MYP MAGA ZINE
T H E M Y PA G E S M A G A Z I N E
„Alles ist wichtig nur auf Stunden.“ Theodor Fontane
Meine Wut 14 fotografiert von Maximilian Kรถnig
Prolog Meistens kommst du aus dem Nichts. Wie ein Gewitter überfällst du mich, raubst mir den Verstand, den Schlaf, das Lächeln. Und du machst mich blind. So blind, dass ich orientierungslos im Gestern treibe und vergesse, dass es auch ein Heute gibt. Ich weiß, du wirst einmal vergehen. Im Gestern bist du meine Wut. Was du im Heute bist, das weiß ich nicht.
Inhalt
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Boris
48 70 80 86 94 118 124 130 136 142 180 186 192 198 228 234 240 246 252 258 266 272
Johann Päßler Pedro Panaché Anke Nunheim Inflection Metronomy Benjamin Hanus Marc Cantarellas-Calvó Sarah Victoria Schalow Jodi Melody Kilian Kerner Natalie K & Dirk Brune Johannes Heidner Jakob Temme I Heart Sharks Ramona Frauenrath Franziska Stetter Marieke Fischer Louise Borinski Stefania Pop Jenny Fitz Lukas Leister Jonas Meyer
280 282
Danke Impressum
Gewidmet dem Verg채nglichen
B or is Dolins ki ist 52 J a h re a lt , DJ un d le bt in B e rlin .
www.ostgut.de
Bor
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Reduktion Interview & Text: Jonas Meyer Fotos: Maximilian Kรถnig
Sonntag, den 26. Januar 2014, um 3:00 Uhr morgens. Wer seinen Blick gerade auf den Mann gerichtet hat, der in der Panorama Bar seit drei Stunden hinter dem Plattenteller steht, kann für den Bruchteil einer Sekunde beobachten, wie er seinen Kopf zur Seite dreht, die Augen schließt und dabei seinen Oberkörper leicht nach hinten neigt – als gäbe es da irgendetwas, das ihn halten würde. In diesem Moment breitet sich unter seinem dunklen Bart ein Lächeln aus, das so anders ist als all’ die vielen Lächeln um ihn herum: Tiefer. Zuversichtlicher. Und geprägt von einem ganzen Leben. Elf Wochen später auf der anderen Seite der Spree. Der Wind ist heute so wild und eisig, als läge Kreuzberg direkt an der Nordsee. Boris, so heißt jener DJ aus der Panorama Bar, steigt an der Oberbaumbrücke von seinem Fahrrad und begrüßt uns freundlich. Über eine kleine Zufahrt zwischen Watergate und Magnet Club schlendern wir gemeinsam in den Innenhof eines großen Gebäudekomplexes, wo sich trotzig zwischen kernsanierten Wohnungen und Büros ein altes Backsteingebäude befindet: Das Kesselhaus aus dem 19. Jahrhundert steht heute als Vereinsheim in der Obhut des Mindpirates e.V. – einem Verein und Kunstkollektiv, das sich seit 2008 durch sein vielfältiges Programm zu einer festen Größe des Berliner Kultur- und Nachtlebens entwickelt hat. Wir steigen eine kleine Treppe hinab, öffnen die schwere Stahltür am Eingang und betreten den imposanten Innenraum des Kesselhauses: Unter einer knapp zehn Meter hohen Decke erstrecken sich zwischen Stahl und Stein drei Ebenen, die durch gewaltige Fenster mit bunt gefärbtem Glas erhellt werden. Man glaubt fast, in einer kleinen
Kirche zu sein, wären da nicht die vielen Masken, Fotoprints und Kunstwerke, die das Innere des Vereinsheims der Mindpirates schmücken. Nach einem kurzen Rundgang machen wir es uns auf der untersten Ebene gemütlich. Je nach Veranstaltung wird dieser Raum auch als Tanzfläche genutzt und so gibt es hier sogar eine kleine Bar samt Mini-Mischpult. Boris nimmt auf einem Hocker in der Mitte des Raums Platz, schaut sich neugierig um und lächelt uns an.
Jonas: Du bist in den 60er Jahren in Neukölln aufgewachsen. Welche Bilder hast du im Kopf, wenn du an deine Kindheit und Jugend denkst? Boris: Da entstehen in meinem Kopf keine wirklich spektakulären Bilder: Wie alle anderen Kinder habe auch ich auf der Straße gespielt und bin ganz normal zur Schule gegangen. Außergewöhnliche Erinnerungen gibt es bei mir erst ab dem Jahr 1981: Ich hatte gerade die Schule abgeschlossen und wollte eigentlich studieren, doch dafür war mein Abi zu schlecht. Also habe ich ein paar Monate lang gejobbt und dann gemeinsam mit einem guten Freund beschlossen, drei Monate lang Sri Lanka zu bereisen. Wir wollten uns damals beide eine Auszeit gönnen und so weit wegfahren, wie es mit unseren finanziellen Mitteln nur möglich war. Wir hatten damals eine superschöne Zeit, das Land war einfach paradiesisch. Als ich 1982 nach Berlin zurückkam, fing ich wieder an, in verschiedenen Jobs zu arbeiten. Lange hat es mich aber nicht hier gehalten und so bin ich Mitte 1983 nach Barcelona gezogen.
„1985 hatte man das Gefühl, alles sei irgendwie eingeschlafen.“ Jonas: Ist es dir schwer gefallen, so plötzlich alle Zelte in deiner Heimatstadt Berlin abzubrechen? Boris. Nee, für mich war absolut klar: Ich zieh’ jetzt nach Amerika und das war’s. Jonas: New York war ja immer schon der Inbegriff von Sehnsucht. Boris: Und früher noch viel mehr als heute! Damals kannte man ja nicht so viel von der Stadt. Man wusste über New York nur das, was man mal in einer Zeitschrift gelesen oder im TV gesehen hatte. New York wirkte damals wesentlich geheimnisvoller als heute – es gab ja auch kein Internet, das es einem ermöglichte, mal eben virtuell die Stadt zu erkunden. Jonas: War New York damals nicht auch wesentlich gefährlicher als heute? Boris: Ich empfand New York nie als gefährlich. Natürlich passierte in dieser Metropole so einiges, aber das Image einer gefährlichen Stadt wurde auch sehr stark von den Medien gezeichnet. Und außerdem: Wenn man aus Berlin stammt, was soll da in New York noch wirklich gefährlich sein? Ich jedenfalls sah nie so aus, als würde ich aus einem Milieu kommen, bei dem es sich lohnen würde, mich zu überfallen. Jonas: Du hattest auch das extreme Glück, nicht alleine dort zu sein – in New York kann man sich schnell einsam und verloren fühlen.
Boris: Stimmt, aber ich hatte nie wirklich ein Problem damit, die Stadt auch alleine zu erkunden. Außerdem hat es auch nur ein halbes Jahr gedauert, bis ich wieder in Berlin war: Mein Visum lief Anfang 1985 ab, ich musste also zurück nach Deutschland. Jonas: Hat es dich sehr geschmerzt, New York wieder verlassen zu müssen? Boris (zögert einen Augenblick): Hmm nein, eigentlich nicht. Es war damals natürlich schon ein absolut umwerfendes Gefühl, als 24jähriger Berliner nach New York zu kommen und plötzlich nur noch Hochhäuser zu sehen. Aber ich hatte in der kurzen Zeit ja auch nicht wirklich Fuß fassen können in der Stadt, weshalb es auch nicht schlimm war, wieder zurück nach Berlin zu gehen. Jonas: Da stehst du Anfang 1985 plötzlich wieder da... Boris: Ja, aber Berlin ist Gott sei Dank eine Stadt, in der man immer wieder neu anfangen kann. Vor allem damals war es noch eine totale Schneewittchen-Stadt im Tiefschlaf, in der man billig leben konnte und leicht einen Job finden konnte. So habe ich bald angefangen, unter anderem in der Oranienbar zu arbeiten. Das hat mich für ein paar Monate über Wasser gehalten. Alles war damals neu in meinem Leben: neuer Job, neue Wohnung, neuer Mitbewohner – der hatte mich übrigens als einziger vorher in New York besucht, was ich sehr cool fand. So sind wir richtig gute Freunde geworden. Mein Mitbewohner war es auch, der mich im September 1985 gefragt hatte, ob ich nicht Lust hätte, gemeinsam mit ihm über Weihnachten und Silvester wieder nach New York zu fliegen und dort richtig einen drauf zu machen. Natürlich habe ich ja gesagt.
Ursprünglich wollten wir nur drei Wochen bleiben, aber kurz nach Silvester haben wir feststellen müssen: „Es ist einfach viel zu geil hier, wir machen gerade die beste Cluberfahrung unseres Lebens!“ Also haben wir kurzerhand unseren Aufenthalt auf März verlängert. Jonas: Aber auch im März bist du nicht zurückgekommen. Boris: Nein, mein Kumpel ist zwar zurückgeflogen, aber ich fand’s viel zu aufregend und bin geblieben. Es hatten sich zu der Zeit auch einfach schon zu viele Dinge in meinem Leben manifestiert. Jonas: Wie meinst du das? Boris: Ich hatte Anfang 1986 bereits ein WGZimmer in Brooklyn – für sagenhaft billige 100 $ pro Monat! Außerdem hatte ich als Abräumer in einem Lunch-Restaurant gearbeitet und dort 250 $ in der Woche verdient, was zum Überleben absolut gereicht hat. Dadurch hatte ich in gewisser Weise ein geregeltes Leben. Außerdem hatte ich neue Freunde gefunden und konnte fließend Englisch. So ist Berlin in meinem Kopf immer weiter in den Hintergrund gerückt. Und so beschlich mich der Gedanke, dass ich ja vielleicht doch mehr oder weniger sesshaft werden könnte. Jonas: Sesshaft werden mit 24 Jahren? Das klingt dann doch eher etwas konservativ. Boris: Wir reden von sesshaft werden in New York! Das ist einfach eine Metropole, die um ein Vielfaches größer ist als Berlin und dementsprechend auch etwas anderes anzubieten hat. Um es in einem Satz zu sagen:
New York ist eine Potenzierung von Berlin. Übrigens meine ich mit sesshaft werden, dass ich ein Gerüst hatte, mit dem ich mich sicher fühlte und mein Leben genießen konnte: Ich konnte hier tausend Leute kennenlernen und alles mitnehmen – ohne zu denken, nur Besucher zu sein und bald wieder gehen zu müssen. Für mich war das eine optimale Basis. Jonas: Während andere in deinem Alter also bereits an Reihenhaus und Kinder gedacht haben, hast du in New York quasi in einem ständigen Jetzt gelebt. Boris: An Reihenhaus oder Kinder habe ich nie gedacht, so ein Leben auf Nummer sicher kam für mich einfach nicht in Frage – auch wenn ich im Jahr 1982 mal für einige Monate als Sachbearbeiter bei einer Krankenkasse gearbeitet hatte. Man wollte mich sogar übernehmen und bot mir 14 Monatsgehälter und flexible Arbeitszeiten an. Aber irgendwie wollte ich so ein Leben nicht. Jonas: Was wolltest du denn? Boris: Ich wollte mich nicht festsetzen, sondern Abenteuer erleben – auch in Bezug auf das Nachtleben. In Berlin war die Clubszene zwar Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre noch richtig aufregend, aber 1985 hatte man das Gefühl, alles sei irgendwie eingeschlafen. Jonas: Dafür bist du ja ab 1986 immer tiefer in die New Yorker Clubszene eingetaucht. Ist diese Zeit dafür verantwortlich, dass Musik einen so hohen Stellenwert in deinem Leben hat?
„Alle Plätze in den Clubs waren bestezt – DJ werden konnte man quasi nur, wenn ein anderer starb.“
Boris: Ganz allgemein bin ich bereits sehr früh mit Musik in Berührung gekommen, da ich mir schon als Jugendlicher diverse Schallplatten gekauft habe. Und seit ich 1980 angefangen habe auszugehen, kamen auch etliche 12-Inches dazu – ich mochte einfach Clubmusik sehr. Tatsächlich gab es aber in New York einen berühmten Club namens Paradise Garage, der für mich absolut prägend war. Larry Levan, der dortige Resident-DJ, hat mich musikalisch und stilistisch sehr beeindruckt. Ich habe ihn drei Jahre lang fast jede Woche in dem Club gehört und würde ihn heute als so etwas wie meinen Mentor bezeichnen – obwohl ich ihn persönlich nie kennengelernt habe.
Boris: Ende der 80er haben in New York etliche Clubs geschlossen, auch die Paradise Garage. Es gab einen neuen Bürgermeister, der die Stadt gründlich umkrempelte und in gewissem Maße „säubern“ wollte. Es gab tiefe Einschnitte im kulturellen Bereich und man hatte plötzlich das Gefühl, dass hier gerade eine Ära zu Ende geht. Zur gleichen Zeit passierte in meiner Heimatstadt Berlin etwas, das mich als Mauerkind persönlich sehr berührte: Durch den Spiegel konnte ich im September und Oktober 1989 erfahren, dass in Deutschland irgendwie alles in Bewegung geriet: Botschaften wurden besetzt, DDR-Bürger reisten über Ungarn in den Westen aus und alles geriet total ins Schwanken.
Jonas: Ist damals in dir das Gefühl entstanden, dass du selbst eher hinter den Plattenteller gehörst als davor?
Jonas: Hast du wenigstens den 9. November 1989 in Berlin erlebt?
Boris (lacht): Nein, das kam erst viel, viel später – noch befinden wir uns ja in den 80ern! Ich hatte eigentlich nie den Gedanken, DJ werden zu wollen. Zwar habe ich immer Musik gekauft und im Laufe der Jahre auch eine riesige Plattensammlung angehäuft, aber in New York hat sich mir eine solche Frage nie gestellt. Damals hatte jeder Club seinen festen Resident-DJ – diesen DJ-Tourismus, wie man ihn heute kennt, gab es da noch nicht. Es war daher so gut wie unmöglich, in diese kleine Szene einzubrechen: Alle Plätze in den Clubs waren besetzt – und DJ werden konnte man quasi nur, wenn ein anderer starb. Jonas: Du bist letztendlich in New York doch nicht sesshaft geworden, sondern nach gut vier Jahren wieder nach Berlin zurückgekehrt. Was war passiert?
Boris: Nein, leider nicht, da war ich noch in New York. Ich habe im amerikanischen Fernsehen eine fünfminütige Reportage über den Mauerfall gesehen – mehr nicht. Gerade einmal fünf Minuten über das Ende des Kalten Krieges! Ich wollte jetzt unbedingt nach Berlin zurück. Innerhalb weniger Wochen habe ich daher meine Zelte abgebrochen und Anfang März 1990 New York den Rücken gekehrt. Jonas: Wie hast du deine Ankunft in Berlin erlebt? Boris: Meine Schwester hat mich mit dem Auto vom Flughafen Schönefeld abgeholt. Ich konnte das gar nicht glauben: Nirgendwo gab es Volkspolizisten. Und als wir im Auto saßen, sagte sie plötzlich: „Wir gehen jetzt Unter den Linden einen Kaffee trinken.“
Das war für mich unglaublich, ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es hat auch einige Wochen gedauert, bis ich mich an diese Situation gewöhnen konnte. Jonas: Und dann hast du in deinem Leben schon wieder neu angefangen. Boris: Ich hatte Gott sei Dank etwas Geld mitgebracht und konnte mich daher zuerst einmal in aller Ruhe umschauen. Über gute Freunde bin ich an einen Job in einer angesagten Bar gekommen und habe mich wenig später mit dem Besitzer angefreundet. Er hieß Marc Ernestus und hatte gerade den Plattenladen Hardwax eröffnet. Wir haben uns ewig über Musik unterhalten und ich habe ihm von meiner riesigen Schallplattensammlung erzählt, die ich bei meinem Umzug aus New York nach Berlin verschiffen ließ. Marc hat mir das Angebot gemacht, ihm beim Sortiment zu helfen und die internationalen Bestellungen zu machen. Auch wenn ich dort anfangs nichts verdient habe, habe ich gerne zugesagt. So hatte ich plötzlich wieder mit Schallplatten zu tun – und als der Laden immer größer und anspruchsvoller wurde, wurde ich auch irgendwann bezahlt. Aber der Ausschlag gebende Grund, warum ich letztendlich DJ geworden bin, ist ein sehr enger Freund von mir. Irgendwann im Jahr 1991 sagte er zu mir: „Mensch, du hast diese vielen Platten aus Amerika mitgebracht, du musst doch auflegen!“ Das war aber eigentlich überhaupt nicht so mein Ding. Also schlug er vor, dass wir das gemeinsam machen könnten, und ich habe ja gesagt. Wir sind dann mit unseren Plattenspielern und Mischpult in Schöneberg von Bar zu Bar gezogen und haben gefragt, ob wir dort musikalisch den Abend gestalten dürfen.
Es gab dafür zwar kein Geld, aber wir konnten umsonst trinken und dabei unsere eigene Musik spielen. Jonas: Wie war die Resonanz? Boris: Das Ganze lief erstaunlich gut, wir haben wöchentlich in den verschiedensten Bars Musik gemacht. 1994 wurden wir sogar gefragt, ob wir im SO36 in Kreuzberg auflegen wollen. Damals gab es eine sehr angesagte Party namens „Hungrige Herzen“, die immer brechend voll war. Dort haben wir dann letztendlich 18 Monate lang alle vier Wochen aufgelegt, das war super! Jonas: Und dabei hat es angefangen, so richtig in den Fingern zu kribbeln? Boris: Klar, das hat damals einfach total viel Spaß gemacht – auch wenn es von Auftritt zu Auftritt ein Kampf war: Das SO36 war immer schon sehr alternativ, daher mussten wir uns an die Vorgabe halten, unsere HouseMusik erst ab 2:00 Uhr aufzulegen – und vorher waren wir gezwungen, solche Sachen wie The Cranberries zu spielen. Im Laufe der Monate hat sich das zeitlich aber immer weiter nach vorne verschoben. So durften wir irgendwann schon ab 1:00 Uhr und schließlich sogar ab 0:00 Uhr die Musik spielen, die nicht nur wir lieber mochten, sondern auch das Publikum. Aber leider wurde Mitte 1995 das Führungsplenum des SO36 gewechselt. Da gab es plötzlich Leute, die relativ viel an uns rumzunörgeln hatten. Wir wurden in der Konsequenz nicht mehr gebucht und die ganze Sache ist eingeschlafen.
