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Odilon Redon: Œil-Ballon
TEXT Claudia Müller-Ebeling
Über einem dunklen Gewässer, mit schlanken Schilfblättern am kargen Gestade und einer flachen Hügelkette am tiefen Horizont, schwebt ein seltsames Gefährt am fahlen Himmel. Ein Auge-Ballon, wie der symbolistische Künstler sein Blatt betitelte. Aus dem prallen samtschwarzen Ballon, oben von Wimpern umgeben, tritt ein weißer Augapfel hervor, der die dunkle Pupille nach oben lenkt. Dass sich das plastisch gerundete Auge (links umschattet, mit Lichtreflexen, die sich in Bögen gegenüberstehen; links verrieben, rechts scharf weiß akzentuiert) aus der vertieften Rundung des Ballons wölbt, ist befremdlich. Doch okay, heutzutage sind wir sogar an Enten und Mickymäuse als Ballons gewohnt. Allerdings mit Menschen in Körben ... Umso befremdlicher ist, dass Odilon Redons Ballon keinen Korb, sondern eine Schale trägt – mit einem isolierten Kopf. Und dass wir fröstelnd realisieren, wie absurd es ist, dass uns tote Augen fixieren. Heißluftballons waren in den 1870er Jahren in Frankreich, speziell in Paris, die Attraktion. Diese, nach ihren Erfindern, den Gebrüdern Mongolfier, Ende des 18. Jahrhunderts, als Mongolfieren benannte Inspirationsquelle ist für Redon bestens belegt und bekannt. In der entsprechenden kunsthistorischen Literatur sind psychoanalytische Interpretationen vom Auge als Phallussymbol en vogue sowie als Kastrations- und Verlustangst gedeutete, isolierte oder abgetrennte Köpfe. Doch Augen und Blicke (z.B. im Gemälde I lock my door upon myself, 1891 von Fernand Khnopff) und die Obsession für Judith und Salome, mit abgeschlagenen Häuptern von Holofernes und Johannes, faszinierten zeitgleich mit Redon
Augen und Blicke alle Sparten der Kunst. Vom Maler faszinierten Gustave Moreau, über den englischen Dichter Oscar Wilde zeitgleich mit Redon bis zum Wiener Komponisten alle Sparten der Kunst. Richard Strauss. Auch weil Sigmund Freuds Schriften erst nach 1882 auf Französisch erschienen und die Redon-Forschung entsprechend fundierte Quellen schuldig blieb, erscheint es mir weitaus plausibler, dass Augen und isolierte Köpfe den französischen Symbolisten Odilon Redon (1840–1916) in ihren Bann zogen, weil gravierende Umwälzungen seiner industrialisierten Gegenwart quasi den Kopf vom Rumpf überkommener Traditionen trennte; mitsamt beängstigenden Emanzipationsbestrebungen allseits aufmüpfiger Suffragetten. Bildquelle: Wildenstein, Alec, Odilon Redon. Catalogue raisonné de l‘œuvre peint et dessiné, Bd. 2: Mythes et légendes, Paris: Wildenstein Institute 1994: XII.