits psychotisch“ intensiv diskutiert, im Fall Breivik sogar weit außerhalb der Fachwelt bis tief in die Öffentlichkeit hinein. Es fällt auf, dass es sich mit Ausnahme Wagners bei allen Tätern um intelligente, technisch begabte, schizoide und frustrierte Einzelgänger handelte. Alle zogen sich enttäuscht und gekränkt zurück und entwickelten in ihrer Isolation eine überwertige Idee, nach welcher sie fortan ihr Leben bedingungslos ausrichteten. Alle behaupteten, in höherem Auftrag und in einer Art „Notwehr“ gehandelt, ja sich bei den Taten „geopfert“ zu haben. Bei allen stellt sich die Frage, inwieweit ihre Ideen wahnhaften Charakter angenommen haben. Beim Oklahoma Attentäter Timothy McVeigh, welcher 1995 bei einem Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City 168 Menschen getötet und 800 verletzt hatte, ist dies am wenigsten eindeutig, zumal das psychiatrische Gutachten nicht genügend klar ist, und Nachuntersuchungen wegen der im Jahr 2001 erfolgten Hinrichtung nicht mehr möglich waren. In seiner Persönlichkeitsstruktur zeigten sich aber neben schizoiden und narzisstischen Zügen auch paranoide Tendenzen.

Ganz klar zeigten sich die wahnhaften Phänomene beim österreichischen Bombenattentäter Franz Fuchs, dessen Expertise Norbert Nedopil und der Verfasser gemeinsam erstellt haben: Fuchs wurde im März 1999 von einem Schwurgericht in Graz schuldig erkannt, von Dezember 1993 bis Dezember 1996 in Österreich und Deutschland sechs Briefbombenserien initiiert und drei Sprengstoffattentate verübt zu haben, welche insgesamt fünfunddreißig Verletzte und vier Todesopfer forderten. Zu den Anschlägen, die durchwegs gegen Personen und Institutionen mit Engagement in Ausländerfragen gerichtet waren, hatte sich damals in zahlreichen Schreiben eine Gruppierung namens BBA (= Bajuwarische Befreiungsarmee) bekannt. Als Motiv für die Verbrechen wurden die angeblich drohende Überfremdung Österreichs und die Gefahr des Niedergangs der deutschsprachigen Volksgruppe genannt. Franz Fuchs wurde anscheinend zufällig festgenommen. Während einer Polizeikontrolle versuchte er, sich durch eine Rohrbombe zu suizidieren, verlor

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9.2 Massaker

dabei beide Hände und verletzte die einschreitenden Beamten. Im Vorverfahren zeigte er sich sehr kooperativ, gab eine Fülle von (selbstbezichtigendem) Insiderwissen an, bezeichnete sich als Mitglied der BBA, ließ allerdings bis zuletzt offen, ob er als Einzeltäter gehandelt habe. Der Teilnahme an der Schwurgerichtsverhandlung entzog er sich durch anhaltendes Brüllen ausländerfeindlicher Parolen, was den Ausschluss von den Sitzungen zur Folge hatte. Das Gericht, welches von einer Einzeltäterschaft ausging, verurteilte ihn zu lebenslanger Haft und wies ihn in eine Anstalt für (zurechnungsfähige) geistig abnorme Rechtsbrecher ein. Dort gelang es ihm trotz Amputation beider Unterarme und fehlender prothetischer Vorsorgung sich in einer intensiv überwachten Zelle zu suizidieren. Diagnostisch wurde bei Fuchs eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit schizoiden, paranoiden, fanatischen und narzisstischen Anteilen (ICD-10, F61.0) festgestellt. Der schon als Kind einzelgängerische, extrem intelligente (IQ 149) Mann hatte sich nach zahlreichen beruflichen und privaten Enttäuschungen völlig zurückgezogen und richtete sein ganzes Leben nach der anfangs fanatischen, später wahnhaft werdenden Idee aus, Österreich vor der drohenden Überfremdung schützen zu müssen. Er entwickelte einen psychodynamisch auch als Selbstbestrafung zu interpretierenden Verfolgungswahn, der letztlich zu seiner Verhaftung führte. Der Fall Franz Fuchs weist so verblüffende Ähnlichkeiten auf mit jenem des „Unabombers“ Theodor John Kaczynski – dessen Manifest später Andres Breivik in großen Teilen übernehmen sollte – dass von kriminologischer Seite längere Zeit die Möglichkeit ein und derselben Täterschaft verfolgt wurde.

