ISBN 978-3-9503871-4-8 · 12.80 1
südtirol 2015/16 bauen + handwerk
noa* n network of architecture
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Welten zwischen Tag und Traum Das neu gestaltete Vier-Sterne-Familienressort „Ulrichshof“ in Rimbach (Bayrischer Wald) Fantastische Welten zu erschaffen oder in Räume vorzudringen, die bis dahin kein Auge gesehen hat, war bisher in erster Linie der Literatur vorbehalten. Dass dieses Ziel immer wieder jedoch auch von Architekten angestrebt wurde, zeigt sich bei Projekten, in denen Architektur und Kunst zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen. Aufgenommen wurde dieser Ansatz nun von den Meistern der Entgrenzung, den noa* Architekten um Stefan Rier und Lukas Rungger in Bozen, welche – nach gewonnenem Innenarchitektur-Wettbewerb – das Vier-SterneRessort Ulrichshof in Rimbach (Bayrischer Wald) in einen fantastischen Märchen- und Erfahrungsraum für Kinder und deren Eltern verwandelten. Folgerichtig diente ihnen dabei für die Gestaltung der Innenräume das von dem österreichischamerikanischen Psychoanalytiker und Kinderpsychologen Bruno Bettelheim verfasste Buch „Kinder brauchen Märchen“ als Quelle der Inspiration. Wo Wald noch Urwald ist, Wölfe und Luchse tatsächlich durchs Unterholz streichen und Moorhexen, Feen und Quellgeister bei Vollmond schaurig-schöne Rituale feiern, da ist der Bayerische Wald. Eine verwunschene Welt mit dunklen Seen, Flüssen und Bächen voller Charme, Riesensteinen auf den Gipfeln und magischen Wiesen voller seltener Blumen und Kräuter. In dieser Welt der gruseligen Geschichten und unmöglicher Möglichkeiten wurde im kleinen Ort Rimbach Mitte der 1980er Jahre der „Ulrichshof“ erbaut, ein bodenständiger Großbauernhof, der naturliebenden Gästen etwa zehn Pensionszimmer anbot. Aus diesen Anfängen entwickelte sich in den zurückliegenden 20 Jahren ein weitläufig angelegtes Vier-Sterne-Hotel mit etwa 60 Zimmern, das besonders von Familien frequentiert wurde. Dieses Ensemble wurde nun zwischen April 2013 und April 2014 von den noa* Architekten erweitert und von Grund auf – nach einem organischen Konzept zwischen Tag und Traum – umgestaltet. Dabei entstanden 31 neue Doppelzimmer sowie zehn neue Suiten. 2012 gewann noa* den European Hotel Design Award in London für das Projekt „ Hotel Valentinerhof“ in Kastelruth, welches in unserer 2012er Ausgabe vorgestellt wurde. Für das aktuelle Projekt „Ulrichshof“ ist noa* derzeit in Singapur für den Wan Award und in London für den Win Award nominiert.
Foto © noa* + Alex Filz
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Architektonische Erweiterungen Vor dem jüngsten Eingriff 2013/14 war das Hotelareal ausschließlich im Süden überbaut. Nun entstanden neben einem auf drei Ebenen organisierten Zentraltrakt im Norden ein viergeschossiger (E+3), L-förmig konfigurierter Zimmertrakt sowie im Osten ein zweigeschossiger (E+1) Wellness-Bereich. Dadurch wurde ein Rundum-Ensemble mit Zentralbereich geschaffen, bei dem die einzelnen Baukörper die Wipfel der Bäume nicht überragen. Heute nimmt der neue Zentralbau auf seiner unteren Ebene einen Kinderspielbereich, im mittleren Stockwerk den Eingang, die neue Rezeption sowie – als Dreh und Angelpunkt –
die Lobby auf, während das obere Stockwerk von einer Executive Lounge dominiert wird. Verbunden sind die Neu- und Bestandsbauten durch Passagen, wobei die Waldachse den Norden mit dem Süden des Grundstücks und die Wasserachse den Westen mit dem Osten verbindet. Dabei ist die Waldachse, die von dem – an den Wald angrenzenden – Zimmertrakt im Norden zum neuen Zentralgebäude und weiter zum Bestand – mit Restaurant und Gästezimmer – im Süden führt, als erdgeschossiger, gläserner Gang – der „Flaniermeile“ – ausgebildet. Entlang dieser Verbindungspassage manifestieren Tannen, Fichten und Föhren das von den Architekten vorgegebene Waldkonzept. Dieses wird in der Lobby des Zentralbaus wieder aufgenommen, wo die Bäume – über alle drei Ebenen hinweg – bis zum Dach hinauf ragen. Von außen präsentiert sich der neue zentrale Baukörper mit einer vierseitigen Ganzglasfassade. Der neue, massive Bettentrakt im Norden tritt mit einer Holzfassade samt Satteldach in Erscheinung. Der ebenfalls in Massivbauweise realisierte neue Wellness-Bereich zeigt sich an seiner West- und Ostfassade voll verglast. Darüber thront ein Satteldach. Nach außen hin nimmt das erweiterte Ensemble die Bautypologie der Umgebung auf, sodass das Hotel sein früheres ländliches und bäuerliches Erscheinungsbild beibehält. Der Zubau im Zentrum verbindet die Volumina untereinander und versucht, sich durch seine Transparenz aufzulösen. Die zahlreichen Bäume auf dem Hotelgelände stellen die Verbindung zur benachbarten Waldung her.