„Ich glaube, ich bin damals einfach zu sehr in meinen New Yorker Erinnerungen versunken.“ Jonas: Wie ging es danach weiter? Boris: Zwei Freunde von mir arbeiteten damals in der Motzstraße in einer Schwulenbar namens Hafen. Sie erzählten mir, dass sie für ihre Schicht einen DJ suchen – und so haben wir kurze Zeit später dort gemeinsam den Donnerstag gestaltet. Bis 1999 habe ich vier Jahre lang jede Woche im Hafen aufgelegt. Verglichen mit dem, was damals in Berlin clubmäßig los war, war das zwar nichts Großartiges, aber mit den angesagten Läden wie Tresor, E-Werk oder Planet konnte ich zu der Zeit eh nichts anfangen: Ich kam mit vollkommen anderen Musikvorstellungen und Erfahrungen aus New York, daher war mir diese neue Berliner Clubszene ziemlich fremd. Jonas: Was genau hat dich daran gestört? Boris: Ich glaube, ich bin damals einfach zu sehr in meinen New Yorker Erinnerungen versunken und konnte mich deshalb nicht auf die Clubszene hier einlassen. Vielleicht war diese Einstellung auch ein wenig arrogant, wer weiß. Jonas: Eventuell hast du auch ein wenig die finanzielle Basis und den geregelten Job vermisst, die dir in New York eine gewisse Sicherheit gegeben haben. Boris: Ich habe Ende der 90er in Berlin tatsächlich wenig Geld verdient. Aber dafür bin ich meiner Leidenschaft gefolgt. Ob es jetzt die Arbeit im Hardwax war oder das Auflegen im Hafen: Ich kam einfach ständig mit Musik in Berührung.
Jonas: Wahrscheinlich hätte dich auch alles andere unglücklich gemacht. Boris: Um ehrlich zu sein: Ein wenig unglücklich war ich schon, als unser Engagement im SO36 zu Ende ging und ich vier Jahre lang im Hafen jede Woche mehr oder weniger die gleiche Musik gemacht habe. Irgendwann habe ich mir daher einige Fragen gestellt: Was ist dieses Musikmachen eigentlich für mich? Ist das ein Hobby? Oder hat es vielleicht doch Potenzial für mehr? Soll ich damit überhaupt weitermachen? Oder das Ganze eher fallen lassen? Ich saß total in der Klemme, denn ich konnte ja mit der Berliner Clubszene nach wie vor nichts anfangen – was ja die Grundvoraussetzung gewesen wäre, um hier professionell Fuß zu fassen. Aber dann ist glücklicherweise 1998 das Ostgut entstanden. Jonas: Ein legendärer Ort. Boris: Ja – und in gewisser Weise ein Persona non grata-Club. Jonas: Wie meinst du das? Boris: Das Ostgut lag in einem Gebiet, in dem es Ende der 90er keinen öffentlichen Nahverkehr gab. Man ist entweder mit dem Fahrrad hingefahren, hat ein Taxi genommen oder ging zu Fuß. Das war damals ein absolutes Niemandsland – stockdunkel und dazu noch hinter der Mauer. Ich hatte aber erfahren, dass es im Ostgut eine Partyreihe names „Dance with the Alien“ gab, auf der der New Yorker DJ George Morel auflegte.
Ich dachte mir: Wenn man pro Jahr fünfmal einen DJ aus New York einfliegen lässt, nur um ihn im Ostgut auflegen zu lassen, dann kann ich mich da ja auch mal bewerben. Also habe ich eine Mixkassette zusammengestellt und einem Freund zugesteckt, der damals an der Bar gearbeitet hat. Eine Woche später gab er mir die Kassette zurück – mit dem Kommentar, dass er sie nicht für gut genug hielt, um sie weiterzugeben. Das war’s für mich, alles in Scherben. Jonas: Die Sonne geht doch immer wieder auf, wenn sie mal untergegangen ist. Boris: Ja, aber es war trotzdem deprimierend. Jetzt hatte ich mal den Schritt gewagt, mich tatsächlich als DJ zu bewerben, und dann funktionierte es nicht. Aber wie das Leben so spielt, habe ich kurze Zeit später den Musikjournalist Thilo Schneider kennengelernt. Thilo schrieb damals für das Flyer-Magazin, das Ende der 90er ziemlich populär war. Und er war sehr fasziniert vom Ostgut – sogar so sehr, dass er den Betreibern angeboten hatte, sie beim Booking und der Künstlerauswahl zu unterstützen, was er dann auch tatsächlich zwei, drei Jahre lang getan hat. Im Sommer 1999 kam Thilo im Hafen vorbei. Als er meine Musik hörte, sagte er: „Hey, du spielst ja einen echt coolen Sound, das hört sich richtig gut an!“ Sechs Wochen später rief mich einer der Ostgut-Betreiber an und erzählte, dass ihnen noch ein DJ für die SnaxParty im Lab fehlte. Und so stand ich im September 1999 zum ersten Mal dort hinter dem Plattenteller. Nach meinem ersten Auftritt schauten die Betreiber vorbei und fanden es gut, was ich da machte. Sie erzählten mir, dass sie im Januar 2000 einen weiteren Floor namens Panorama Bar eröffnen wollen, und fragten mich, ob ich mir vorstellen könnte, dabei zu sein.
Natürlich habe ich zugesagt! So fing vor 15 Jahren alles an – dank Thilo Schneider. Jonas: Hattest du nun das Gefühl, plötzlich alle Antworten auf die Fragen gefunden zu haben, die du dir noch kurz vorher gestellt hattest? Boris: Nicht plötzlich, aber die Antworten haben sich im Laufe der nächsten Monate immer stärker manifestiert. Zu Ostgut-Zeiten habe ich ja ausschließlich im Ostgut aufgelegt, da habe ich an ein Leben als hauptberuflicher DJ noch nicht gedacht. Und dementsprechend gab es damals auch noch keine Gedanken an eine Booking-Agentur – das kam erst mit dem Berghain, dem Nachfolgeclub des Ostgut. Seitdem wurde ich immer öfter von nationalen und internationalen Clubs angefragt und bin dadurch in den letzten Jahren ziemlich in der Welt herumgekommen. Jonas: Im Jahr 2003 musste das Ostgut schließen, weil auf dem dortigen Gelände die O2-Arena errichtet werden sollte. Wie hast du das Ende des Clubs erlebt? Boris: Das war für mich und viele andere Berliner der absolute Weltuntergang! Man muss wissen, dass das Ostgut von 1998 bis 2000 ein hartgesottener Schwulenclub mit marginalem Frauenanteil war, zu dem die neue Panorama Bar ab dem Jahr 2000 ein Gegengewicht darstellen sollte – softer, hedonistischer und mit etwas anderer Musik. Dadurch ist das Ostgut schlagartig zum hipsten Club Berlins geworden. Und es war der einzige Ort in der Stadt, an dem man bis in den späten Sonntagnachmittag feiern konnte.
Es ist sowieso unnĂśtig, irgendetwas festhalten Leider liegt es in der Na sich zwanghaft an das z was glĂźcklich macht.
zu wollen. atur des Menschen, zu klammern,
Jonas: Eine interessante Parallele zur Paradise Garage im New York der 80er...
Jonas: Hast du dabei nicht das Gefühl, dich vor deinem Publikum komplett zu offenbaren?
Boris: Stimmt, allerdings ging dort die Party nur bis 12:00 Uhr mittags und es gab keinen Alkohol. Wie bei der Paradise Garage dachte man aber auch beim Ostgut, dass es das Beste ist, was es in der Stadt gibt. Und so wurde der Club auf einmal überrannt, als irgendwann der Termin für den Spatenstich der O2-Arena feststand und damit das Ende des Ostgut besiegelt war. Jeder wollte noch mitnehmen, was geht. Es hat sich damals ein regelrechter Kult entwickelt, die Leute haben sogar geweint.
Boris: Manchmal. Aber nicht immer.
Wir verlassen den kleinen Clubraum und steigen einige Treppenstufen zur zweiten Ebene hinauf. Das bunte Glas der riesigen Fenster kreiert gemeinsam mit der Stille eine sonderbare Stimmung in dem Raum: Fast andächtig ist es hier – und trotzdem farbenfroh.
Jonas: Beflügelt dich dieses Wissen?
Jonas: Hat sich bei dir im Laufe der Jahre das Bedürfnis entwickelt, etwas Bestimmtes mit deiner Musik zu sagen? Oder ist das Auflegen für dich etwas, das rein aus deinem Gefühl heraus entsteht? Boris: Musik bedeutet irgendwie alles für mich, daher gibt es da bei mir einen gewissen Automatismus: Seit ich auflege, drücke ich mich auch emotional darüber aus. Ich spiele einfach, wie ich von innen her spielen will. Und egal in welcher physischen Verfassung ich bin, ob müde oder nicht müde – sobald ich hinter dem Plattenteller stehe, ist alles verflogen und die Energie da. Und dann versuche ich, mein ganzes Gefühlsspektrum und meine Gedankenwelt so über die Musik zu transportieren, dass die Leute das irgendwie annehmen, aufnehmen und verstehen können.
Jonas: Nimmst du bewusst wahr, dass du mit deiner Musik andere Menschen in gewisser Weise steuern kannst? Boris: Ja natürlich! Das wird mir durch das enorme Feedback bewusst, das mir die Leute geben. Es ist einfach schön zu wissen, dass man Menschen so tief in ihrer Gefühlswelt berühren kann.
Boris: Auf jeden Fall bestätigt es einen in dem, was man tut. Ich habe gemerkt, dass ich mit meiner Musik irgendwie in der Lage bin, einen ganz bestimmten Draht zu den Leuten aufzubauen. Jonas: Das klingt sehr bescheiden. Boris schweigt. Jonas: Ist dir Bescheidenheit wichtig im Leben? Boris: Ich würde jetzt nicht sagen, dass es mein Lebensmotto ist, aber ich finde es schon wichtig, dass man mit wenig auskommt und auch versucht, sich auf wenige Sachen zu konzentrieren. Man sollte im Leben einfach versuchen, so wenig materialistisch wie möglich zu denken – das Einzige, wo ich mich selbst nicht reduzieren kann, ist die Musik. Jonas: Könntest du dir vorstellen, in deinem Leben auch etwas ganz anderes zu tun?
„Das Einzige, wo ich mich selbst nicht reduzieren kann, ist die Musik.“
Boris (lacht): Etwas anderes tun? Ich koche gerne – aber nur für Freunde, nicht professionell. Mit dem Kochen ist es bei mir übrigens wie mit der Musik: Ich experimentiere gerne und probiere viele neue Kombinationen aus. Deshalb mag ich auch das Berghain so sehr – ich kann dort einfach Dinge machen, die nur dort funktionieren. Das liegt zum einen an der Anlage und zum anderen an dem ganz besonderen Umfeld: Das Team, die Gäste und überhaupt die ganze Situation dort machen es möglich, dass ich genau das tun kann, was ich tue. Jonas: Würdest du sagen, dass das Berghain ein elementarer Teil deines Lebens ist? Boris: Ich fühle mich im Berghain absolut zuhause und sehr gut aufgehoben – daher möchte ich es nie missen. Aber alles geht ja irgendwann auch mal vorbei: Das Berghain geht vorbei, ich gehe vorbei – man kann nichts festhalten.
Es ist sowieso unnötig, irgendetwas festhalten zu wollen. Leider liegt es in der Natur des Menschen, sich zwanghaft an das zu klammern, was glücklich macht. Ich persönlich glaube aber, dass das der absolut falsche Blick auf’s Leben ist. Das Glück liegt eher in der Vergänglichkeit. Das macht es so wertvoll.
Boris schließt für einen Moment seine Augen, öffnet sie wieder und wirft uns einen festen Blick entgegen. Ganz langsam ziehen sich dabei seine Mundwinkel nach oben. Da ist es wieder, dieses Lächeln, das schon vor elf Wochen so anders war als all’ die Lächeln um ihn herum. Würde er jetzt wie damals seinen Oberkörper leicht nach hinten neigen, man wüsste, was ihn halten würde – auch dann, wenn alles einmal vorbei geht.
Joha Päß
Johann Päßle r ist 21 J a h re a lt und lebt in Stollb e rg un d B e rlin .
ann äßler
Wegbegleiter
Text: Johann Päßler Fotos: Roberto Brundo
Ein normales Leben? Ja, das hört sich ganz gut an. In meinen Gedanken mahlen sich diese Bilder auch sehr gut von allein. Doch ist das der Weg, den der Mensch einschlagen sollte? Sein Leben so zu strukturieren, wie es jeder andere macht und uns vorlebt? Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen und hier sieht der Lebensplan jedes Einzelnen im Grunde gleich aus. Man geht zur Schule, macht seinen Abschluss, geht studieren oder macht eine Ausbildung - und dann arbeitet man so lange, wie es eben möglich ist, um seine Familie zu versorgen und vielleicht sogar noch ein kleines Haus zu bauen. Aber was ist mit den Menschen, denen das nie und nimmer ausreicht? Mit denen, die sich selbst verwirklichen müssen, damit sie nicht an sich selbst kaputt gehen? Ich selbst zähle mich zu ihnen und ich kann mir bis heute noch nicht vorstellen, einen normalen Beruf auszuführen, der mir meine Zeit für meine Interessen stiehlt. Ich möchte Musik machen, produzieren, all‘ meine gesammelten Eindrücke in meinem bisherigen Leben in Hörbares formatieren, um anderen eine Geschichte zu erzählen und sie an ihre eigenen, längst vergangenen zu erinnern. Wenn mich jemand fragt, wo ich beruflich hin möchte, antworte ich nicht immer gleich. Es kommt ganz darauf an, wer mich fragt. Man kann sich gar nicht vorstellen,
wie viele den Wunsch belächeln, mit Musik Geld zu verdienen. Deshalb gebe ich jedem die Antwort, die für ihn am besten ist. Das ist meine größte Wut: sich so oft einfach anpassen zu müssen, um ein wenig bequemer zu leben oder zumindest so zu leben, dass es gut erträglich ist, so lange man an seinen Umständen nichts ändern kann. Diese Wut ist mein ständiger Wegbegleiter, obwohl ich sie mittlerweile so gut unterdrücken kann, dass sie kaum spürbar ist. Dennoch wirkt sie als Initiator für noch mehr Wut, vor allem die auf mich selbst: mich ständig zu fragen, ob ich nicht eventuell noch mehr machen könnte, um meinem Ziel näher zu kommen. Diese Wut hat mich schon des Öfteren in Verzweiflung getrieben. Und dafür hasse ich sie. Wenn ich eines über Wut gelernt habe, dann ist es, dass Wut noch nie jemandem irgendetwas gebracht hat. Aber wieso gibt es sie dann? Ich glaube, die Wut ist eine Art Prüfung an uns selbst, eine Übung, in der es unsere Aufgabe ist, uns und unsere Gedanken zu kontrollieren. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, auf diese Weise ein großes Maß an Beherrschung gewonnen zu haben - zusammen mit emotionaler Beständigkeit. Vielleicht nicht allzu schlecht in unserer Zeit.
Pedro PanachĂŠ ist 23 J a h re a lt , Musiker und lebt in St ut tg a r t .
www.pedropanache.bandcamp.com
Pedr Pana
ro achĂŠ
Cumulonimb Text: Pedro Panaché Aus: Elementrack Album: MARKIGE WORTE (2014)
Diese Tage sind gezeichnet von Stürmen und es hagelt aus den Elfenbeintürmen keine Fragen und keine Zweifel am Himmel aber manchmal sind auch Wolken nur Schimmel denn Legenden von Magie über Lüfte und Gestirne trug der Wind erst auf Papier und dann in die Gehirne jetzt streiten wir an Grenzen mit Waffen über sie doch fragt man ihre Priester, sagen die, sie würden nie wollen, dass sich einer an den Stürmen verletzt ist es nicht toll, dass man sich darauf verlässt wenn sich aus Luftunterschieden Gewitter formieren sie nicht Hass kultivieren und Kinder indoktrinieren dass sie nicht schlussendlich zum Hurricane führen an dem alles unkenntlich verwüstet wird doch dies ist nicht die Wahrheit, erst wenn goldenes Licht durch die Donnerwolken bricht, herrscht endlich Klarheit.
bus
Aufkl채rung
Text: Pedro Panaché
Jemand musste mich verleumdet haben. Denn ich habe nichts Böses getan. Tiefdruck. Die Ungerechtigkeit strömt in meinen Körper und kondensiert. Auf dem Boden der Tatsachen wird es dunkel: Wut zieht auf. Meine Aura glüht einwärts, emittiert negative Energie. Der Verstand blockiert den Affekt, wenn die Spannung es zulässt. Fragen nach Schuld und Konsequenz strahlen von oben. Unten kein Lichtblick. Ich hänge in der Gewitterzelle. „Gefangener“ nenne ich mich selbstgefällig. Mein Richtstab ist zum Bersten gespannt. Ich lese die Anklageschrift. Rufe die Beschuldigten auf. Oft kommen sie ohne Gesicht. Tragen die Uniformen eines Systems, deren Teil Sie sind. Aber ich schaue genau hin und erkenne Menschen. Doch die Erkenntnis entlastet mich nicht. Negative Energie kann ich nicht wegdenken. Sie erhält sich. Also wandle ich sie. Ich strebe nach Hochdruck. Output. Ich nehme meinen Stift wie einen Hammer und richte meinen Fokus auf das leere Blatt Papier. Enthülle die Geister. Trenne Ursache und Wirkung. Der Wind dreht allmählich. Jemand greift mich an. Doch ich kämpfe mit mir selbst. So können die anderen nicht gewinnen. Mögen sie spüren, wie ich stärker werde.