Kaczynski wurde 1942 in einem Vorort von Chicago geboren und fiel als Heranwachsender durch außerordentliche Intelligenz auf. Schon mit 16 Jahren erhielt er ein Stipendium, das ihm ein Studium der Mathematik und Physik an der Elite-Universität Harvard ermöglichte. Er galt als extremer Einzelgänger, hatte keine Freunde und keine Frauenkontakte, beschäftigte sich nur mit seinen Fachbüchern und gönnte sich nichts. Nachdem er bereits mit 20 Jahren sein Examen in Harvard abgelegt hatte, wechselte er für das Doktorstudium an die Universität Michigan, wo er 1967 promovierte. Anschließend war er an der Hochschule von Berkeley als Wissenschaftler tätig, veröffentlichte hervorragende Artikel in Fachzeitschriften und galt als Mathematikgenie. Er war immer korrekt gekleidet, blieb stets zurückhaltend und einzelgängerisch, interessierte sich ausschließlich für sein Fach. In Lincoln fiel niemandem auf, dass der seltsame Fremdling oft wochen- und monatelang abwesend war. In dieser Zeit hielt sich Kaczynski in Hotels in Chicago, Sacramento und Salt Lake City auf und verschickte von dort aus von 1978 bis 1995 Briefbomben, die er stets mit den Buchstaben „FC“ (= Freedom Club) signierte. Seine 16 Bombenanschläge forderten insgesamt drei Todesopfer und 22 Verletzte. Der erste Anschlag am 26.10.1978 war gegen die Northwestern

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University in Evanston gerichtet, an welcher er vor Jahren ein wissenschaftliches Manuskript mit Warnungen vor den Gefahren des technischen Fortschritts hatte veröffentlichen wollen, welches aber abgelehnt worden war. Die folgenden Attentate hatten stets mit Personen und Institutionen zu tun, welche mit neuen gesellschaftlichen Entwicklungen und Technologien befasst waren. Da sich die Bombenanschläge gegen Universitäten und Airlines richteten, erhielt der Unbekannte den Namen „Unabomber“. Die Bomben waren mit einfachen Mitteln, aus alten Schrottteilen und selbst fabrizierten Chemikalien hergestellt, verwertbare Spuren wurden nie gefunden. Der Unabomber erreichte mit dem Versprechen, nie wieder Bomben zu verschicken, die Veröffentlichung eines 75 Seiten langen, 35.000 Worte umfassenden Manifests in den angesehenen Zeitungen New York Times und Washington Post. In der im Stile einer Seminararbeit geschriebenen, völlig fehlerfreien Publikation bezeichnete er die Industriegesellschaft als schädlich und auflösungswürdig, Fabriken müssten zerstört und technische Bücher verbrannt werden, der industrielle Fortschritt entmündige die Menschen und beraube jeden seiner Freiheit. Die Veröffentlichung brachte 20.000 Hinweise aus der Bevölkerung ein, darunter auch einen entscheidenden von David Kaczynski. Dieser hatte aufgrund der Wortwahl den Verdacht geschöpft, dass sein Bruder Theodor der Urheber sein könnte und hatte, von Gewissensbissen geplagt, Anzeige erstattet. Bei der Festnahme am 3. April 1996 fanden die Agenten einen verwahrlosten Waldmenschen mit wirrem Haar und zerlöcherter Kleidung vor. In der mit Unrat überhäuften Hütte wurden u.a. Manuskripte mit Anleitungen zum Bombenbau, Drähte, Sprengstoff und eine fertige Bombe gefunden. Kaczynski wurde gegen seinen Willen einer psychiatrischen Begutachtung unterzogen, welche eine kombinierte Persönlichkeitsstörung, aber auch eine episodische Schizophrenie vom paranoiden Typ diagnostizierte. Die Diagnose einer Geisteskrankheit rettete Kaczynski vor dem Todesurteil, er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Ähnlich wie bei Anders Breivik springt bei der Längsschnittanalyse dieser beiden Fälle das Auftreten von wahnhaften Phänomenen ins Auge. Die entscheidenden forensisch-psychiatrischen Fragen sind jene des zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhangs der paranoiden Symptomatik mit den Aggressionshandlungen. Die forensische Psychiatrie sieht sich hier ungewollt im Mittelpunkt einer heftigen politischen Diskussion, da bei fanatischen und wahnhaften Ideen mit politischen Inhalten die Frage interessiert, inwieweit diese durch radikale Stimmungen und Strömungen induziert werden können. Hier zeigen sich nicht nur die Grenzen der forensischen Psychiatrie, sondern auch die Schwierigkeiten, die sich ergeben können, wenn der krankhafte Charakter einer Idee oder die pathologische Determiniertheit eines verbrecherischen Verhaltens den Gerichten und der Öffentlichkeit vermittelt werden soll.