Zahlen – Daten – Fakten Neues Vier-Sterne-Ressort Ulrichshof in Rimbach Bauherrschaft: Ulrich Brandl, Rimbach Generalplanung: noa* network of architecture, Bozen Dr. Arch. Stefan Rier Dr. Arch. Lukas Rungger Projektarchitekt: Dr. Arch Christian Rottensteiner Geladener Wettbewerb: 2012 – 1. Preis Baubeginn: April 2013 Fertigstellung: April 2014
Projekt-Partner Lichtstudio Eisenkeil, Marling Fischnaller B. & Partner GmbH, Brixen ■ Hofer Fliesen & Böden GmbH, Barbian ■ METEK ITALIA Metek GmbH, Frangart ■ ■
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Das Interior Design Bei der Gestaltung des erweiterten „Ulrichshofs“ schrieb noa* die Geschichte des ursprünglichen Bauernhofes einfühlsam und voller Fantasie fort. Dabei wurden die Architekten – wie bei allen noa*-Projekten – von Spezialisten anderer Fachrichtungen – etwa Designern und Stoffdesignern, Psychologen und Lichtkünstlern – kreativ unterstützt. Kerngedanke des Projektes war es, auf der Basis des Vorhandenen und vor der Kulisse des Bayrischen Waldes eine neue Bühne zu errichten, auf der – in faszinierender und selten gesehener Weise – Märchen für Kinder und Erwachsene erzählt werden. Da die hierzu gestalteten Szenenbilder innerhalb erlebbarer Räume angesiedelt sind, werden die kleinen und großen Gäste auf ihrer Erlebnistour zwangsläufig zu Protagonisten innerhalb der Märchenwelten. Das allgemeine Thema der Lobby ist der Märchenwald, der sich in verschiedenen Ecken und Nischen in den Einzelheiten der unterschiedlichen Geschichte entfaltet. Vorhänge reichen hier oft über mehrere Stockwerke und betonen die Höhe der Räume. Brücken verbinden die einzelnen Märchenorte. Hier sitzen Kinder und Eltern in den weichen Sofas der Frau Holle, dort lässt Rapunzel ihre Haare herunter. Und wieder woanders finden die Gäste den Schuh von Aschenputtel. Auch der Eintritt in den „Ulrichshof“ ist Märchen und klare Absage an traditionelle Erzählformen zugleich. Keine rosa Feen und Elefanten mit Flügeln. Keine überschminkte Waldprinzessin und kein weißgeschimmelter Königssohn. Dafür begegnet der Eintretende hier der Natur in ihrer ungezähmten Form – als freies Spiel der Farben, Formen, Materialien und Stimmungen. Die architektonischen Erzählformen kommen in diesem Dorado von Fantasie, lebendig gewordener Legenden und einer erstklassig umgesetzten Materialisierung ohne Kitsch und Pomp aus. Ähnlich der Natur, die das Vier-Sterne-Familienhotel umgibt. Ein logischer Faden verbindet die Raumsequenzen. Dabei fungiert die Lobby im neuen Zentralgebäude als Herz der Anlage, von wo aus der Gast – über die Waldpassage – in das Spa-Gebäude oder den neuen Zimmertrakt gelangt. 60
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Der Wellness-Bereich beherbergt unterschiedliche Saunazonen, Dampfbäder, Ruhe- und Schlafräume. Stilistisch orientiert sich das Gebäude an der typischen Bauernhofarchitektur der Umgebung. Im Osten vorgelagert erstreckt sich ein rund 600 m² großes biologisches Schwimmbad mit Liegewiese. Die neu geschaffenen Zimmer und Suiten offerieren Grundrisse für die verschiedensten Ansprüche und Familienkonstellationen. Hier reicht das Spektrum von der 45 m² großen Standard-Suite bis hin zur 100 m² messenden Chambtal-Suite. Die Stockwerke des Zimmertrakts sind Tiergruppen zugeordnet. Die Zimmer selbst sind als Themenräume ausgebildet und tragen den Name einzelner Tiere. Dabei präsentieren sie sich als Lebensraum der jeweiligen Spezies. Eingefräste Spuren an Schränken und Wänden werden so zum Teil der Geschichte, regen zum Erzählen an und beflügeln die eigene Fantasie. Aufwendige Verglasungen lassen den Blick nach außen zu, sodass Innenraum und Natur miteinander verschmelzen. Die dominanten Materialien der Zimmer sind Holz und Stein für den Boden – in Kombination mit natürlichen Leinenstoffen für Polstermöbel und Lampenschirme. Abgeschnittene Baumstämme fungieren als Beistelltische. Alle Objekte, Möbel, Lampen und Stoffe wurden von noa* im Sinne einer gesamtheitlichen Design-Philosophie konzipiert und mit viel Liebe zum Detail von lokalen Handwerkern ausgeführt. ufo