Anke Nunh
e heim
Anke Nunheim ist 26 J a h re a lt , Fotok端nstlerin und lebt in B e rlin .
www.nishini.de
Text & Foto: Anke Nunheim
Snæfellsjökul Alles wird zerbrochen, vermengt und für alle Zeit zusammen aufgehäuft. Höher und höher, bizarr und majestetisch in den Himmel ragend. Darunter verborgen sind Welten aus vergangenen Zeiten. Brodelnde Giganten unter dem ewigen Eis. Grau. Kalt. Magisch. Ich versuche nach dir zu schreien, dir entgegen zu schreien, mich hinaus zu schreien, doch kein Laut verlässt meine Lippen. Und langsam beginnt es zu regnen. Auf nackte Menschen prasselnd, schmerzhaft und Löcher hinterlassend. Unaufhörlich, ohne Rücksichtnahme. Instabil und rastlos. Auch die Strahlen der Sonne können es nicht beschönigen.
ll
Inflec
Maximilian B ach un d Ph ilip p S e ut h e sind Mus ike r un d le b e n in Kรถln .
www.soundcloud.com/inflection-music
ction
Wutstationen Text: Maximilian Bach & Philipp Seuthe Fotos: Florian Dรถrr
P 14.12.11 Hochschule für Musik und Tanz Köln. Mein Professor für Musikpsychologie behauptet, dass Wut zu den Grundgefühlen gehört. Eifersucht zähle auch dazu. Ich melde mich und widerspreche, da Eifersucht für mich eine Synthese aus Wut und Angst darstellt. Mein Professor erwidert, dass er sich diesen Einwand merken werde. Er erwähnt ferner, dass die Art und Weise, wie Menschen Wut zeigen, von (sub-)kulturspezifischen „display rules“ abhänge. Das leuchtet ein. In der Hip Hop-Szene damals war Wut immer okay. Die kultivierten Musikstudenten haben es nicht so mit Wut. 16.07.12 Köln, Buchheim. Mein Tonsatzprofessor regt sich voll auf. Max und ich haben Trash produziert. Wir dachten unschuldig „Höhö, geil, wir machen brutalen Trash.“ Mein Prof findet das scheiße. Er sagt, man könne anhand objektiver Kriterien feststellen, dass unsere Musik keine Qualität habe. Der Beginn einer tollen Zusammenarbeit. 05.08.12 Amsterdam, Studio 80. Ich bin wütend, weil meine damalige Freundin vor meinen Augen mit einer anderen Frau rumgeknutscht hat, um mir eins auszuwischen. Ich habe Angst, dass der Beziehungskrieg wieder anfängt. Ich schlage meinen Hinterkopf gegen die Steinwand des Clubs. Der Türsteher schaut zu. 21.02.13 Köln, Südstadt. Ich lese eine extrem emotionale E-Mail von Max, die davon handelt, dass er meine Wutanfälle langsam nicht mehr aushält. Ich hatte mich darüber aufgeregt, dass er in einem Track von mir komponierte Sounds gelöscht hatte. In „Psychologie für Dummies“ steht, dass Wut auf der Annahme beruht, eine andere Person hegte eine schädliche Absicht gegen einen. Dass ich aufgrund einer solchen Annahme gehandelt habe, kann ich heute kaum noch glauben.
08.03.14 Köln, Braunsfeld. Max und ich proben in seiner Wohnung. Wir schreien rum und dancen zu unserem eigenen Sound. Die Nachbarn freuen sich bestimmt. Ich liebe die Syntax der elektronischen Musik. Die Semantik kann wütend ausfallen, oder auch nicht. Heute Ich möchte überhaupt nicht mehr wütend sein. Die Dämonen, die in mir die Wut verursachen sind total alt. Die sind sowas von 90er. Wie Papier. Der Inflection-Track „Postmelancholia“ handelt auch irgendwie von der Überwindung der eigenen Wut.
M 15.06.13 Auf dem Nachhauseweg. Ich habe so lange keine Wut gekannt. Und wenn doch, dann war sie immer gezähmt, immer vernünftig, immer verhältnismäßig, die kommende Versöhnung schon in sich tragend. Über ein Jahr, dass mein Vater starb, über ein Jahr „es hätte aber auch schlimmer..., wir wussten ja immer schon..., immerhin und ich kann froh sein, dass...“. Heute ist all das von mir abgefallen. Ich sehe auf einmal ganz klar, es gibt nichts zu relativieren, überhaupt nichts ist gut, an dem was geschehen ist. Eine Welle aus Wut überrollt den inneren Anstand, die Beherrschung, die morschen Barrikaden, den Weg zur absoluten Verzweiflung versperrend, bis ich nichts mehr bin als ein einziges NEIN, bis zur Erschöpfung anschreiend gegen das Unverhandelbare, gegen ein Leben, dem ich mich beugen soll. Ich will mich nicht beugen. Als sich die Wogen zurückziehen, bleibe ich gereinigt zurück. Es bleibt aber auch die Tür zu einem Gefühl, so stark und rein, wie die Liebe, der es entsprungen ist, und ebenso wie diese wohl für immer. Der Hass ist seit heute ein Teil von mir. Und ja, das beglückt mich.
Metron
J os e p h M ount ist 31 J a h re a lt un d de r G r端n d e r d e r B a n d M e t ron omy.
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nomy
Raum und Zeit Ein wenig morbide ist es ja schon, das Areal des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks im Süden Friedrichshains. Auch wenn sich in den letzten Jahren das sogenannte RAW-Gelände mit seinen diversen Galerien, Clubs, Kultur- und Sporteinrichtungen zu einer der beliebtesten Touristenattraktionen Berlins entwickelt hat, spürt man an jeder Ecke mehr das Gestern als das Heute. Und so ertappt man sich dabei, dass man hier nicht fragt, was ist, sondern nur, was war – damals, lange vor dem Jahr 2014. Es ist Sonntagnachmittag. Gemeinsam mit dem Metronomy-Gründer Joseph Mount sitzen wir hinter dem Astra Kulturhaus an einem kleinen Campingtisch und beobachten die Güterzüge, die nur wenige Meter entfernt von uns am S-Bahnhof Warschauer Straße vorbeirattern.
Die ganze Situation erscheint ein wenig unwirklich, erinnert sie doch mit ihrer Kulisse aus unzähligen Güterwaggons an ein Ostküsten-Roadmovie aus den USA. Dabei würde man Joseph instinktiv eher an der Südwestküste Englands verorten – schließlich ist er dort aufgewachsen und hat dieser Gegend vor drei Jahren mit dem Album „The English Riviera“ ein musikalisches Denkmal gesetzt.
Jonas: Vor kurzem habe ich auf einer deutschen Design-Plattform den Reiseführer „Eat, Surf, Live“ entdeckt, in dem atemberaubende Landschaftsfotos vom Südwestzipfel Englands zu sehen sind – es muss sehr inspirierend sein, in dieser Gegend aufzuwachsen und zu leben.
Fotos: Maximilian König Assistenz: Franz Grünewald Interview & Text: Jonas Meyer
Joseph: Ja, das ist es in der Tat. Die Menschen dort erleben ihre Kindheit auf eine ganz andere Art und Weise als die Leute in anderen Teilen Großbritanniens, weil es einfach schön und entspannend ist, immer in der Nähe des Meeres zu sein. Sie haben daher irgendwie eine angenehmere und unaufgeregtere Lebenseinstellung. Jonas: Du selbst bist in der Grafschaft Devon in Südwestengland aufgewachsen. Welche Erinnerungen hast du an deine Kindheit und Jugend dort? Joseph: Ich erinnere mich vor allem an die Möglichkeit, enorm viel Zeit für alles zu haben. Vor allem als Teenager hat man am Wochenende nicht wirklich die Wahl, was man tut.
Es gibt dort ja keine großen Städte und dementsprechend auch so gut wie keine Clubs. Daher ist man gezwungen, selbst kreativ zu werden und auf seine ganz eigene Art und Weise für Unterhaltung zu sorgen. Jonas: Etwa indem man seine eigene Musik macht... Joseph: Ganz genau. Und dabei ist es ein riesiger Vorteil, nicht diesem ganzen Input von irgendwelchen Clubs ausgesetzt zu sein, wie man das aus der Großstadt kennt. So kann man völlig unbeeinflusst seine ganz eigenen Ideen umsetzen. Um ehrlich zu sein: Meine Musik wäre nicht so, wie sie ist, wenn ich nicht dort aufgewachsen wäre.
Never thought abo Never saw just how much Never learned abo Never thought about it cau And I‘m aware o But normally it‘s m I guess I‘m finished up I‘m taking the ring bac „I‘m Aquarius“
out it sentimentally you thought I meant to me out it at university use you‘re the first, you see of the procedure me that leaves her p. It‘s time to move on ck to where I got it from by Metronomy
„Musik macht persönliche Momente und Zeiten oft erst lebendig.“ Jonas: Ohne Geschichte keine Zukunft. Joseph: Das kann man so sagen. Jonas: Erinnerst du dich noch, wie du zum ersten Mal bewusst mit Musik in Verbindung gekommen bist? Joseph: Als ich zehn Jahre alt war, habe ich begonnen, Schlagzeug zu spielen – das war vor 21 Jahren. Als Teenager habe ich dann in verschiedenen Bands gespielt und nebenbei angefangen, mit dem Computer Musik zu machen. Dadurch konnte ich ganz allgemein eine Menge über Musik lernen – und bin zum ersten Mal auch so richtig mit elektronischer Musik in Kontakt gekommen. Jonas: Dabei hat aber hoffentlich der Eurodance der 90er keine inspirierende Rolle gespielt. Joseph (lacht): Nein, glücklicherweise nicht! Mein Vorteil war es eher, gute Freunde mit einem sehr interessanten und ausgefallenen Musikgeschmack zu haben. Wenn man an einem Ort wie Devon lebt, braucht es eine Menge Glück, um andere Leute zu finden, die sich ebenfalls für Musik begeistern. Durch meine Freunde habe ich damals Musik kennengelernt, die ich sonst nie gehört hätte in meinem Leben. Jonas: Wann hast du gemerkt, dass du in deinem Leben nicht nur hobbymäßig, sondern wirklich professionell Musik machen willst? Joseph: Schon mit 16 war mir absolut klar, dass ich für den Rest meines Lebens Musik machen will. Wir hatten damals eigentlich eine echt tolle 5er-Band, bedauerlicherweise hat uns aber irgendwann der Sänger verlassen.
Er wollte lieber mit seiner Freundin zusammenleben und hat der Band plötzlich den Rücken gekehrt. Interessanterweise wussten die drei anderen Bandmitglieder damals ebenfalls schon ganz genau, dass sie professionell Musik machen wollen – und wie ich haben auch sie alle weiter in erfolgreichen Bands gespielt. Jonas: Du hast Ende der 90er das Projekt Metronomy ins Leben gerufen und hast zunächst als Solokünstler elektronische Musik gemacht. 2005 hast du dir mit Oscar Cash und Gabriel Stebbing musikalische Unterstützung ins Boot geholt, wodurch Metronomy zu einer echten Band wurde. War euch allen von Anfang an klar, in welche Richtung sich das Ganze entwickeln soll? Joseph: Nein, nicht wirklich. So etwas muss einfach wachsen und sich mit der Zeit entwickeln. Trotzdem hatten wir natürlich irgendwo dieselbe musikalische Grundlage, von der aus wir begonnen haben, uns als Gruppe zu formieren: Wir tauschten Musik aus und entwickelten nach und nach eine gemeinsame Vorstellung von Musik. Jonas: Und plötzlich passierte es, dass ihr einen Klassiker wie den Song „The Look“ produziert! War euch bewusst, dass ihr damit einen Sound erschaffen hattet, der die Leute sehr berührt und überall Anerkennung findet? Joseph: Als ich Ende der 90er mit Metronomy startete, befand ich mich noch in einer absoluten Lernphase, was das Musikmachen betrifft. Aber nur wenige Jahre später passierten von jetzt auf gleich große Dinge, die mich total überrascht haben – wie zum Beispiel mit „The Look“. Bei diesem Song war es besonders interessant: Ich hatte eine Art Demo mit dem Orgel-Part und konnte mir nicht wirklich
vorstellen, dass ich jemals etwas damit machen würde: Für meine Begriffe war dieser Orgel-Part fast schon lächerlich simpel. Aber dann dachte ich: Scheiß’ drauf, du bringst das jetzt zu Ende! Als ich mir den Song zum ersten Mal in der finalen Version angehört habe, habe ich in ihm nicht das gehört, was viele andere Leute in dem Track hörten – ich fand absolut nichts, was in irgendeiner Form ins Radio gepasst hätte. Aber letztendlich hat sich gezeigt: Es hängt sehr von den Leuten ab, was mit einem Song passiert – man kann eben nicht einfach so eine erfolgreiche Single produzieren. Es sind am Ende immer die Fans, die einen Song aussuchen und zu dem machen, was er ist. Jonas: Das liegt wahrscheinlich daran, dass man Musik besonders mag, wenn man sie mit bestimmten Situationen und Gefühlen verbinden kann. Ich persönlich finde euer Album „The English Riviera“ beispielsweise perfekt für endlose Samstag- oder Sonntagnachmittage – so wie den heutigen. Gibt es für dich ebenfalls diese typische Saturday Afternoon Music? Joseph: Ja klar, davon gibt es für mich eine ganze Reihe. Würden wir jetzt hier draußen in der Sonne ein Barbecue veranstalten, würde ich wohl das Album „Fulfillingness’ First Finale“ von Stevie Wonder oder „3 Feet High and Rising“ von De La Soul auflegen. Das ist zwar beides recht alt, aber erinnert mich genau an solche Tage aus meiner Teenagerzeit. Jonas: Spielt für dich in der Musik Zeit überhaupt eine Rolle, wenn Songs und Alben auch heute noch die gleiche Stimmung bei ihren Hörern erzeugen wie damals? Joseph: Manche Leute sagen, dass Musik auch existieren könne, ohne dass man sie in den Kon-
text einer bestimmten Zeit oder Situation setzen würde. Aber meiner Meinung nach macht Musik persönliche Momente und Zeiten oft erst lebendig. Es gibt ja dieses klassische Beispiel: Man ist in einem Club, lernt ein Mädchen kennen und im Hintergrund läuft ein ganz bestimmter Song. Diesen Song wirst du immer mit diesem Moment in Verbindung bringen. Ähnlich ist es bei dir mit „The Look“ und einem ewigen Samstagnachmittag Für mich selbst ist es unmöglich, Musik zu machen, ohne mir dabei über die Verknüpfung zu der jeweiligen Zeit bewusst zu sein: Wenn ich im Jahr 2014 ein Album herausbringe, wird es für immer mit diesem Jahr verbunden sein.
Joseph vergräbt sich in seiner dunkelblauen Jacke und reibt sich beide Oberarme: Windig ist es hier und auch ein wenig kühl. Daher beschließen wir kurzerhand, unser Gespräch im Inneren des Astra Kulturhauses fortzusetzen, und folgen dem 31jährigen in den Backstage-Bereich. Die erste Sitzecke, die wir entdecken, sieht nicht wirklich einladend aus, also schlendern wir weiter Richtung Bühne. Im Barbereich stoßen wir auf eine orange-gelbe Sesselgruppe, die förmlich danach schreit, in unsere Unterhaltung miteinbezogen zu werden. Denn auch sie hat eine Geschichte zu erzählen: von einer Zeit, in der man stilistisch voll auf Ohrensessel, wilde Mustertapeten und knallige Farben setzte. Wüsste man nicht um das stattliche Alter dieser Möbel, man würde sie wohl Retro schimpfen.
„Ich versuche immer, im Voraus zu denken.“ Jonas: Wenn euer neues Album „Love Letters“ anhört und dazu die Musikvideos zu den Songs „Love Letters“ und „I’m Aquarius“ kennt, hat man das Gefühl, sich auf eine große Zeitreise zu begeben – von den 60ern bis in eine ferne Zukunft. Joseph: Nun ja, die Videos sind eher ein Spaß. Jonas: Aber trotzdem sind vor allem die visuellen Elemente ein wichtiger Bestandteil eurer Musik. Joseph: Absolut. Wir benutzen zwar einerseits eine gewisse Sixties-Ästhetik für das neue Album, aber andererseits ist es eben auch einfach nur ein Werk im Raum. Es soll sich nicht auf eine bestimmte Zeit in der Vergangenheit oder Zukunft beziehen – sondern auf die Gegenwart, in der es entstanden ist. Jonas: Das Video zu „Love Letters“ wurde von Michel Gondry produziert – einem international sehr renommierten Regisseur. Wie hat sich diese Zusammenarbeit ergeben? Joseph: Ich hätte mir in meinem Leben nie vorstellen können, dass wir mal mit solch einer Filmgröße zusammenarbeiten würden. Aber in den letzten Jahren ist auch schon so einiges passiert, mit dem ich nicht gerechnet hätte. Soweit ich damals wusste, machte Michel nur Filme und keine Music Clips. Aber dann fanden wir heraus, dass er gerne auch mal ein Musikvideo drehen wollte – aber dafür noch keinen Song hatte. Als wir das herausfanden, haben wir ihn einfach gefragt, ob er sich nicht vorstellen könnte, einen Clip für unseren neuen Track „Love Letters“ zu produzieren. Da wir bei einem französischen Label unter Vertrag stehen und Michel ebenfalls Franzose ist, gab es da bereits gewisse Verbindungen. Michel mochte einfach unsere Musik und vor allem den Song „Love Letters“.