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9.2 Massaker

9.2.2 Sonderform School-Shooting School-Shootings sind bis 1990 nur sporadisch vorgekommen, ehe ab 1990 eine Verdoppelung und ab dem Jahr 2000 eine Verfünffachung der Häufigkeit zu beobachten war. Dies wurde vor allem auf den starken Einfluss der Medien auf potenzielle Täter, auf den unzweifelhaft gegebenen Nachahmungseffekt zurückgeführt. Besonders diskutiert wird die Bedeutung aggressiver Computerspiele, welche Motive und Verhaltensschablonen zur Selbstbestätigung liefern könnten. Der erste zivile Massenmord an einer Schule wurde bereits 1927 verübt, und zwar in Bath/Michigan durch das Mitglied des Schulkomitees Andrew Kehoe, welcher nach einem gerichtlichen Vollstreckungsbescheid seine Farm in Brand steckte und das Schulgebäude mit Dynamit sprengte. Dabei verloren 37 Schüler ihr Leben. Während der einsetzenden Rettungsarbeiten fuhr er mit seinem mit Metallteilen gefüllten Wagen vor, sprengte diesen in die Luft, wodurch er sich und vier weitere Personen tötete. Im unzerstörten Südteil der Schule wurden 230 Kilogramm nicht explodierten Dynamits gefunden. Die seit dem Jahr 2000 durchgeführten Untersuchungen zu den School-Massakern haben keine einheitlichen Ergebnisse gebracht. Nach Verlinden et al. (2002) hatten die Täter in allen Fällen zuvor mit Gewalt gedroht, einen detaillierten Tatablaufplan entwickelt, gezielte Tatvorbereitungen getroffen, starkes Interesse an Gewalt und Waffen gezeigt, andere für ihre Probleme verantwortlich gemacht, nur geringe psychosoziale Kompetenz und wenig Stressresistenz entwickelt – und alle hatten Zugang zu Waffen. Betont wurde das Erleben durch soziale Zurückweisung von Gleichaltrigen und die fehlende psychosoziale Unterstützung durch Freunde, Lehrer und Familienangehörige. Die Schule werde deswegen zum Ziel der Massakristen, weil sie dort die meisten Kränkungserlebnisse erlitten hätten. Durch die Tötung von Kindern, so folgern manche Experten, soll die Gesellschaft an ihrem empfindlichsten Punkt getroffen werden. Aus früheren School-Shootings wurden von Meloy et al. (2004) und Robertz (2004) die Erkenntnisse gezogen, dass die Täter häufig ländlicher Herkunft sind oder aus sozial besser gestellten Vororten stammen, der Mittelschicht angehören, nur oberflächliche soziale Beziehungen mit hintergründiger Dysfunktionalität aufwiesen und freundschaftliche Beziehungen allenfalls zu Personen mit nihilistischer Weltsicht und ähnlicher Außenseiterrolle unterhielten. Als Motive wurden Rache, Wunsch nach Berühmtheit, erlittene oder eingebildete Kränkung genannt. In allen Untersuchungen wurde ein hoher Prozentsatz von Tätern mit psychotischen Störungen gefunden. Unterschiedlich diskutiert wird die Bedeutung von aggressiven Computerspielen, wie besonders die Untersuchungen von Grossmann und DeaGaetano (1990) oder Hermanutz et al. (2004) belegen. Lempp (2009) hat auf den intensiven Umgang mit Nebenrealitäten, den unwillkürlich eintretenden Verlust der „Überstiegsfähigkeit“ und das kürzere