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Zahlen – Daten – Fakten Erweiterung der Villa Gries, Bozen Bauherrschaft: Privat Planung und Bauleitung: noa* network of architecture, Bozen Dr. Arch. Stefan Rier Dr. Arch. Lukas Rungger Baubeginn: 2014 Fertigstellung: 2015
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Die Leichtigkeit des Anblicks Erweiterung der Villa Gries in der Vittorio Veneto Straße, Bozen Auch relativ unspektakuläre Projekte besitzen ihre Reize. Besonders dann, wenn sie von einem so unkonventionellen Planungsbüro wie noa*-network of architecture in Bozen angegangen werden. Auf der Agenda stand im Herzen des Bozner Stadtquartiers Gries eine Villa aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die als ein dreigeschossiges (E+2) Wohn- und Geschäftshaus in Erscheinung trat. Während dabei das Erdgeschoss eine Metzgerei aufnahm, beherbergten die beiden Obergeschosse zwei – jeweils rund 50 m² große – Wohneinheiten. Aufgabe der Planer war es nun – bei laufendem Betrieb der Metzgerei – die beiden Obergeschosse abzubrechen, sie anschließend durch zwei neue Ebenen samt Dach zu ersetzen und den Baukörper sodann nach Westen hin zu erweitern. Dabei sollte eine rhythmisierte Fassade dem neu gestalteten Volumen eine spannende Optik mit individuellem Duktus verleihen.
deteile erforderlich geworden. Dabei spielte die Überlegung, den bisher eher kleinen Wohnungen künftig mehr Eigenständigkeit und Charakter zu verleihen, eine zentrale Rolle. Resultierend aus diesen Prämissen erweiterten die Architekten den Baukörper um jeweils einen großen Raum nach Westen hin, sodass nun jede der beiden Wohneinheiten auf eine Nutzfläche von ca. 100 m² zurückgreifen kann. Sowohl Wiederaufbau als auch Erweiterung erfolgten dabei unter Einsatz massiver Ziegelwände und Betondecken. Das neue Satteldach besteht aus einer gedämmten Holzkonstruktion mit Ziegeleindeckung. Der Zubau im Westen nimmt auf den beiden neu geschaffenen Ebenen jeweils ein Wohn- und Esszimmer auf. Eine externe Treppe verbindet das vom Umbau nicht betroffene EG mit dem ersten Obergeschoss. Von hier aus geleitet eine interne Stiege ins 2. OG.
Die Komplettsanierung der beiden oberen Etagen sowie des Satteldachs war infolge des schlechten Bauzustands dieser Gebäu-
Alle Bauarbeiten wurden materialgetreu und in enger Anlehnung an das historische Vorbild ausgeführt.
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Kontrapunkt als Gestaltungsprinzip
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Projekt-Partner Aster Holzbau GmbH, Jenesien baucenter OHG, Bozen ■ Spenglerei Egger Peter, Jenesien ■ Expert Gerüstbau KG, Unterrain/Eppan ■ Pechlaner Nikolaus & Urban OHG, Oberbozen/Ritten ■ Pfeifer Bau G.m.b.H. - s.r.l., Deutschnofen ■ Vetreria RASOM U. d. Rasom Giorgio & C. sas, Bozen ■ Simonazzi GmbH, Völs am Schlern ■ ■
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So stellten die noa*-Architekten die weiße Putzfassade sorgfältig im alten Stil wieder her. In das Dach wurden die Dachrinnen innenliegend integriert. Sowohl die äußere Untersicht des Satteldachs als auch die Stirnflächen erhielten einen Anstrich in Schwarz, der sich bewusst kontrapunktisch von der hellen Fassadenfläche absetzt. Während sich die Gebäudehaut im Bestand schlicht wie vor dem Eingriff zeigt, präsentiert sich die gespachtelte Fassade der Westerweiterung sowohl mit anderer Struktur als auch in
betont signalhafter roter Farbgebung. Ausgeführt wurden die Spachtelarbeiten von einem Restaurator aus Bruneck, der auf ungewöhnliche Oberflächengestaltungen spezialisiert ist. Um den vergrößerten Baukörper in der Außenansicht optisch aufzulösen, entstanden nach Süden hin – auf beiden OG-Ebenen – großflächige Fenster, die einerseits im Inneren einen hohen natürlichen Belichtungsgrad generieren, andererseits die angestrebte Leichtigkeit des Anblicks Wirklichkeit werden ließen. ufo
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