Und so passierte das, wovon ich niemals gedacht hätte, dass es mal passieren würde. Jonas: Also war euer Kennenlernen nicht wirklich zufällig. Joseph (lacht): Nein, da muss ich dich leider enttäuschen – wir haben uns nicht irgendwie per Zufall in einer Cocktailbar getroffen oder so. Jonas: Du hast persönlich ebenfalls einen sehr starken Bezug zu Frankreich: Seit drei Jahren lebst du in Paris. Was ist für dich das Besondere an dieser Stadt? Joseph: Eigentlich lebe ich erst seit einem Jahr so wirklich dort, weil wir bei meinem Umzug im Jahr 2011 mitten in einer Tour steckten. Damals bin ich einfach nicht dazu gekommen, mich dort einzurichten. Ich empfinde Paris als eine eher kleine Stadt – jedenfalls im Vergleich zu London, wo ich vorher gelebt habe. Erst als ich nach Paris gezogen bin, habe ich London auch wirklich schätzen gelernt – und am meisten vermisse ich die vielen Parks. Dennoch mag ich Paris ebenfalls sehr, Franzosen haben allgemein eine bemerkenswerte Haltung gegenüber Musik und Kunst. Meine Freundin ist Französin, daher nehme ich viel von der französischen Kultur auf. Jonas: Euer neues Album klingt wesentlich akustischer und reduzierter als „The English Riviera“. Joseph: Das stimmt. Ich hätte zwar das Album auch auf die gleiche Art wie „The English Riviera“ produzieren können, aber das wäre nicht so interessant gewesen. Bei der „Love Letters“Platte habe ich versucht, alles auf ein sehr einfaches Level zu filtern. So sind die Songs auf diesem Album in gewisser Weise präziser geworden als die Songs auf „The English Riviera“.
Manchmal ist es einfach spannend zu bemerken, wie sehr man sich in der Regel doch auf Hilfsmittel wie Technik oder Klangverschönerung verlässt. Das zu reduzieren war zwar mit einem gewissen Risiko verbunden, aber hat total viel Spaß gemacht und sich richtig gut angefühlt. Jonas: Für uns wirkt euer neues Album fast wie der Soundtrack zu einem Film – einem Film, der noch gar nicht existiert. Joseph: Das ist sehr interessant zu hören. Für mich sollte ein Album grundsätzlich immer einen gewissen Charakter haben, in dem man idealerweise die Leute wiederfinden kann, die es gemacht haben – oder den Ort, wo es entstanden ist. Dabei muss man seiner Musik aber immer einen entsprechenden Raum geben, in dem sie leben und sich bewegen kann, damit auch beim Hörer überhaupt solche Assoziationen wie etwa die des Film-Soundtracks entstehen können. Ich habe in letzter Zeit so viele Platten gehört, bei denen dieser Charakter einfach nicht festzustellen war. So etwas finde ich immer irgendwie schade. Jonas: Plant ihr als Metronomy gezielt eure musikalische Weiterentwicklung? Oder lasst ihr euch eher von dem überraschen, was so passiert im Laufe der Zeit? Joseph: Es ist eine Mischung aus beidem. Ich verfolge sehr aufmerksam, wie Musikkritiker unsere Musik beurteilen und was sie von uns erwarten. Gleichzeitig habe ich aber auch immer die Erwartungen unserer Fans im Blick. Es gibt viele Dinge, die ich persönlich gerne tun möchte. Man muss aber clever genug sein, diese so zu tun, dass man weder die Kritiker noch die Fans oder gar sich selbst verärgert. Das ist ein schwieriges Spiel. Nach „The English Riviera“ wusste ich, dass ich auf keinen Fall eine zweite Version dieses Albums machen wollte.
Aber ich wusste auch, dass wir mit diesem Album unzählige Fans gewonnen haben. Daher wollte ich mit „Love Letters“ unbedingt vermeiden, dass die Fans denken, sie hätten uns falsch verstanden. Ich versuche, immer im Voraus zu denken, meine Gedanken besser zu organisieren und dabei alles im Gleichgewicht zu halten. Mein Ziel ist es ja nicht, so berühmt wie möglich zu werden und eine Million Alben zu verkaufen – meine Ziele sind eher kreativer Natur. Auf der anderen Seite freut sich unser Label natürlich, wenn wir eine Million Platten verkaufen. Daher muss man beides miteinander kombinieren können und idealerweise versuchen, dabei alle glücklich zu machen – was natürlich unmöglich ist. Jonas: Vielleicht muss man nur einfach man selbst sein. Joseph: Ganz genau! Glücklicherweise kann ich das ganz gut – und ich glaube, das verbinden die Fans auch mit unserer Band.
Mit einem etwas müden, aber zufriedenen Gesichtsausdruck erhebt sich Joseph von seinem Sessel, verabschiedet sich und läuft zurück zum Backstage-Bereich. Einige Minuten später sind auch wir aufbruchsbereit und verlassen das Astra Kulturhaus. Gemütlich spazieren wir zurück über das morbide RAW-Gelände, vorbei an dutzenden Besuchern, die an jeder Ecke mit ihren Smartphone-Kameras versuchen, das Gestern festzuhalten. Dabei geht es doch nur darum, was ist – heute, im Jahr 2014.
Benjam Hanu
B enj a m in Ha n us ist 26 J a h re a lt , Grafikdesigne r un d le bt in St ut tg a r t .
amin nus
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Die kleinen Dinge Text: Benjamin Hanus Foto: Ines Heidrich
Ob ich wütend bin? Nein. Im Moment nicht. Im Moment liege ich auf einer Wiese in der Sonne, schwitze, leere ein Getränk nach dem anderen, esse gesalzene Pistazien, höre den Vögeln beim Singen zu und gebe mein Bestes diesen Text über Wut zu schreiben. Gar nicht mal so einfach bei der ganzen Harmonie, die mich hier zu umgeben scheint. Neben meinem Notizbuch macht sich eine Biene auf einer Löwenzahnblüte zu schaffen. Aufgeregt sitzt und brummt sie auf der gelben Blüte und sammelt fleißig den Blütenstaub ein. Gegenüber rollt, leise summend, eingepackt in eine Regenjacke und ausgestattet mit Schal und Mütze, ein Rollstuhlfahrer den Hügel hinauf. Und nebenan unterhalten sich zwei Männer, die sich augenscheinlich zufällig getroffen haben, über ihre Wochenendpläne. Für einen Augenblick verliere ich die Konzentration und vergesse warum ich hier liege. Ob ich wütend bin? Ich war selten entspannter. Die Sonne versteckt sich hinter einer herannahenden Wolkenwand, die angrenzende Kirche spielt ein lautes Solo und die an- und abschwellenden Polizeisirenen lassen zum ersten Mal so etwas wie Ärger aufkommen. Na also, denke ich mir, jetzt kommen wir der Sache näher. Das Singen der Vögel hat sich zu einem sich überschneidenden Chaos aus Schreien und Pfeifen entwickelt. Reihenweise gezückte Handys, raschelnde Brötchentüten und der in meine Richtung durch die Luft wabernde Duft von Grillanzündern und verbranntem Fleisch, lassen meine innere Ruhe endgültig zerplatzen. Ob ich wütend bin? Ich denke ich mache unglaubliche Fortschritte. Die Sonne lässt sich nun gar nicht mehr blicken und meine Blase, bis zum Anschlag gefüllt mit dem Inhalt von unzähligen geleerten Dosen, sendet in immer kleiner werdenden Abständen eindeutige Signale. Die von den herumliegenden Pistazienschalen und den klebrigen Resten der leeren
Koffeingranaten angelockten Ameisen und die andauernd vor mir auf- und abziehenden Grillfraktionen geben meiner bereits mehrfach angezählten Laune den Rest. Mit einem beherzten Sprung stürzt sie sich vom Kap der schlechten Laune und schlägt mit einem leisen, monotonen Schnauben an einer ohrenbetäubend lauten Kreuzung auf. Eine Gruppe von alten Männern wartet dort an einer roten Ampel darauf, dass diese auf Grün schaltet. Ihrer Unterhaltung entnehme ich, dass sie hier schon länger stehen. Mein Blick wandert ungeduldig an der Gruppe vorbei, bleibt für einen kurzen Moment im hämischen Licht der roten Ampel hängen und verhakt sich endgültig auf dem gelben, unbenutzten Ampelschalter. Ich presse die Lippen aufeinander und versuche nicht die Beherrschung zu verlieren, als sich die Ampel, etliche Sekunden später, wie von Geisterhand dazu entschließt, uns mit Grün die Weiterreise zu gewähren und die Herren sich mit der stoischen Ruhe eines alten Berges schließlich in Bewegung setzen, um gemächlich die Straße zu überqueren. So langsam, dass die Ampel auf halber Strecke erneut ihre Meinung ändert, zurück auf Rot schaltet und die Männer im wahrsten Sinne des Wortes in einem unguten Licht erscheinen lässt. Begleitet vom Hupen und Fluchen der sich angestauten und wartenden Autofahrer, aber vollkommen unbeeindruckt, setzt die Gruppe ihre Reise auf der anderen Straßenseite fort und verschwindet schließlich im Licht der zurückgekehrten Abendsonne. Verblüfft von soviel Gelassenheit, verharre ich nicht nur am Ort meiner Beobachtung, sondern ich lasse neben der langsam vor mir dahin fließenden Blechlawine, auch meine schlechte Laune vorbeiziehen. Ob ich wütend bin? Nein. Im Moment nicht. Im Moment stehe ich an einer roten Ampel und genieße die Ruhe.
Marc Cantar Calv
M arc Cantarellas-Calv贸 ist 28 J a h re a lt , arbeitet als freiberuflicher Grafikd e s ig n e r, Fotog ra f u n d im F ilmbereich und le bt in B e rlin .
c rellasv贸
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Text & Foto: Marc Cantarellas-Calv贸
Gefesselt – innerer Monolog –
Jetzt sitz‘ ich hier wieder vor dem leeren Blatt Papier. Gefesselt von meinen Gedanken, meinen Selbsterwartungen, etwas Großes zu schaffen. Von außen regungslos und kalt wie das bleich-weiße Blatt vor mir, aber Innen herrscht die Unruhe der Unzufriedenheit, die Angst, meinen Erwartungen nicht standzuhalten. Tobende Hitze; von Pulsschlag zu Pulsschlag donnert es der Deadline entgegen. Wut macht sich breit, übernimmt die Kontrolle über mich, über mein Bewusstsein: Ich kann nicht mehr klar denken, ich sehe alles verzerrt, ich bin wütend! Wie Seile schneiden und zerren diese Gedanken in mir – der größte Kampf: der Kampf mit mir selbst. Durchhalten, weiter machen, weiter kämpfen... durch die Schlacht bis zu diesem einen Punkt! Neue Welten entdecken – dorthin wo noch keiner seine Spuren hinterlassen hat. Die Kraft meiner Vorstellung mit meiner Leidenschaft bündeln und zu 1.000 Prozent an sich glauben. Meine Erfahrungen aufgestellt als Gefährten, die mich auf meinem Weg begleiten. Und den Pfad zu bestreiten und seine eigene Grenze zu überschreiten, um ein ungeahntes Level zu erreichen, wo nun klar wird, dass alles möglich ist, wenn man
nur will – wo sich die ganze Kraft bündelt und Großes erreicht werden kann. Um Sachen zu schaffen, die noch keiner gesehen hat, muss man Sachen machen, die nicht „normal“ sind, muss man Sachen machen, die keiner macht. Durchhalten, weitermachen, weiter kämpfen... bis zu diesem einen Punkt – der Punkt, wo sich die Fesseln lösen, die Seile sich zu Zügeln schmieden und ich Herr meiner Gedanken werde: Herr meiner Selbstzweifel, meiner Unsicherheit, meiner Unzufriedenheit. Mache diese schwarzen Gedanken zu Marionetten meines Kampfes und bekämpfe Feuer mit Feuer. Von der Idee bis zum letzten Strich. Mit jedem neuen Werk bestreite ich ein neues Gefecht – von Projekt zu Projekt. Jedes Mal auf ein Neues, jedes Mal ein neuer Kampf. Doch ich weiß, ich muss da jedes Mal durch – Nein! Ich WILL da jedes Mal durch! Durchhalten, weitermachen, weiter kämpfen... bis zu diesem einen Punkt! Den reißenden Weg durch all‘ die Gedanken, das Zerren und Ziehen, um mein Ziel zu erreichen: Das Ziel meiner Zufriedenheit!
Sarah V Schal
Sarah Victoria S c h a low ist 29 J a h re a lt , Sc h a us p ie le rin un d le bt in Ha m b urg .
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Victoria alow
Schatten der Wut
Text: Sarah Victoria Schalow Foto: Andreas Schlieter
Die Wut, die tragen wir in uns. Sie gehört zu uns, ist unser Motor, treibt uns an. Wir sind wütend, noch ganz klein, weil wir mit unserer kleinen Schwester die Bonbons teilen müssen, weil wir nicht das Traumspielzeug vom Weihnachtsmann bekommen, ohne das wir nicht leben können, weil Sailor Moon abgesetzt wird. Wir sind wütend, weil wir nicht, wie alle unsere Freunde auch, bis Mitternacht draußen bleiben dürfen, weil wir nicht diesen ultrasüßen Typen treffen dürfen, keine Festivals stürmen und nicht nach Spanien trampen dürfen, weil sich `Take That` trennt, ohne uns zu fragen, weil wir nur ne 3 in Mathe bekommen, obwohl wir definitiv ne 2 verdient haben, weil die beste Freundin immer alles nachkauft. Wir sind wütend, weil wir von hunderten Bewerbern nicht die bezahlbare Bude in bester Lage bekommen, weil unser NC nicht für das Psychologiestudium reicht, weil immer die anderen auf der „sunny side of life“ stehen, weil wir keine size zero sind und unsere Herzensangelegenheit, der Eine für´s momentane Leben, einer gemeinsamen Zukunft keine Chance geben kann oder will. Und oftmals, wenn wir uns ganz ehrlich anschauen, sind wir wütend auf uns selbst.
Weil wir viele Dinge ändern können und es nicht tun und weil wir andere Dinge nicht verhindern können und es nicht akzeptieren wollen. Wut, in gesundem Maße, hält uns lebendig und in Bewegung. Sie zeigt uns, wie sehr wir Dinge, Erlebnisse und Liebschaften wollen und begehren. Ich mag meine Wut. Mittlerweile. Und habe ihr ein Zimmer hergerichtet. Ab und zu besucht sie mich und bleibt nie lang. Und immer, jedes Mal, hinterlässt sie etwas. Fotos, Poster, Konzertkarten, getrocknete Blumen, Briefe, Zeugnisse, Annoncen, Kleidung, zerplatzte Seifenblasen. Kleine Erinnerungen unserer gemeinsamen Zeit und Grundsteine neuer Wünsche und Träume, die zunächst Schatten meiner Wut sind, dann leise flüsternde Geheimnisse werden, um schließlich zu greifbaren, kunterbunt glitzernden Formulierungen heranzuwachsen. Also lass uns einfach unheimlich wütend sein, lass uns unbegrenzt liebend sein, lass uns unaussprechlich glücklich sein. Denn verlieren wie unsere Wut, verlieren wir unsere Liebe.
Jodi Melod
Jodi Melody is a 19 - ye a r- old st ud e nt living in Auc kla n d , New Ze a la n d .
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dy
Fascinating Text & Photo: Jodi Melody What’s wrong with windows? A view. Why are people no longer interested in the real world? A strange sense of tension builds in a room of people that can’t access the internet from a device they keep in their pockets. What surrounds you is beautiful. Look up. Look at each other. We were all born into a world that’s beauty is constantly trying to impress us. It makes me furious that people prefer to look at pixels on a screen over the fascinating life that surrounds them.
Life
Kili Ker
K ilia n Ke rn e r ist 3 5 J a h re a lt , Modedesign e r un d le bt in B e rlin .
ian rner
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Im Jetzt Interview & Text: Jonas Meyer Fotos: Franz Gr端newald Haare: Philipp Koch Verheyen @ Ballsaal for Chanel
Was meint das Leben nur, wenn es uns manchmal glauben lässt, unser Gegenüber seit einer halben Ewigkeit zu kennen – obwohl wir ihm heute erst begegnet sind? Ein Donnerstagmorgen Ende März. Im Innenhof des Gebäudekomplexes der Berliner KW Institute for Contemporary Art (KunstWerke) hat vor wenigen Minuten das Café Bravo seine Pforten geöffnet. Während die Morgensonne noch zaghaft ihre Strahlen durch die breite Glasfassade wirft, beugen sich die ersten Gäste bereits gedankenversunken über ihre Tageszeitungen. Der Duft frischer Croissants liegt in der Luft, dazu liefert die schnaufende Kaffeemaschine gemeinsam mit dem kleinen Radio hinter der Bar die entsprechende Morgenakustik. Wir lassen uns an einem kleinen Tisch mit direktem Blick zum Innenhof nieder. Kaum haben wir unser Equipment ausgepackt, betritt auch schon der Berliner Modedesigner Kilian Kerner das Café. Der 35jährige begrüßt uns herzlich und setzt sich zu uns. „Habt ihr auch solchen Hunger?“, schießt es aus ihm heraus, als er einen großen Teller mit Croissants auf dem Tresen entdeckt. Natürlich haben wir Hunger! Jetzt kein Frühstück zu bestellen wäre ein Verbrechen – also ordern wir, was die kleine Karte hergibt. Nur wenige Minuten später füllt sich der kleine Tisch mit dem, was wir bestellt haben. Die Basis ist damit geschaffen – es kann losgehen!