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oder längere Abtauchen in Zustände, in welchen der Bezug zur gemeinsamen Realität verloren gehe, hingewiesen. Wenn die Täter während der Taten „aufwachen“, werde ihnen plötzlich auf neue Art bewusst, in welcher realen Lage sie sich befinden und was sie angerichtet haben. Meloy et al. (2001) fanden in ihren intensiven Untersuchungen von acht Tätern in zwei Fällen schizophrene Psychosen, in fünf weiteren Depressionen. Auch in der berühmten Untersuchung von Vossekuil et al. (2002), welche im Auftrag des Secret Service und des Department of Education durchgeführt wurde, wurden bei sechs von acht Fällen gravierende psychische Störungen, jedoch keine Alkohol- und Drogenprobleme nachgewiesen. Langman (2009) führte in seinen intensiven Untersuchungen von zehn Fällen dezidiert aus, dass alle jugendlichen Schul-Amokläufer ausnahmslos psychisch krank bzw. psychisch stark auffällig waren. Er unterschied zwischen den Gruppen der schizotypen oder schizophrenen, der traumatisierten und depressiven sowie der persönlichkeitsgestörten Täter. Störungen der Empathie mit sexualisierten aggressiven Zügen galten als besonders charakteristisch. Du Bois (2009) hat den Verdachtsfall für School-Shootings aus psychiatrischer Sicht nach psychopathologischen Gesichtspunkten in dimensionaler Form klassifiziert: Die depressive Symptomatik ist demnach durch nihilistische Gedanken und suizidale Ideen, sowie durch zwanghafte oder phobische Tendenzen – eventuell vor traumatischem Hintergrund – geprägt. Im autistischen Spektrum herrschen Mangel an Empathie, kuriose soziale Missverständnisse, sonderlinghafte Lebensführung und autistische Bosheitsakte vor. Die schizotype oder schizophrene Symptomatik ist durch inhaltliche (paranoide) und formale Denkstörungen, Auffälligkeiten in der Affektregulation und Beziehungsaufnahme gestört. Die als „psychopathische“ Symptomatik beschriebene Dimension wird vor allem von sexualisierten aggressiven Tendenzen und rücksichtslosem Ausleben grausamer Phantasien dominiert. Hurrelmann und Bründel (2007) stellen allerdings relativierend fest, dass das inzwischen wohlbekannte Risikoprofil von School-Shootern – bestehend aus narzisstischer Persönlichkeitsstruktur, geringer Frustrationstoleranz, plötzlichen Verhaltenssprüngen, auffallendem Medienkonsum, Toleranz auffallenden Verhaltens durch die Umgebung, ein Mangel an Nähe und Vertrautheit, Zurückweisung, Spott, Mobbing, depressiven Episoden, Suizidalität und Waffenzugang – derart unspezifisch sei, dass es bei hunderttausend Jugendlichen angetroffen werde könne. Es bleibe letztlich immer zumindest teilweise unerklärlich, weshalb es dann bei wenigen zu einer schrecklichen Tat komme. Hier ist der forensische Psychiater gefragt.