Jonas: Du bist 1979 in Köln geboren und hast dort etwa zwei Drittel deines Lebens verbracht. Welche Erinnerungen an deine Kindheit und Jugend sind dir geblieben? Immerhin hast du die 80er Jahre voll mitgenommen. Kilian: Ja, das stimmt – ich bin ein absolutes Kind der 80er. Ich liebe einfach alles aus diesem
Jahrzehnt und erinnere mich daher beispielsweise auch noch ganz genau an meine Lieblingsfernsehserie namens „Ich heirate eine Familie“. Erst letzte Weihnachten habe ich mir wieder alle alten Folgen angesehen, als mich meine Mutter in Berlin besucht hat. Faul wie ein Couchpotatoe lag ich dabei vor dem Fernseher. Jonas: Kilian Kerner als faules Couchpotatoe vor der Glotze – das kann man sich nur schwer vorstellen. Kilian: Du glaubst ja nicht, wie faul ich zuhause bin! Sobald meine Wohnungstür zugefallen ist, habe ich keine Lust mehr, mich aufzuraffen und das Haus zu verlassen. Jonas: Ich gehe mal davon aus, dass bei deinem Arbeitspensum die Zeit eher überschaubar ist, in der du zuhause bist. Kilian: Ja, daran bin ich aber selbst schuld. Ich bin geradezu ein Getriebener und kann nicht abgeben. Jonas: So etwas kann man aber lernen. Kilian: Stimmt, ich versuche auch gerade, mir das irgendwie beizubringen. Jonas: Deine Erinnerung an die 80er beschränkt sich aber hoffentlich nicht nur auf „Ich heirate eine Familie“... Kilian: Nein, natürlich nicht! Nena beispielsweise ist mir nach wie vor total präsent, da sie in den 80ern meine Heldin der Welt war – und ich sie heute noch absolut cool finde.
„Nach zwei Jahren in Köln hatte ich aber keine Lust, wieder komplett von vorne anzufangen – irgendwie wollte ich mehr.“
Jonas: Das klingt nach einem tollen Jahrzehnt.
Jonas: Inwiefern?
Kilian: Naja, natürlich habe ich auch negative Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend. Mit Abstand das Schlimmste war für mich die Schule: Wenn ich ehrlich bin, fand ich die Schule immer zum Kotzen – und die Schule mich wahrscheinlich auch, denn als Jugendlicher war ich ein ziemlich komischer Typ. Ich habe nach der 10. Klasse mehrfach die Schule gewechselt , war auf kaufmännischen Schulen und einer Abendschule. Irgendwann wollte ich auch mal BWL studieren. Ich und BWL – das wär’s gewesen.
Kilian: Mein damaliger Freund hat mir nach kurzer Zeit die Frage gestellt, was ich denn eigentlich so mit meinem Leben machen wolle. Ich druckste mich um die Antwort herum, denn mir war es fast peinlich, „Schauspieler“ zu sagen. Also hat er mich heimlich bei einem Schauspielkurs angemeldet und mir eine Woche vor Beginn gesagt: „So, da gehst Du jetzt hin!?“ Ich muss sagen, dass das mit das Coolste war, was jemals jemand für mich getan hat. Ich fand die ganze Aktion so romantisch, dass ich natürlich hingegangen bin. Und schon nach kurzer Zeit habe ich gemerkt, dass das genau das ist, was ich machen will. Zumindest dachte ich das drei bis vier Jahre lang.
BWL, warum auch nicht? Das Leben schlägt ja manchmal unerwartete Haken. Kilian bricht ein Stück seines Croissants ab und wendet für einige Augenblicke den Kopf zur Seite. Dabei breitet sich auf seinem Gesicht ein jugendliches, vergnügt wirkendes Grinsen aus – flankiert von zwei wachen und neugierigen Augen.
Jonas: Statt BWL hast du aber Schauspiel studiert. Wie kam es zu der Kehrtwende? Kilian: Seit ich denken kann, habe ich mich immer sehr für Film und Fernsehen interessiert und mich der Schauspielerei auf besondere Art und Weise verbunden gefühlt. Das war irgendwie in mir drin, aber konnte nie so richtig raus. Obwohl ich eigentlich immer ein sehr selbständiger Mensch war, hatte ich nie den Mut und das Selbstbewusstsein, tatsächlich eine Schauspielerausbildung zu starten. Dazu brauchte es erst eine neue Beziehung und einen kleinen Schubser in die richtige Richtung.
Jonas: Das hört sich nach einer typischen Jungschauspieler-Story an: durch Zufall in die Sache reingerutscht und dabei seine Passion für die Schauspielerei entdeckt. Kilian: Für mich gab es damals einen Schlüsselmoment: Schon in der ersten Stunde bestand unsere Aufgabe darin, die Kursräume für zwei Stunden zu verlassen, uns in der Öffentlichkeit irgendeine Person auszusuchen, sie zwei Stunden zu beobachten, zurückzukommen und diese Person dann zu spielen. Ich hatte mir eine H&M-Verkäuferin ausgesucht und war in meinem Spiel auch scheinbar gar nicht so schlecht. Dadurch schlug meine Schauspiellehrerin mich für eine Rolle vor. Eine Regisseurin suchte damals unerfahrene Schauspieler, die mit erfahren Schauspielern ein Stück spielen sollten: „Das Spiel von Liebe und Zufall“. So bekam ich meine erste Hauptrolle in einem Theaterstück.
Jonas: Eine Hauptrolle am Theater spielen und gleichzeitig eine kaufmännische Schule besuchen – kann das gutgehen? Kilian: Meine schulischen Leistungen waren zwar ganz gut, aber durch die Schauspielerei hat mich auf einen Schlag nichts anderes mehr interessiert. Daher habe ich mich auch immer seltener in der Schule blicken lassen und schließlich drei Monate vor dem Fachabi hingeschmissen. Ich habe mich damals voll und ganz auf das Theaterstück konzentriert und wenig später auch angefangen, einige kleinere Film- und Fernsehrollen zu spielen. Irgendwie hat sich alles total gut und richtig angefühlt, was ich da mache. Und so habe ich mich im Jahr 2000 dazu entschieden, mich an einer Schauspielschule zu bewerben. Ich wollte diesen Beruf einfach von Grund auf erlernen – und wurde genommen. Während wir hier so gemütlich mit ihm sitzen und uns unterhalten, beschleicht uns ein sonderbar angenehmes Gefühl von Vertrautheit: Der Modedesigner wirkt seit der ersten Sekunde so offen und herzlich, dass man glaubt, sich mit ihm schon dutzende Male zum Frühstück getroffen und ausgetauscht zu haben. Dabei kennen wir uns gerade einmal zehn Minuten...
Jonas: Hast du die Ausbildung zum Schauspieler abgeschlossen? Kilian: Nee, die habe ich abgebrochen. Ich wurde Mitte 2002 ziemlich krank und hatte etliche Monate mit meinem schlechten Gesundheitszustand zu kämpfen.
Mein Platz in der Schauspielschule wurde zwar freigehalten, aber als ich nach knapp einem Jahr zurückkam, hatte ich irgendwie das Gefühl, neu anfangen zu müssen. Ich wollte nach der Krankenhauszeit und dem, was damals mit mir passierte, einfach aus Köln weg. Also bin ich Anfang 2003 nach Berlin gezogen und dort nochmal kurz auf eine Schauspielschule gegangen. Nach zwei Jahren in Köln hatte ich aber keine Lust, wieder komplett von vorne anzufangen irgendwie wollte ich mehr. Jonas: Das klingt erstaunlich pragmatisch für so eine grundlegende Veränderung. Kilian: Es ging ja auch erstaunlich schnell! Ich wollte einfach nicht mehr in Köln bleiben. Irgendwann kam ich abends von einer Party nach Hause und habe mir gesagt: So, jetzt ist Feierabend. Du ziehst hier weg. In der Anfangszeit bin ich allerdings auf Berlin überhaupt nicht klar gekommen und fand alles ganz schrecklich: Ich kannte hier einfach niemanden und kam auch mit den Menschen nicht zurecht. Wenn man auf Partys irgendwelche Leute kennengelernt und Nummern ausgetauscht hatte, konnten sie sich nicht mehr an einen erinnern, man sich zwei Tage später gemeldet hat. Diese schroffe Art fand ich ganz schlimm, so etwas kannte ich aus Köln einfach nicht.
Jonas: Trotzdem hat dich Berlin nicht mehr losgelassen. Kilian: Ja, das stimmt. Irgendwann habe ich auch andere Menschen kennengelernt, die nicht diese schroffe Oberflächlichkeit besaßen und die ich sehr mochte. Wir haben uns angefreundet und viel unternommen. So konnte ich die Stadt von einer ganz anderen, schönen Seite kennenlernen. Jonas: Das war vor ziemlich genau elf Jahren. Wer hätte damals geahnt, dass dein Name mal für ein eigenes Modelabel stehen würde... Kilian: Wenn mir damals jemand so etwas erzählt hätte, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Jonas: Trotzdem hast Du das Label bereits 2004 gegründet – das muss ein ereignisreiches Jahr gewesen sein seit deinem Umzug nach Berlin. Wie bist du zur Mode gekommen? Kilian: Von heute aus betrachtet ging das wirklich schnell. Ohne es zu wissen, wurde der Grundstein dafür aber schon etwas früher gelegt – und zwar durch puren Zufall: Als ich 2001 in Köln mit einem Mädel in eine WG zog, fanden wir es dort ziemlich schmutzig. Also haben wir Chlorreiniger gekauft und uns vorgenommen, mal richtig durchzuputzen. Und tolpatschig wie ich bin, habe ich im Vorbeilaufen die offene Flasche umgestoßen. Alles lief auf eine meiner Lieblingshosen, die auf dem Boden lag – und was Chlorreiniger mit Klamotten macht, das wissen wir ja. In meiner Verzweiflung habe ich einen Schwamm genommen und angefangen, damit auf der Hose rumzumalen und zu – schreiben. Und plötzlich stand in riesigen Lettern „NENA“ drauf.
Ich mochte das irgendwie sehr und habe die Hose deshalb auch so getragen. Lustigerweise wollten alle Leute aus meiner damaligen Clique dann auch eine Hose haben, auf der der Name ihrer Lieblingsband stand. Also habe ich angefangen, ihre Hosen umzugestalten und zu beschriften: „Depeche Mode“, „Take That“ und was es sonst noch alles gab. Irgendwann hatten wir alle so eine Hose an, das war echt lustig. Meine erste Berührung mit „Ich mache mir etwas zum Anziehen“ hat mir ziemlich viel Spaß gemacht. Und so kam es, dass ich immer wieder mal hobbymäßig für mich und meine Freunde Kleidungsstücke verändert habe. In meiner Anfangszeit in Berlin gab es beispielsweise ein Mädchen namens Ellen, die jedes Wochenende von mir etwas Neues zum Anziehen haben wollte. Also habe ich mir Woche für Woche etwas einfallen lassen und für sie kreiert. Die Leute haben damals immer öfter gefragt, woher Ellen oder ich die Klamotten hatten. Als sich herausstellte, dass ich selbst diese Sachen entworfen und kreiert hatte, sollte ich plötzlich eine Modenschau auf die Beine stellen. Von so etwas hatte ich aber keinen blassen Schimmer, also habe ich daraus ein Theaterstück gemacht – eine Inszenierung in einer Irrenanstalt. Jonas: Und so hat sich abgezeichnet, dass sich dein Leben in Richtung Modedesign verschieben wird? Kilian: Nein, wenn ich ehrlich bin, hatte ich nach einiger Zeit absolut keine Lust mehr auf diesen Zirkus. Ich fand auch die Leute viel zu komisch, die ich in nur kurzer Zeit kennengelernt hatte. Trotzdem konnte mich wenig später ein Freund dazu überreden, eine zweite Modenschau auf die Beine zu stellen.
„Auf einmal habe ich aber gemerkt, welche Disziplin ich an den Tag legen kann, wenn ich mir zuhause neue Kleidungsstücke ausdenke.“ Nur leider hatte ich dafür keine Kleidungsstücke mehr. Und so musste ich innerhalb von zwei Wochen etliche Ideen entwickeln und Stücke entwerfen. Interessanterweise habe ich während meiner Zeit an der Schauspielschule nie wirklich diszipliniert gearbeitet: Ich habe Texte nur mäßig oder gar nicht gelernt und bin gerne mal zu spät gekommen. Alles, was ich heute verabscheue, war ich damals selbst. Auf einmal habe ich aber gemerkt, welche Disziplin ich an den Tag legen kann, wenn ich mir zuhause neue Kleidungsstücke ausdenke – und dass mir so etwas wesentlich mehr Spaß macht, als auf irgendwelchen Partys abzuhängen. Also habe ich mir vorgenommen, das Ganze auf eine professionellere Art und Weise anzugehen und mir eine Schneiderin gesucht, mit der ich in den Folgemonaten intensiv zusammenarbeiten konnte. So ist dann 2004/2005 die erste Kilian Kerner Kollektion entstanden. Jonas: Dabei ist dir in der Anfangszeit nicht nur Wohlwollen entgegengeschlagen, sondern vor allem auch Spott. Wie bist du damit umgegangen? Kilian: Ich glaube, das hat mir damals eher zusätzliche Energie gegeben als mich runtergezogen. Und aus der heutigen Perspektive betrachtet wirkt das Ganze sogar eher lustig: Bei unserem ersten Jubiläum, der zehnten Show in Folge auf der Berliner Fashion Week, musste ich wieder daran denken, dass die Personen, von denen der Spott damals hauptsächlich ausging, nach wenigen Jahren ihre eigenen Labels wieder aufgegeben haben. Mich aber gibt es immer noch – obwohl mir das vor zehn, elf Jahren nur wenige Leute zugetraut hatten. Ich muss aber sagen, dass mich das Thema etwas verfolgt, seitdem ich es einmal nebenbei in einem Interview erwähnt hatte.
Und wenn ich mir heute anschaue, was ich damals so gemacht habe – Sterne ausschneiden und auf Hosen kleben beispielsweise – war das ja auch eher amüsant und durchaus kritikwürdig. Jonas: Trotzdem hat es funktioniert – und ganz nebenbei gesagt hast du dich als erster Berliner Modedesigner etabliert, der in der Hauptstadt jede Fashion Week konsequent mitgemacht hat. Kilian: Ja, es hat damals sogar richtig gut funktioniert. Vor zehn Jahren war dieses Customizing in der Modewelt einfach total in. Alleine nach meiner ersten Modenschau wurden meine Stücke direkt von fünf Berliner Läden geordert. Ich erinnere mich beispielsweise auch noch daran, dass einmal auf irgendeinem Magazincover ein T-Shirt von uns zu sehen war. Dadurch bekamen wir so viele Bestellungen, dass ich drei Wochen lang nichts anderes gemacht habe, als zuhause zu sitzen und T-Shirts zu zerreißen und zu bemalen. Natürlich habe aber auch ich eine gewisse Zeit gebraucht, um mich zu entwickeln und weniger Fehler zu machen. Das gehört einfach dazu – meine Entwicklung dauert nach wie vor an dauert und wird auch immer andauern. Gott sei Dank lernt man ja jeden Tag dazu.
Es ist kur vor 12:00 Uhr, in den KW Institute for Contemporary Art öffnet gleich die Themenausstellung „Echte Gefühle: Denken im Film“, die wir uns gemeinsam ansehen wollen. Wir verlassen das Café und betreten wenige Meter weiter die dunklen Ausstellungsräume, deren einzige Lichtquelle unzählige flimmernde Fernsehschirme und Projektoren sind.
„Wenn man sich fragt, worum es im Leben wirklich geht, kommt man letztendlich immer auf die Liebe.“
Die Ausstellung, so lesen wir im Programm, „widmet sich den Affekten und Emotionen im bewegten Bild. Sie geht der Frage nach, wie Filme Emotionen vermitteln und eine Authentizität erzeugen, an der individuelle und kollektive Erfahrung aufeinandertreffen“. Gemeinsam laufen wir von Fernsehschirm zu Fernsehschirm. Dabei entdecken wir immer wieder Ausschnitte von Filmen, die wir noch aus unserer Kindheit kennen, und fragen uns, welche menschliche Emotion wohl mit der jeweiligen Filmsequenz verknüpft sein könnte.
Jonas: Die meisten Menschen, die sich wie du etwas von Grund auf aufbauen, werden früher oder später von Existenzängsten aufgesucht. Hast du derartige Situationen auch erlebt? Kilian: Jeder klassische Student, der nicht gerade über reiche Eltern verfügt, weiß doch ganz genau, wie es ist, wenn man nicht den ganzen Tag zuhause sitzt, sondern raus geht und lebt. Da wird ab der Mitte des Monats das Geld zwangsläufig knapp. Bei mir war das nicht anders. Für mich selbst finde ich es total wichtig, dass ich diese Erfahrung im Laufe meines Lebens immer wieder gemacht habe. Dadurch schätze ich heute vielmehr, was ich habe. Und es bringt eine gewisse Bodenhaftigkeit mit sich, die die Gefahr reduziert, irgendwann abzuheben – dafür weiß man
einfach viel zu gut, wie es ist, ab dem 15. des Monats kein Geld mehr zu haben, Miracoli zu essen und Pfandflaschen zurück zu bringen. Doch auch wenn manchmal das Geld wirklich knapp war, muss ich sagen, dass ich trotzdem meistens eine gute Zeit hatte – wie etwa 2003 in meiner Berliner WG. Es ging uns damals gut, auch ohne Geld. Jonas: Der klassische Student verfügt aber in der Regel auch über eine berufliche Perspektive und weiß, dass es spätestens in ein paar Jahren wirtschaftlich bergauf geht, wenn er sein Studium abgeschlossen und einen Job gefunden hat. Kilian: Ich habe immer etwas getan und an etwas geglaubt. Und ich wusste immer, dass ich nicht still stehen werde. Ganz allgemein bin ich aber kein Mensch, der sich hauptsächlich Gedanken darüber macht, was in fünf Jahren ist. Ich stelle mir eher die Frage: Was ist morgen? Was ist übermorgen? Davon abgesehen spielt sich mein Leben jetzt eh nur noch in Saisons ab und nicht mehr in Jahren. Ein Jahr hat zwei Saisons, das ist das für mich das einzig Wesentliche. Ich versuche daher, absolut im Jetzt zu sein und mich darauf zu fokussieren, was gerade bzw. morgen wichtig ist – und das jede Saison auf’s Neue. Trotzdem liegt dabei mein Fokus natürlich auch darauf, dass das Label Kilian Kerner weiter aufgebaut wird: Es gibt definitiv immer Ziele, auf die wir alle dort hinarbeiten.
Jonas: Und jede Saison versuchst du auf’s Neue, mit deiner Kollektion eine Geschichte zu erzählen. Kilian: Das stimmt. Ich glaube, das ist eine Herangehensweise, die ich aus der Schauspielerei mitgenommen habe. Jonas: Siehst du dich selbst eher als Geschichtenerzähler oder als Modedesigner? Kilian (lächelt): Ich würde sagen, ich bin ein Geschichten erzählender Modedesigner. Mir geht es bei meiner Arbeit darum, nicht einfach nur Kleidung zu entwerfen. Man vollzieht in diesem Business ja jeden Tag einen Seelen-Striptease – und auf einer Show zeigt man dann, was im Laufe der Wochen und Monate davor tief in einem entstanden ist. Dem Ganzen möchte ich einfach eine gewisse Handlung geben, denn das hat für mich wesentlich mehr Relevanz, als wenn ich mich etwa davon inspirieren lassen würde, was in den 50er Jahren so passiert ist.
Während wir weiter neugierig durch die Ausstellung schlendern und an jeder Ecke altbekannte Filmsequenzen entdecken, malen die großen Filmprojektoren ihr farbenfrohes Bild auf Kilians Stirn und Wangen.
Es wirkt geradezu, als sei dem jungen Modedesigner dabei die Story des Films ins Gesicht geschrieben – in das Gesicht, das mit seinen wachen und neugierigen Augen auch ohne Projektor unendlich viel zu erzählen hat. Vom Leben etwa. Oder von den Menschen und ihren Gefühlen.
Jonas: Du hast wahrscheinlich im Laufe der Jahre und bei der Vielzahl deiner Kollektionen jede einzelne menschliche Emotion thematisiert, die so entstehen kann... Kilian: Das ist durchaus möglich. Aber als ich vor kurzem mit meiner Grafikerin zusammensaß, sagte sie interessanterweise Folgendes: „Kilian, alles hat bei dir irgendwie immer mit der Liebe zu tun.“ Und ich glaube, da hat sie nicht unrecht. Wenn man sich fragt, worum es im Leben wirklich geht, kommt man letztendlich immer auf die Liebe – was auf der Welt hat denn letztendlich nichts mit der Liebe zu tun? Ich liebe meine Freunde, mein Zuhause, meine Arbeit oder gutes Essen. Und ich liebe es, wenn die Sonne scheint. Was kann einen denn mehr antreiben als das Gefühl, jemanden oder etwas zu lieben? Mich jedenfalls nichts.
„Bedauerlicherweise definieren viele Menschen das Gefühl der Liebe nur über die Zuneigung zu einem Partner.“
Jonas: Der Mensch interessiert sich ja auch in erster Linie immer für den Menschen. Kilian: Ja, aber bedauerlicherweise definieren viele Menschen das Gefühl der Liebe nur über die Zuneigung zu einem Partner – was ja nicht wirklich richtig ist. Jonas: Deine jüngste Kollektion stellt die Frage in den Mittelpunkt, was im Leben wirklich wichtig ist – ein emotionales Grundsatzthema. Wie kam es dazu? Kilian: Auslöser war der plötzliche Tod einer sehr jungen Person in meinem näheren Umfeld. Als ich von diesem schrecklichen Ereignis erfahren habe, hatte ich gerade damit begonnen, die neue Kollektion zu entwerfen. Dieser unerwartete Tod hat mich so sehr beschäftigt, dass ich dadurch auch mein eigenes Leben komplett in Frage gestellt habe: Da legt sich ein sehr junger Mensch abends schlafen und wacht morgens nicht mehr auf – das kann uns allen passieren. Ich habe mich also gefragt: Um was geht es eigentlich wirklich im Leben? Und dann habe ich dieses Gefühl dazu benutzt, die neue Kollektion zu machen. Jonas: Was genau heißt in diesem Zusammenhang „benutzt“? Bezieht sich das eher auf die allgemeine Stimmung, die du brauchst, um zu entwerfen, oder geht es eher um die konkrete Übersetzung in Farben, Schnitte oder Muster?
Kilian: Das kann man nicht wirklich voneinander differenzieren. Es fängt damit an, dass ich mich komplett in diese Stimmung fallen lasse – das funktioniert übrigens nicht im Atelier, dazu muss ich zuhause sein. Erst schreibe ich ganz viel, dann zeichne ich. Dieser Prozess ist schön und hässlich, bringt Freude und tut weh, hebt die Stimmung und killt sie wieder. So entsteht das emotionale Grundgerüst der Kollektion. Und wenn es in den darauf folgenden Monaten um die Umsetzung geht, bin ich jeden Tag so sehr in diese besondere Emotionalität involviert, dass sich das letztendlich auch über die Beschaffenheit der einzelnen Kleidungsstücke ausdrückt. Jonas: Besteht bei diesem Prozess nicht die Gefahr, sich selbst total zu verlieren? Kilian: Nein, ich habe glücklicherweise im Laufe meines Lebens gelernt, mich selbst ganz gut kontrollieren zu können – zumindest was diesen Teil meiner Arbeit angeht. Jonas: Auch ein Verdienst der Schauspielschule? Kilian: Nein, das habe ich mir tatsächlich erst danach durch die Arbeit als Modemacher angeeignet. Jonas: Welche Antwort hast du denn durch die Arbeit an der jüngsten Kollektion für dich persönlich gefunden? Was ist dir wichtig in deinem Leben?
Kilian: Meine Unabhängigkeit! Ich genieße wirklich nichts mehr als meine Unabhängigkeit – jedenfalls in meinem Privatleben. Beruflich bin ich nicht ganz so unabhängig, da ich beispielweise auch eine große Verantwortung gegenüber meinen Mitarbeitern habe. Trotzdem bin ich dort natürlich auch nicht so sehr fremdbestimmt, als wenn ich woanders arbeiten würde. Jonas: Auch wenn du nicht gerne darüber nachdenkst, was mal in ein paar Jahren sein wird – hast Du konkrete Pläne für die Zukunft? Kilian: Ich würde in den nächsten Jahren gerne in den USA Fuß fassen. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dort zu leben, verspüre ich momentan große Lust, dort beruflich etwas zu starten. Ich war jetzt schon ein paar Mal beispielsweise in Los Angeles und werde wahrscheinlich im Sommer wieder dorthin fliegen. Jonas: Die Welthauptstadt des Films hat ja auch eine besondere Anziehungskraft. Kilian: Absolut – und meine Leidenschaft für den Film ist ja nach wie vor ungebrochen. Selbst mein Freundeskreis besteht hauptsächlich aus filmschaffenden Menschen. Ich finde diese Leute wesentlich inspirierender als die aus dem Modebusiness, wir haben uns irgendwie mehr zu sagen. Vielleicht liegt das daran, dass ich in meiner Freizeit einfach keine Lust habe, über Mode zu reden.
Immerhin verbringe ich beruflich schon den ganzen Tag damit. Irgendwann ist’s mal gut – im Leben gibt es ja außer Mode auch noch etwas anderes.
Wir sind am Ende der Ausstellung angekommen und treten aus den dunklen Räumen hinaus ins Freie. Auf Kilians Gesicht breitet sich wieder dasselbe jugendliche Lächeln aus, das wir bereits am Vormittag kennenlernen durften. Während wir uns von dem jungen Berliner Modedesigner verabschieden, fällt unser Blick plötzlich auf seine pinkfarbenen Sneakers: Sie leuchten so intensiv, als hätte man sie direkt in die farbigen Videos der Ausstellung getaucht. Kilian wünscht uns einen schönen Tag und verlässt den Innenhof der KW. Aus dem Inneren des Cafés summt das kleine Radio, die Mittagssonne wärmt unsere Wangen. Was meint das Leben nur, wenn es uns manchmal glauben lässt, unser Gegenüber seit einer halben Ewigkeit zu kennen – obwohl wir ihm heute erst begegnet sind? Es meint, dass nur das Heute wichtig ist. Und natürlich die Liebe. So wie im Film.
Aus der Ko llek tion „Kilian Kerner x NI K E id “
Natalie K ist 28 Jahre a lt , fre is c h a f fe n d e s M o de l und K端nstlerin und le bt in Wup p e r ta l.
www.facebook.com/beauty.not.found
Natal & Dirk
alie K k Brune Dir k Brune ist 4 8 J a h re a lt , Foto k端 n st ler und lebt in B ergne usta d t .
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Lebenswut lebe Deine Wut ich lebe meine Wut eine Kraft in mir drin stark, kaum zu bändigen packt mich, lässt mich kaum noch los doch ich gebe ihr Raum sonst vernichtet sie mich selbst oder auch jemand anderen. Wut ist wie ein Feuer sie kann zerstören aber sie macht auch neues möglich weil altes vergeht Wut verteidigt meine Grenzen sichert meinen Selbsterhalt Wut ist eine Auflehnung aus meiner ohnmächtigen Trauer Wut zeigt mir, dass ich lebe!
Text: Natalie K Foto: Dirk Brune
Johannes Heidner ist 1 7 J a h re a lt , Sch端ler und lebt in B e rlin .
www.youtube.com/user/mjosodope
Johan Heidn
nnes dner
Treibende Kraft Du bist mit Freunden an ein Meer gefahren und tauchst endlich in das salzige Wasser ein, es ist kalt und schnürt dir die Lunge zu. Du denkst: Warum mache ich das hier? Ich könnte doch einfach am Strand in der Sonne liegen und ein Buch lesen! Doch dann schwimmst du etwas herum, gewöhnst dich an die Temperatur und tauchst unter. Die Sonne schimmert durch das Wasser und ein kleiner, bunter Fisch taucht auf. Er schwimmt in einiger Entfernung herum, doch dann dreht er sich um und schwimmt weg. Du wirst neugierig. Du schwimmst ihm hinterher, doch er ist schneller und verschwindet in der Dunkelheit. Da siehst du eine Wasserpflanze, du bist schon außer Atem, doch du willst da hin, denn der Fisch schwimmt um die in der Strömung wiegenden Blätter. Du kommst näher, nun bist du nur noch wenige Meter von der kleinen Pflanze entfernt, doch durch deine Bewegungen wird das Pflänzchen entwurzelt und treibt vor dir. Der Fisch wuselt noch immer um ihre grünen Arme. Du wirst langsam wütend. Jedes Mal wenn du dich dem Pflänzchen näherst, schwimmt sie etwas weiter. Du möchtest schon fast aufgeben, da taucht ein zweiter Fisch auf. Er schwimmt
neben dir, du siehst seine Flossen durch das Wasser gleiten, der ganze Körper in einer einzigen schlängelnden Bewegung. Er schwimmt durch deine Beine und nähert sich der Pflanze. Jetzt kannst du doch nicht aufgeben! Du verfolgst die Pflanze samt der Fische weiter, du tauchst immer wieder auf, um Luft zu holen. Du bist ganz starr auf diese Fische gerichtet, musterst sie, wie sie umeinander tanzen. Plötzlich spürst du Sand unter deinen Füßen. Während du durch das Wasser watest, den weichen Sand unter deinen Füßen weg schiebend, trittst du in etwas Matschiges. Unter dir sind Algen, sie legen sich um deine Füße und ziehen dich zurück. Du schüttelst sie ab, doch dabei entsteht so ein Druck, dass die Fische mit ein paar starken Flossenschlägen verschwinden. Du bist sauer: Du verfolgtest sie nun so lange und dann sind sie verschwunden - wie eine Illusion? Du schaust auf und bemerkst, dass du sehr weit gekommen bist. Du machst dich auf den Weg zurück. Du trittst auf etwas spitzes und Siehst unter dir Muscheln. Du bückst dich, greifst sie und säuberst sie im Meer.
Text: Johannes Heidner Foto: Moritz Kluth
Auf dem Weg zurück sammelst du die schönsten, die du finden kannst. Nach einiger Zeit kommst du bei deiner Liege an, deine beiden Hände voller schöner Muscheln. Deine Freunde sind schon nach Hause gegangen, also packst du deine Sachen und gehst über die Dünen zu dem Ferienhaus. Deine Freunde haben bereits mit dem Grillen angefangen. Du kommst zu ihnen und zeigst ihnen deine Muscheln. Einer der Freunde kommt zu dir und sagt: „Dafür hast du so lange gebraucht? Schau dir mal meine an und ich habe auch noch Steine gesammelt.“ Wenn ich mich überwinde, in das Schneiden einzutauchen, bin ich wie in einer anderen Welt. Dort gibt es nur mich und das Material, das ich kunstvoll zusammenfügen muss. Ich gehe nicht mehr auf die Toilette, esse nicht und trinke nicht. Ich sitze stundenlang vor meinem Computer und tippe und klicke. Ich versuche, immer etwas Neues zu entdecken - etwas am Programm, das ich noch nie davor fand. Manchmal habe ich auch schon so starke Vorstellungen, wie etwas am Ende aussehen muss, sodass ich desöfteren stundenlang damit verbringe, dies möglich zu machen. Es dauert lange und in dieser Phase bin ich noch angespannter als normalerweise beim
Schneiden: Einerseits bin ich immer kurz davor, daran zu verzweifeln, doch andererseits kommt die Wut, die mich vorantreibt und die mir sagt: „Zeig ihnen, dass du es schaffst!“ Diese zwei Gefühle sind so intensiv, dass ich mich verkrampfe, keine Störung akzeptieren kann und jeden verfluche, der durch meine Zimmertür kommt. All‘ das steuert dann auf das Ende hin: Entweder das Ende ist schlecht und ich muss aufgeben, weil meine Fantasie einfach nicht groß genug ist, und ich baue die alten bekannten Dinge ein, die jeder andere auch nutzt. Oder das Ende ist gut und ich schaffe, was ich wollte. Dann bin ich euphorisch und die ganze Spannung fällt von mir. „ch habe geschafft was ich wollte. Ungefähr so, wie… Dafür gibt es für mich kein Beispiel, weil es dieses eine bestimmte Gefühl ist, das nur auftaucht, nachdem ich ein Video erfolgreich beendet habe. Meine Wut kann zerstören, doch gleichzeitig ist sie eine treibende Kraft. Es kommt immer nur darauf an, wie ich sie umsetze - und dass ich versuche, sie produktiv zu nutzen.
Jakob Tem
Ja kob Te m m e ist 22 J a h re a lt , Student, Pu b lizist un d le bt in B e rlin .
ob mme
Text: Jakob Temme Foto: Roberto Brundo
Hallo Wut! Hallo Wut, da wir uns schon länger nicht richtig begegnet sind, wollte ich mich mal melden. Ich glaube, unser letztes Aufeinandertreffen war, als dieser Polizist auf dem Kreuzberg in der Walpurgisnacht mir seinen Ellbogen ohne Grund in die Rippen rammte. Unsere zufälligen Treffen sind jedoch sehr sporadisch und kurzweilig. Vielleicht ist Abstand aber auch nicht das Schlechteste. Manchmal frage ich mich, ob wir uns überhaupt schon mal richtig kennengelernt haben. Bin ich dir zu sehr aus dem Weg gegangen? Hätten wir uns aussprechen sollen? War ich dir gegenüber zurückhaltender als zum Beispiel dem Optimismus? Wenn ich dann jedoch weiter über unsere Beziehung nachdenke und in mich reinhorche, merke ich, dass du in mir ruhst und immer ein Teil von mir sein wirst. Ich möchte dich auf keinen Fall vergessen oder verdrängen, denn ich weiß deine Eigenschaften sehr zu schätzen. Du kannst Kräfte in mir entfalten, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte. Gerade fällt mir auf, dass du ab und zu doch sehr präsent bist. Und zwar dann, wenn ich merke, dass Menschen, die mir am Herzen liegen, lethargisch werden und beginnen, ihre Ausstrahlungskraft zu verlieren. In diesen Momenten kommst du ganz schnell in mir hoch.
Bei Kleinigkeiten im Alltag komme ich sehr gut ohne dich zurecht. Man sieht sich dann wohl eher während bewegender Gespräche mal wieder. So liebe Wut, genug der großen Worte. Ich hoffe, es geht dir gut und wir sehen uns bestimmt bald mal wieder. Vielleicht trifft man sich ja auch mal ganz bewusst auf einer Demo oder XYZ. Und damit du dir keine falschen Hoffnungen machst, wollte ich dir noch sagen, dass ich meine ausgeglichene und optimistische Art als sehr angenehme Lebensabschnittsgefährtin empfinde und mir auch eine Zukunft mit ihr vorstellen kann. Viele liebe Grüße! (auch wenn du diese schnulzigen Umgangsformen hasst) Dein Jakob
P.S. Falls mal chronische Langeweile eintreten sollte, kannst du ja mal darüber nachdenken, Kurse anzubieten: „Wie bleibe ich im Hintergrund, ohne mich minderwertig zu fühlen“. Da könntest du deine Erfahrungen teilen, so von Wut zu Wut.