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Terror

Schmid (1984) und Hoffmann (1998) beschreiben den Terrorismus als politisch motiviertes Verhalten einer relativ kleinen Gruppe mit hierarchischer Gliederung, die ihren Willen gegen eine bestehende Ordnung durchsetzen will,

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9.3 Terror

durch Ausübung oder Androhung von gut geplanten öffentlichkeitswirksamen Gewalthandlungen, die Angst und Schrecken verbreiten sollen, um dadurch andere Menschen, insbesondere politische Führungen, unter Druck zu setzen. Die auch in mehreren anderen Definitionsversuchen verwendeten Kriterien fallen allerdings nicht in den Bereich der Psychiatrie. Da Terrorismus überdies ein komplexes, heterogenes Phänomen darstellt, sind kaum typische psychopathologische Merkmale bei Terroristen zu erwarten. Die empirische Datenbasis ist dürftig, da es nur wenig überlebende Terroristen gibt und diese aus ideologischen Gründen die Kommunikation verweigern oder es weit von sich weisen, unter psychischen Problemen zu leiden. Psychologische Erkenntnisse einer speziellen Terroristengruppe lassen sich zudem kaum auf andere Terrororganisationen übertragen. Identisch sind trotz aller Heterogenität des Phänomens innerhalb der einzelnen Gruppen, welche Überlappungen mit Sekten und organisierter Kriminalität zeigen, verschiedene gruppenpsychologische Abläufe. Zu unterscheiden sind verschiedene hierarchische Ebenen, die vom Kommando an der Spitze über die Gruppe der handelnden Terroristen bis zu den aktiven Unterstützern und Helfern und den Sympathisanten reichen. Unter dem Aspekt der Motive kann man zwischen nationalistischem (z.B. IRA, ETA, Hamas), ideologischem (z.B. RAF, al-Qaida) und staatlich toleriertem oder gar gefördertem Terrorismus unterscheiden. Nach Hoffmann (1998) dient der kalkulierte Einsatz von Gewalt dem Erregen von Aufmerksamkeit, der öffentlichen Kenntnisnahme der Motive, der Anerkennung einer Berechtigung der Forderung, der Erlangung von Autorität und letztlich der Übernahme von Regierungsmacht. Die einander ähnelnden psychopathologischen Phänomene, welche von Dittmann (2002), als einem der wenigen Psychiater mit direkten explorativen Kontakten zu Terroristen zusammengefasst wurden, sind wie folgt zu beschreiben: Viele Terroristen, insbesondere der Leitungs- und Kommandoebenen, handeln nach einer eigenen „Psycho-Logik“, wobei gerade in der Endphase einer terroristischen Entwicklung kaum zwischen persönlicher Disposition und Auswirkungen gruppendynamischer Prozesse unterschieden werden kann. Das Leben in einer nach außen isolierten Gruppenideologie ist von entscheidender Bedeutung. Terroristen verwenden häufig eine uniforme Rhetorik, welche auf polarisierendes, undifferenziertes und absolutes Denken hinweist. Die dabei auftretende verzerrte Wahrnehmung der Realität zeigt nahezu paranoiden Charakter. Wahnerkrankungen finden sich bei terroristischen Gruppentätern kaum, wohl aber scheinen die als „charismatisch“ erlebten Führergestalten häufig pathologischen bzw. paranoiden Motiven zu folgen. De Boor (1978) bezeichnet überwertige Ideen, welche bei steigender Spannung zur Realisierung von Gewalttaten führen, als „Monoperceptose“. Als weitere wichtige Elemente werden infantile Omnipotenzgefühle, hohes Aggressionspotenzial, chro-

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nische Identitätskrise, Egozentrizität und Narzissmus, gestörte Partnerbeziehungen und starke Verdrängungsmechanismen genannt.