I Hea Sha
Pier re B ee, Simon Wa n g e m a n n un d M a r t in Wolf sind gem e in s a m d ie B a n d I He a r t S h a rks .
www.iheartsharks.net
eart arks
To Be Young Interview & Text: Jonas Meyer Fotos: Roberto Brundo Assistenz: Franz Gr端newald
Das „Hackbarth’s“ in der Berliner Auguststraße ist immer für ein Bier gut – und in der Regel auch für ein interessantes Gespräch: Die Stunden hier können lang und erkenntnisreich werden. Und so zieht es uns auch heute wieder an diesen äußerlich zwar unscheinbaren, aber dafür im Inneren um so prächtigeren Ort: Sandfarbene Wände, blaue Kacheln, dunkles Holz und eine vor Messingbeschlägen nur so strotzende Bar verbreiten eine ganz eigentümliche Wohlfühlatmosphäre. Je dunkler es draußen wird, desto stärker erstrahlt das kleine Lokal in einem seidig schimmernden Goldton. Aber noch ist später Nachmittag – und das Wetter so unverschämt gut, dass wir uns fast dafür entschuldigen müssten, drinnen einen Tisch reserviert zu haben. Doch die von uns gewählte Ecke ist angenehm hell und gemütlich, es fällt sogar ein wenig Sonnenlicht in das charismatische Lokal. Kaum haben wir es uns auf den Eckbänken des großen Tischs gemütlich gemacht, betreten Simon, Pierre und Martin das „Hackbarth’s“ – die Sharks sind da! Und so sitzen wir wenige Minuten später stammtischartig in großer Runde beisammen, ordern Getränke und starten das Aufnahmegerät. Herzlich willkommen, I Heart Sharks!
Jonas: Pierre und Simon, ihr seid euch vor sieben Jahren in Berlin begegnet. Wie kam es dazu? Simon: Ich bin damals gezielt nach Berlin gekommen, um hier Musik zu machen. Zwar bin ich in München geboren, in New York und Virginia aufgewachsen und habe auch eine Zeit lang in Dresden gelebt, aber irgendwie schien mir Berlin der ideale Ort zu sein, um eigene Musik zu produzieren und dafür die richtigen Leute zu treffen.
Pierre: Ich hatte gerade in London ein Studium in Grafikdesign und Kunstgeschichte abgebrochen und wollte eigentlich nach Paris ziehen, um ebenfalls Musik zu machen – aber auch mir schien Berlin dafür die bessere Wahl zu sein. Schon als kleines Kind wollte ich immer in einer Band singen – wahrscheinlich weil mir mein Vater fast täglich die Musik seiner Jugend vorgespielt hat: Bei uns zuhause lief ständig David Bowie, Queen und wie sie alle heißen. Ich habe zwar später in der einen oder anderen Band gesungen, allerdings war es mir nie wirklich möglich, mich dort musikalisch einzubringen – ich habe ja nie ein Instrument gelernt und musste es daher immer anderen überlassen, die Songs zu schreiben. Das wollte ich einfach nicht mehr. Jonas: Und wie genau haben sich hier in Berlin eure Wege gekreuzt? Simon: Beim Feiern im Berghain! Zur damaligen Zeit wollten wir beide in Berlin andere Musiker kennenlernen und sind zufälligerweise an einem Wochenende im Berghain ins Gespräch gekommen. Piere: Als ich 2007 nach Berlin gezogen bin, war ich relativ oft im Berghain und anderen Clubs. Elektronische Musik war damals in London ja im Gegensatz zu heute noch nicht wirklich cool. Daher fand ich es richtig toll, diese Musik in der Berliner Clubszene zu erleben. Interessanterweise geht mir elektronische Musik heute gar nicht mehr so ab. Gerade mag ich gut gemachte Popmusik irgendwie mehr – vor allem, wenn sie intelligente Texte und eingängige Melodien hat, die die Leute zum Tanzen bringen. Und ehrlich gesagt macht es auch mehr Spaß, eigene Musik zu machen, als an den Wochenenden in Clubs zu feiern.
It‘s not easy t when the hands I‘m wide-eyed tick-ticks in my Got a feeling for the things I So I‘m kneelin I see, beggin So let me ha before I los Had no time Had no
„To Be Young“ b
to fall asleep of time hold me. d as the clock y lone bedroom. of animosity I haven‘t done. ng to any god ng for time. ave tonight se my life. to be young. o time.
by I Heart Sharks
Jonas: Sich gemeinsam im Berghain über Musik zu unterhalten ist aber immer noch etwas anderes, als tatsächlich eine eigene Band zu gründen und zusammen Musik zu machen. Wann habt ihr gemerkt, dass ihr beide musikalisch in die gleiche Richtung denkt und dass es da eine gemeinsame Basis geben könnte? Simon (lächelt): Der erste Versuch war irgendwie gleich ein Volltreffer – und hat bis jetzt gehalten! Jeder von uns hatte damals gewisse Vorstellungen, Ideen und vielleicht auch Talente, die wir einfach zusammengefügt haben. Das Ergebnis hat uns gefallen, also haben wir weitergemacht. Jonas: Martin, du bist 2011 als Schlagzeuger zur Band gestoßen, nachdem der damalige dritte Mann Georg Steinmaier ausgeschieden ist. Wie genau bist du Pierre und Simon begegnet? Martin: Pierre und ich haben uns kennengelernt, als ich mit meiner damaligen Band sein Projekt „Vienna“ supportet habe. Einige Zeit später schrieb er mich auf Facebook an und erzählte, dass sie einen neuen Schlagzeuger suchen. Ich weiß noch, dass ich gerade total euphorisiert von einem Coldplay Konzert kam, als ich seine Nachricht sah – daher habe ich auch direkt zugesagt. Martin grinst. Jonas: Im Jahr 2011 habt ihr auch euer erstes Album „Summer“ veröffentlicht. Habt ihr euch dafür bewusst vier Jahre Zeit gelassen? Pierre: Wir hatten am Anfang eigentlich gar nicht vor, ein Album zu produzieren, und wollten eher nur Live-Konzerte spielen – in Clubs, Kellern und wohin wir sonst noch so gepasst haben. Uns war es wichtig, immer unterwegs zu sein und neue Leute kennenzulernen. Daher haben wir unsere Songs auch hauptsächlich für Live-Auftritte geschrieben.
Wie das aber so ist, haben uns die Leute irgendwann gefragt, wann wir endlich mal ein Album veröffentlichen wollen. Also haben wir uns ernsthaft mit diesem Thema befasst und „Summer“ produziert. Die ersten Tracks der Platte sind allesamt Stücke, die ursprünglich nur für unsere Live-Auftritte geschrieben wurden. Daher war es uns bei unserem zweiten Album „Anthems“ umso wichtiger, dass diesmal alles etwas besser zusammenpasst. Jonas: Trotzdem hatte man schon bei „Summer“ den Eindruck, dass hinter dem Album ein schlüssiges Gesamtkonzept steht, weil der Sound über die gesamte Platte so klar und prägnant wirkt. Pierre: Das liegt daran, dass wir die Songs immer in relativ kleinen Proberäumen eingeübt haben, wo die Akustik schlecht war und die Instrumente ziemlich viel Lärm gemacht haben. Wir mussten für diese Gegebenheiten also Gitarrensounds erzeugen, die durch den ganzen Lärm durchschneiden konnten. Als wir diese Live-Songs dann später für unser erstes Album aufgenommen haben, haben wir eine etwas andere Ästhetik erzeugt und relativ viele Elemente rausgelassen, was die Stücke insgesamt etwas nackter gemacht hat. Die Songs auf unserem zweiten Album „Anthems“ dagegen sind ganz anders balanciert, weil sie von Anfang an für eine andere Umwelt geschrieben wurden. Jonas: Bei dem Song „To be young“, der ersten Single-Auskopplung eures neuen Albums, hört man zwar direkt I Heart Sharks heraus, trotzdem hat man das Gefühl, euch von einer ganz neuen, poppigeren Seite kennenzulernen. Pierre: Es war nicht unser vorrangiges Ziel, auf der neuen Platte poppiger zu klingen. Wir wollten vielmehr generell etwas anderes machen als vorher.
„To be young“ beispielsweise zeigt nur eine Seite des Spektrums des neuen Albums. Die nächste Singleauskopplung dagegen wird dafür eine ganz andere Seite dieses breiten Spektrums zeigen. Ich glaube auch, dass man sich das neue Album ein paar Mal anhören muss, um komplett reinzukommen. Alle 14 Tracks sind sehr unterschiedlich, dennoch haben wir darauf geachtet, dass der rote Faden erkennbar ist – und dass man bei jedem Song erkennt, dass es sich um I Heart Sharks handelt. Simon: „Anthems“ ist aber wie schon das erste Album kein Konzeptalbum: Wir haben uns nicht im Vorfeld konspirativ zusammengesetzt und geplant, ein in sich geschlossenes, themenbezogenes Werk zu produzieren. Die Platte ist vielmehr so entstanden, dass wir uns immer mal wieder getroffen und dabei einen Song geschrieben haben. Dann waren wir mal bei einem Konzert oder haben etwas Besonderes erlebt, haben uns erneut getroffen und einen weiteren Song geschrieben. So kam im Laufe der Monate immer ein Stück dazu. Somit ist das neue Album durch eine Kette von Entwicklungen entstanden, die interessanterweise erst im Nachhinein und beim Betrachten des finalen Ergebnisses den Eindruck vermitteln, als stünde tatsächlich ein großes inhaltliches Gesamtkonzept dahinter. Musikalisch gesehen hatten wir allerdings schon eine gewisse Idee davon, wie das Album werden soll: Insgesamt wollten wir uns mehr am etwas schmutzigeren, rotzigeren Sound englischer Bands orientieren und nicht so sauber klingen, wie man das aus dem deutschsprachigen Raum gewohnt ist. Daher haben wir auch mit einem Produzenten aus Manchester zusammengearbeitet, der über eine sehr große Erfahrung in diesem Bereich verfügt. Jonas: Wie genau lief eure Zusammenarbeit ab?
Simon: Wir haben alle sehr viel Zeit miteinander verbracht und den Produzenten quasi übergangsweise als viertes Bandmitglied aufgenommen. Das Gute war, dass er uns nie vorgegeben hat, wie wir diesen Sound erreichen müssen. Alles hat sich sehr natürlich und in gemeinsamer Arbeit entwickelt. Pierre: Und nachdem die Songs auf unserem ersten Album mehr auf einzelne Statements fokussiert waren, wollten wir diesmal mit jeden Lied eine Geschichte erzählen. Jonas: Im Refrain von „To be young“ heißt es: „Had no time to be young“ – habt ihr selbst das Gefühl, keine Zeit gehabt zu haben, um jung zu sein? Pierre: Den Begriff „jung sein“ verstehe ich eher als eine Metapher: Es geht darum, sich Zeit für sich selbst zu nehmen und die Dinge zu tun, die einen glücklich machen. Viele Menschen legen in ihrem Leben den Schwerpunkt einfach viel zu sehr auf ihre Arbeit und geben ihrer Freizeit dabei zu wenig Raum. Irgendwann aber geht man in Rente und merkt plötzlich, dass man sein halbes Leben verpasst hat. Jonas: Es gibt eben Berufe, die einen zeitlich sehr vereinnahmen. Pierre: Das stimmt. Es geht mir auch vielmehr darum zu zeigen, dass man nicht ewig leben wird und seine Zeit daher sinnvoll nutzen soll. Ich selbst musste in den letzten Jahren schmerzhaft meine Grenzen kennenlernen und feststellen, dass ich nicht für immer und ewig ein junger Mann bleiben werde. Irgendwann lernt jeder seine eigene Zerbrechlichkeit kennen und fragt sich zwangsläufig: Bin ich eigentlich glücklich? Mache ich genau das, was ich für mein Leben will?
Jonas: Dabei ist Zerbrechlichkeit etwas, was die heutige Gesellschaft eigentlich gar nicht mehr gestattet. Da geht es um Stärke, Leistung und ein ständiges Höher-schnellerweiter. Simon: Davon sind aber auch wir nicht wirklich verschont. Es gibt auf der Welt und vor allem in Berlin viele talentierte Leute, die gute Musik machen und damit Geld verdienen wollen. Man steht da in einem ständigen Wettbewerb und hat eigentlich keine Zeit, sich auszuruhen. Pierre: Ich glaube aber, dass sich viele Leute unnötig unter Druck setzen, weil sie glauben, unbedingt auf diesen Höher-schneller-weiterZug aufspringen zu müssen. Dabei stopfen sie ihren Kopf mit unnötig vielen Informationen voll, um ja nichts zu verpassen. Doch gerade dadurch verpassen sie es, sich auf das Wesentliche in ihrem Leben zu konzentrieren. Geht es nicht letztendlich darum herauszufinden, was für das eigene Leben wesentlich ist? Wenn man glücklich mit sich selbst ist und sich gezielt die Dinge rauspickt, die einen weiterbringen, ergibt sich der Plan des Lebens ganz von alleine.
Für einen kurzen Moment wird es ganz still – als würde jeder der am Tisch Versammelten die gerade gesprochenen Sätze für sich und sein eigenes Leben überprüfen. Plötzlich poltert ein Lastwagen über das Kopfsteinpflaster der Auguststraße und unterbricht abrupt die Stille. Wie durch einen Automatismus richten sich unsere Blicke mit einem Mal zur Eingangstür: Das Leben spielt sich heute draußen ab – und das Wetter ist nach wie vor gigantisch!
Wir zahlen kurzerhand und verlassen das Lokal, denn wir wollen noch ein wenig Sonne einfangen. Und so spazieren wir wenig später entlang der August- und Mulackstraße in Richtung Rosa-Luxemburg-Platz, lassen uns treiben und genießen diesen wunderschönen Tag unter strahlend blauem Himmel. Dabei halten wir immer mal wieder an, um das eine oder andere Foto von Simon, Pierre und Martin zu schießen.
Jonas: Würdet ihr das, was ihr tut, als Beruf bezeichnen? Martin: Ich glaube, Beruf ist da nicht das richtige Wort. Ich würde es eher Leidenschaft nennen – auch weil darin das Wort Leiden steckt. Man ist in unserem Job ja immer auf Achse, steht unter Stress, versucht Termine einzuhalten und schleppt Equipment von einem Ort zum anderen. Aber wenn man auf der Bühne steht, bekommt man von den Leuten so viel zurück, dass man weiß, wofür man das alles tut. In dieser einen Stunde während des Auftritts vergisst man den ganzen Mist, der davor war. Und genau das treibt einen jedes Mal wieder dazu an, mit all dem weiterzumachen. Jonas: Was genau ist es denn, was man von den Leuten vor der Bühne zurückbekommt? Simon: Das ist ein Gefühl, das den gesamten Körper in einen Rausch versetzt. Für mich ist es immer wieder atemberaubend, die Dynamik der großen Menschenmasse zu erleben, etwa wenn die Leute tanzen oder gleichzeitig hochspringen. Das hat eine ganz eigene Ästhetik.
„Es macht meinen Tag zwanzig Mal schöner, wenn sich fremde Menschen mit mir über unsere Musik unterhalten.“ Pierre: Stimmt. Und wenn man nach dem Auftritt vor hunderten Menschen plötzlich alleine im tristen Backstage-Bereich sitzt, merkt man noch viel deutlicher, wie gut das war, was man gerade erlebt hat. Für mich hat aber nicht nur diese große Masse etwas Magisches, sondern auch die persönliche Begegnung mit den Leuten. Es macht meinen Tag zwanzig Mal schöner, wenn sich fremde Menschen mit mir über unsere Musik unterhalten und beispielsweise erzählen, was einer unserer Songs in ihnen auslöst. Jonas: Welche Musik löst denn in euch etwas aus? Pierre: Ich bin immer den Tränen nahe, wenn ich mir das Album „Hurry up, we’re dreaming“ von M83 anhöre. Das zerstört mich jedes Mal auf’s Neue. Oder die Musik von The National. Martin: The National zerreißen mir auch das Herz. Ende letzten Jahres war ich zusammen mit Pierre auf einem Konzert von The National in der Berliner Max-Schmeling-Halle. Uns beiden stand das Wasser in den Augen – und wir haben zwei Stunden lang nur gestaunt, wie unfassbar gut diese Musik ist. Simon: Live-Musik kann sowieso viel mehr Emotionen auslösen als jede CD oder Schallplatte. Wenn ein Künstler leibhaftig vor mir steht und mir ehrlich verkauft, was er da tut, hat das großes Gänsehaut-Potenzial. Für mich erzeugt beispielsweise die Band Efterklang eine unglaubliche Magie auf der Bühne. Jonas: Seit ein paar Jahren beobachten wir zwei sehr gegensätzliche Entwicklungen:
Auf der einen Seite scheinen sich junge Leute immer ausführlicher und intensiver mit Musik – auch mit Indie-Musik – zu beschäftigen, auf der anderen Seite spielt medial die Qualität von Musik eine immer kleinere Rolle: Menschen stehen Schlange bei unzähligen Casting-Shows, um in möglichst kurzer Zeit ein wenig Ruhm und Aufmerksamkeit zu erlangen. Nehmt ihr diese Veränderungen ähnlich war? Simon: Musik gehört heute viel stärker zum persönlichen Lifestyle als noch vor ein paar Jahren. Alleine die Tatsache, dass man seine Musik auf dem Smartphone überall dabei hat, führt dazu, dass man sich permanent darüber definiert. Dadurch kommt der Musik automatisch ein höherer Stellenwert zu. Pierre: Indie ist ja auch der neue Mainstream. Simon: Und Mainstream ist das neue Indie. Pierre: Indie war am Anfang ja kein eigenes Musikgenre, sondern stand einfach für „Independent Records“. Es hat sich nur deshalb zu einem Genre entwickelt, weil die Bands alle sehr ähnlich klangen. Wahrscheinlich wird der Indie-Künstler der Zukunft jemand sein, der zuhause im Schlafzimmer irgendwelche Beats und Sounds an seinem Laptop baut und dadurch „independent“ und nicht Mainstream ist. Insgesamt ist Mainstream aber auch nichts Schlechtes: Es bedeutet ja in erster Linie nur, dass viele Menschen diese Musik mögen und daher öfter hören.
Jonas: Im Gegensatz zu vielen Mainstream-Bands gelingt es euch, eure Musik auch grafisch zu interpretieren. Alleine die Schriftart, die ihr verwendet, orientiert sich mit ihrer klaren, spitzen und aussagekräftigen Architektur sehr stark am I Heart Sharks-Sound. Pierre: Mir war es sehr wichtig, dass eine inhaltliche Verbindung zwischen unserem Sound und unserem visuellen Auftritt hergestellt wird. Daher habe ich unsere Typo auch selbst entworfen. Insgesamt wollte ich bei I Heart Sharks grafische Klarheit schaffen und kein Chaos erzeugen. Und ich versuche, über alle Alben ein in sich schlüssiges Corporate Design zu etablieren. Jonas: Dabei scheint bei dem Artwork eures zweiten Albums „Anthems“ die Fotografie eine wesentlich größere Rolle zu spielen als vorher. Pierre: Das stimmt, die Optik ist sehr stark von der Fotografie Helmut Newtons inspiriert, den ich während des Schreibens für mich entdeckt habe. Ich kannte zwar seine Bilder schon vorher, aber habe mich erst vor kurzem intensiver damit auseinandergesetzt. Ich muss sagen, dass mich seine Farbfotos noch wesentlich stärker berühren als seine Schwarzweiß-Werke. Ich liebe einfach diese Traumwelten, die er mit prägnanten, übersättigten Farben und starken Kontrasten kreiert. Diesen Stil wollte ich für „Anthems“ interpretieren, da unsere Musik ebenfalls sehr prägnant und kontrastreich, aber dennoch in gewisser Weise träumerisch ist. Jonas: Aus welchem Gefühl heraus könnt ihr denn am besten komponieren und texten? Simon: Ich bin ja leider eher der sachliche Typ, gehe alles sehr systematisch an und entscheide wenig aus dem Bauch heraus. Das nervt mich ein wenig, lässt sich aber nicht so einfach abstellen.
Pierre: Ich finde Reisen dafür perfekt: Andere Länder kennenzulernen macht mich immer total kreativ. Aber auch negative Emotionen wie etwa Traurigkeit lassen mich bessere Texte verfassen. Als ich die Songs für unser neues Album geschrieben habe, hatte ich gerade eine Trennung hinter mir. Unser Manager scherzt immer, dass wir öfter Beziehungen beenden sollten, weil dadurch unsere Songs besser würden. Martin (lacht): Für einen Schlagzeuger ist wahrscheinlich Wut die beste Gefühlslage, bei einem Gitarristen würden ja direkt die Saiten reißen. Aber ich gebe Pierre recht: Traurig sein hilft der Kreativität enorm, da man in diesem Zustand in viel mehr Richtungen denkt und seine Gefühle besser kanalisieren und auf Papier bringen kann. Wenn man glücklich ist, macht man sich eben nicht so viele Gedanken – dann ist man einfach nur glücklich.
Wir sind mittlerweile am Rosa-LuxemburgPlatz angekommen und lassen uns auf den steinernen Treppen der Berliner Volksbühne nieder. Die Sonne hat sich zurückgezogen, es ist ein wenig kühl geworden. Der Himmel strahlt nach wie vor in kristallklarem Blau und wartet zufrieden auf die Dunkelheit. Wir schießen die letzten Fotos und verabschieden uns wenige Minuten später von Simon, Pierre und Martin. Mit jeder Minute, in der sich die Dämmerung stärker über den Rosa-Luxemburg-Platz legt, betreten immer mehr Lichter der Großstadt die Bühne. Wie gut, dass wir noch draußen waren und den Rest dieses wunderschönen Tages erleben konnten. Dafür sollte man sich ohnehin mehr Zeit nehmen – und für alles andere, was im Leben wichtig ist.
„Traurig sein hilft der Kreativität enorm, da man in diesem Zustand in viel mehr Richtungen denkt.“
Ram Frauen
Ra m on a Fra ue n ra t h ist 27 J a h re a lt , Sch a us p ie le rin , Kun st - un d Th e a te rp 채 d a g og i n un d le bt in B ra un s c hwe ig .
mona enrath
Ich gehe wohin meine Gedanken mich tragen, lebe was meine Gefühle mir sagen und doch lodert eine Wut in mir. Was ist diese Wut? Es ist ein Groll den ich unschwer bändigen kann. Es ist das nicht können, aber wollen. Das Machen, aber nicht richtig machen. Das Scheitern, dass sich nicht entscheiden können, das erfolgreich sein wollen, dies aber nie sein können. Meine Wut ist, dass ich so vieles will aber alles nur halb gut kann. Dass ich heute nicht weiß was morgen das Richtige wäreMeine Wut ist, dass ständig wissen müssen was man will, was man mag, was man kann, aber ich weiß nichts. Nur, dass ich die Gesellschaft nicht ertrage, die Jugend heut zu Tage, die Bewertung in einer Skala von eins bis sechs. Die sechsundzwanzig Urlaubstage im Jahr. Das Vergessen von Intuition, Emotion und Einfühlungsvermögen! Meine Wut bist du, der mir gegenüber steht und mich lehrt, dass alles Wissen der Welt Freiheit bedeutet! Meine Wut ist das virtuelle Leben in Taschenformat. Meine Wut ist die Perfektion nach der alles strebt, die ich nicht mag und die dennoch an mir nagt. Es ist das nicht Wissen wohin mit sich, vor lauter Angebot und Nachfrage. Das, alles ist möglich und alles haben können und dennoch nichts davon machen wollen. Meine Wut ist der Takt der Zeit, der unser Leben bestimmt. Es ist die propagierte Freiheit die sich nicht leben lässt. Meine Wut ist der Besitz, das Eigentum, das Kapital, das wirtschaftliche Wachstum mit Rechenfehler. Meine Wut sind Grenzen, das Ausgrenzen, der Entzug von Eigenständigkeit. Meine Wut richtet sich gegen diese eine Welt, die ich nicht mag, die ich verabscheue, ablehne, und dennoch ein Teil von ihr bin. So richtet sich meine Wut gegen mich. Ich, die keine Grenzen mag und dennoch welche zieht.
Gegen mich Text & Illustration: Ramona Frauenrath
Franzis Stette
Franz iska Ste t te r is a 29 - ye a r- old g ra p h ic d e s ig n e r livin g in B rookly n , New York.
www.franziskastetter.de
iska ter
Text: Franziska Stetter Photo: Wael Morcos
Off Kilter I like to complain. I complain about work, about food, about disorganization, about too much organization. I’m often against various things and I always find more things to complain about, whether it’s a dripping tap, or the hole in my jacket’s pocket where everything falls through. And since I’m often the only one who complains, I have to complain about the fact that no one else complains. I have moved 15 times in the last 6 years. After all those experiences of cultural displacement, I realized that my emotional wellbeing stems from my longing for the familiar. However, over the years, things that used to be foreign have become ordinary, and vice versa, things that used to be familiar became strange.
In adopting new cultures, I compromise fragments of my beliefs, not only personally but also professionally. In my first internship in the United States, my boss used to tell me that my design looks “too German”. Back in Germany, people described my internship-work to be “very American”. While adapting, my identity polarized, my critical stance detached from national origins, and my perspective expanded. Complaining is not always negative. In my case it is simultaneously a desire for the known but also a desire of change and moving forward. If I keep moving it is because I haven’t settled.
Mar ieke Fi s c h e r ist 22 J a h re a lt , freie Journalistin u n d le bt in B e rlin .
Marie Fisc
ieke cher
Furie Text: Marieke Fischer Foto: Hannah Pot d‘Or Furie. Sie spuckt das Wort immer wieder heraus. Rotzt es auf die befleckte Bettdecke, in der sie den sonnigen Tag verbrachte. Furie. Wie alles im Leben verkommt es nach mehrmaliger Repetition zur Normalität. Zur tristen, langweiligen, immer gleichen Scheiße. Natürlich könnte sie es gebildet-frankophil verpacken. Ihren Geist als Erbe eines Camus verkleiden, ihre Attitüde melancholisch-trotzig als Soko ausgeben. Aber warum das Leben als Wiederholung laufen lassen? Zur Kopie einer Kopie einer Kopie werden? Furie. Sobald das Stechen im Bauch anfängt, der Hals eng wird und analfixierte Fäkalworte das Sprachzentrum beherrschen. Wenn die Wut zu ihrem Ich wird.
Wenn sie wütend auf sich selbst ist. Dann wird dieses Gefühl auch nach der eintausendfünfhundertsten Wiederholung nicht zur Normalität. Nur sie fühlt sich normal. Das Resultat ihrer eigenen Banalität? Ihre Wut ist Angst im falschen Gewand. Angst vor dem Verlust. Angst vor dem Versagen. Angst davor den eigenen Weg nur in den kaugummiverklebten Fußspuren ihrer Vorgänger zu finden. Die Angst davor eben doch nur die Kopie einer Kopie einer Kopie zu sein. Ein Teil der immer gleichen Scheiße zu sein. Furie sagen manche zu ihr. Sie stellt sich als Angsthase vor.
Loui Borin
Louise B orin s ki ist 20 J a h re a lt , stu d ie r t Fotog ra fie un d le bt in B e rlin .
www.louiseborinski.tumblr.com
ise nski
Stumme Wut Text & Foto: Louise Borinski Stumme Wut hat kein bestimmtes Gesicht. Sie l채sst uns keinen klaren Gedanken fassen. Wir wenden uns ab. Verdr채ngen. Doch vor uns befindet sich nur eine Mauer. Grau. Sie versperrt uns den Weg. Den Weg vorw채rts.
Stefan Pop
nia Stefan ia Pop is a 27-year-old p h oto ar tist living in Cluj -Nap oc a , Rom a n ia .
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Text & Photo: Stefania Pop
Into
Nature has always been my escape. Spring brings me hope each year because when I see trees and meadows come alive after a long winter I know there is still something to look forward to. Whenever I feel sad or uninspired I just take my camera and go outside. Nature has always been my escape that’s why it makes me angry to see man destroying nature, Green means life, means hope. But today we are turning green into grey.
Grey
Jenn Fitz
Jenny F itz ist freisch a f fe n d e Fotografin un d le bt in B e rlin .
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Text & Foto: Jenny Fitz
Spurensicherung
Es gab da diesen Künstler aus den 60er Jahren. Der hat mal seinen Abendbrottisch konserviert. Den ich dann 40 Jahre später in irgendeinem schicken Museum an die Decke genagelt betrachten durfte. Man fragt sich, was die da gegessen, worüber die sich unterhalten haben, und alles nur, weil man auf zerfressene, getrocknete Artefakte schaut. Kunst? Vermutlich einfach ein x-beliebiger Abend mit Freunden, einer von vielen. Sechs Tage später. Ich habe eine Menge herausgefunden in den letzten sechs Tagen. So lange räume ich nämlich schon meine Küche nicht mehr auf. Essensreste zum Beispiel. Die fangen gar nicht sofort zu schimmeln an. Die trocknen erstmal. Ein Salatblatt. Das verwandelt sich in so eine Art Papierskulptur. Oder Nudelsoße. Eine richtig tolle Nudelsoße. Jetzt starre ich auf eine harte bräunliche widerliche Substanz und muss mich an die Zutaten erinnern. Überreste einer x-beliebigen Woche, eine von vielen. Wenn ich morgens aufstehe und erstmal einen Geschirrberg wegspülen muss, macht mich das wütend. Dachte ich jedenfalls. Aber ich bin nicht wütend. Allenfalls ein wenig genervt, weil ich jetzt wirklich keine Tasse mehr finden kann, die noch sauber ist. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Den Dreck, den ich verabscheue, gerade gehört er dazu. Wut und Gewohnheit. Schließen die sich aus? Es ist nicht das Geschirr, das mich wütend macht. Es ist die Überraschung, die ich erlebe, wenn ich einen sauberen Tisch erwarte - und dann das Geschirr herumsteht.
Ich habe versucht, mich auszutricksen. Die Wut zu planen. Aber Wut will nicht gesucht werden. Sie will einen anfallen, von hinten, blitzschnell. Heimtückisch. Jedenfalls kommt die Wut nicht von vorne, sie winkt nicht und sie hat sich auch vorher nicht angemeldet. Und jetzt? Sechs Tage lang habe ich hier keinen Finger gerührt. Jetzt mache ich mich über jeden Fleck her und bearbeite ihn mit Essig, lauter Musik und einer Intensität, die befreiend ist. Dabei mag ich das eigentlich gar nicht, Hausarbeit. Da, irgendetwas ist hinter den Kühlschrank gefallen. Da ist es ja auch besonders dreckig, seit vier Jahren habe ich hier nicht sauber gemacht. Jetzt aber soll alles blitzen. Mit einem langen Besen stochere ich nach Küchenabfällen und einer Packung von irgendetwas, was ich zwischendurch bestimmt schon mal gesucht habe. Ein plötzlicher Schmerz an der Stirn – ich habe mich an einem Scheißnagel gestochen, wo kommt der denn her. Achja, da hängt der Besen dran, den ich gerade zum Stochern benutze. Wütend taste ich nach meiner Stirn. Ich blute. Ha, ich bin wütend. Da hat sie mich erwischt, mich angesprungen und direkt einen Sündenbock gefunden. Mich. Tief durchatmen. Fertig putzen. Und dann erstmal eine schöne Tasse Kaffee. Ich betrachte die saubere Küche und denke an die Wut. Die schon wieder verflogen ist. Und der man so schwer auf die Spur kommt, wenn man nach ihr sucht.
Luka s Le iste r ist 24 J a h re a lt , Fotok端nstler und le bt in W ie n .
www.lukasleister.de
Luka Leis
as ster
Fremde Wut Text & Foto: Lukas Leister
Dass er die Wut, die sich seit Wochen erst unmerklich langsam, dann unaufhaltsam schnell in ihm ausbreitete, irgendwann nicht mehr werde zurückhalten können, hatte er geahnt. Woher diese Wut kam, konnte er allerdings nicht sagen. Anfangs war er sich noch nicht einmal sicher, gegen wen oder was sich seine Wut richtete, und später war es ihm egal. Das Blaulicht blendete ihn. Grelles Licht hatte er früher nur sehr schwer ertragen können, doch heute beruhigte es ihn. Auch die ständigen Lautsprecherdurchsagen, das Klirren zersplitternden Glases und das Geschrei derer, die hinter ihm standen, hätten damals mehr als Unbehagen in ihm ausgelöst. Hier und jetzt fernab von seinem
gut bezahlten Job, dem geerbten Einfamilienhaus und den unerträglich freundlichen Schwiegereltern fühlte er sich weniger schlecht als sonst. Es ging ihm wirklich nicht darum, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, oder darum, einem verlorenen Idealismus hinterherzujagen. Er war weder auf der einen noch der anderen Seite. Paul war auf der Suche. Und er war sich sicher, sie zwischen all den Vermummten und Uniformierten zu finden. Irgendwo in der Masse von Gesichtslosen, bei der ein Einzelner kaum mehr zu erkennen war, würde sie sein. Sie würde dastehen, unbeeindruckt von Wasserwerfern und Kieselsteinen, würde ihn anlächeln und zuflüstern: „Ich bin deine Wut.“
Jona Mey
Jonas Meyer ist fre ib e ruf lic h e r A r t Dire c tor, Publiz ist un d le bt in B e rlin
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Ewiges Schwarz Text & Foto: Jonas Meyer
Seine Stimme ist hell, fast schrill, wenn er sich ereifert. Blut schießt in seinen Kopf, sein Körper bebt. Der Ton ist aggressiv, alle Zeichen stehen auf Kampf. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. Und gegen ihn, das bedeutet Krieg. Berauscht ist er von der eigenen Überzeugung. Und süchtig ist er. Nach sich selbst. Man könnte Wut empfinden. Pure Wut.
Einige Tage später. Um mich herum ein tiefes, wummerndes Schwarz. Mein Gefühl für Zeit ist längst zur Illusion verkommen, ich schwebe in ewiger Dunkelheit. Wie eine Maschine folge ich dem Takt der Nacht, permanent getrieben vom übermächtigen Bass. Erbarmungslos zieht er dabei alle Energie aus meinem Körper. Und flöst sie mir wenig später in einer Mischung aus Mut und Zuversicht wieder ein.
Doch sein Temperament ist nur ein Deckmantel: Unter dem Tarnnetz der großen Bühne verbergen sich Angst, Unsicherheit und Selbstzweifel. Zusammengekauert verstecken sie sich vor der Außenwelt und hoffen, nicht erkannt zu werden.
Ich bin berauscht von der Musik. Und süchtig nach Freiheit.
Aggression als Kostüm.
Nachhause. Schlafen. Träumen.
Der Tag bricht an. Vorbei an dem, der mir einst ebenfalls Mut und Zuversicht einflöste, verlasse ich das ewige Schwarz.
Ohne Wut.
T H E M Y PA G E S M A G A Z I N E
Danke Wir danken von ganzem Herzen denen, die uns auf unserem Weg begleiten und uns jeden Tag in dem bestärken, was wir tun. Unser besonderer Dank gilt Kathrin Hain, Malte-Bela von Saher, Axel Wallrabenstein, Henriette Sölter, Philipp Koch Verheyen, Feven Kiflom, Benedict Föll, Lana Wittig, Jan Schmitz, Sebastian Preiß und Michelle Barthel.
Impressum M Y P M AGA Z I N E T H E M Y PAG E S M AGA Z I N E S C H L E S I S C H E ST R. 19, 10997 B E R L I N, G E R M A N Y +49 (0) 30 . 22 39 31 72 - I N FO@ M Y P- M AGA Z I N E.CO M H E R AUS G E B E R: J O N A S M E Y E R & LU K A S L E I ST E R KO N Z E P T I O N & A RT D I R EC T I O N: J O N A S M E Y E R ( J M VC) R E DA K T I O N: J O N A S M E Y E R & M A X I M I L I A N KÖ N I G A RT I K E L- FOTO G R A F I E & B I L D B E A R B E I T U N G: M A X I M I L I A N KÖ N I G, F R A N Z G RÜ N E WA L D, RO B E RTO B RU N D O P RO D U K T I O N SA SS I ST E N Z: F R A N Z G RÜ N E WA L D FOTO G R A F I E T I T E L- E D I TO R I A L: M A X I M I L I A N KÖ N I G COV E R: BORIS DOLINSKI OSTG U T TO N
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