Resümee Obwohl das Verbrechen sein Gesicht wandelt und die Zahl der schweren Gewalttaten und Kriege insgesamt rückläufig ist, bleibt zu befürchten, dass Amok, Massaker und Terror nicht verschwinden, wegen der geänderten technischen Möglichkeiten aber folgenschwerer sein werden. Auch die forensische Psychiatrie wird sich mit diesen speziellen Verbrechen vermehrt befassen müssen. Dabei gewinnt die neue Rolle des forensischen Psychiaters als Vermittler und Erklärer – ob man nun will oder nicht – an Bedeutung. Gerade bei der Erklärung großer Verbrechen wird die Psychiatrie mehr ins Schaufenster der Öffentlichkeit gestellt als bei jeder anderen Diskussion. Große Verbrechen stellen als negative „Idealtypen“ des Bösen ein wichtiges Forschungsfeld dar und werden wesentlich zum Fortschritt unserer Wissenschaft, für welche Norbert Nedopil so viele Impulse gegeben und Beiträge geleistet hat, beisteuern. Diese großen Verbrechen werfen aber auch Grundsatzfragen der forensischen Psychiatrie auf, jene nach der Freiheit des menschlichen Willens, nach der Abgrenzung von extremem Fanatismus und Wahn bzw. der psychopathologischen Nähe zwischen fanatischer und wahnhafter Idee und der bereits von Böker und Häfner (1973) diskutierten Frage, inwieweit bei wahnhaften Störungen in allen Fällen exkulpiert werden soll. Es wäre durchaus denkbar, so haben diese beiden Autoren in ihrem historischen Werk geschrieben, dass bei fehlender Einsicht in das Krankhafte des Wahns doch Einsicht und Selbstkontrolle enthalten sind. Gerade die aktuelle Diskussion um die Zurechnungsfähigkeit des norwegischen Massakristen hat gezeigt, dass eine schematische Exkulpierung die vielen gesunden Persönlichkeitsanteile, über die auch Wahnkranke verfügen, zu wenig berücksichtigt. Die auch in der heutigen Zeit immer wieder vorkommenden Amokläufe, die Veränderungen in der Terrorszene und das Aufkommen von neuen Massakerformen lassen erwarten, dass sich für forensisch-psychiatrische Gutachter neue Felder auftun und der Rat des exzellenten, international anerkannten Fachmannes Professor Norbert Nedopil auch nach seinem 65. Geburtstag bei Gericht und in den Medien dringend gefragt sein wird.

Literatur Adler L (2000) Amok. Eine Studie. Belleville München Adler L, Marx D, Apel H, Wolfserdorf M, Hajak G (2006) Zur Stabilität des „Amokläufer“-Syndroms. Kontentanlaytische Vergleichsuntersuchungen von Pressemitteilungen über deutsche Amokläufer der Dekaden 1980–1989 und 1991–2000. Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie 74, 582–590 Adler L (2010) Amok im Spektrum homizidal-suizidaler Handlungen. Suizidprophylaxe 37(1), 8–14 Arendt H (1965, 2008) Über das Böse – Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Piper München Bannenberg B (2010) AMOK – Ursachen erkennen – Warnsignale verstehen, Katastrophen verhindern. Gütersloher Verlagshaus Böker W, Häfner H (1973) Gewalttaten Geistesgestörter, Springer Berlin, Heidelberg, New York Bondü R, Meixner S, Bull HD, Robertz FJ, Scheiterhauer H (2008) Schwere, zielgerichtete Schulgewalt: School Shootings und „Amokläufe“. In: Scheithauer H, Hayer T, Niebank K (Hrsg.) Problemverhalten und Gewalt

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Literatur

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