neues deutschland vom 9.12.2014

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Geräuschlose Gefolgschaft

Grüne Lunge atmet schwer

Der Fall Tugce

CDU-Spitze versucht, interne Konflikte vor Beginn des Parteitags zu klären. Seite 2

Den belorussischen Pripjatsümpfen droht wieder die Entwässerung. Seite 3

Ein Lehrstück über Medien und ihre Meinungsmache. Seite 15

Foto: dpa/Rolf Vennenbernd

Foto: dpa/Fredrik von Erichsen

Dienstag, 9. Dezember 2014

69. Jahrgang/Nr. 286

Berlinausgabe 1,70 €

www.neues-deutschland.de

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STANDPUNKT

Mut zur Reform Tom Strohschneider über das Desinteresse am Bundestag Leere Fraktionsreihen, langweilige Reden, parteipolitische Rituale: Man ist nicht überrascht, dass sich immer weniger Menschen für die Vorgänge im Parlament interessieren. Seit Jahren wird beklagt, dass die dort praktizierte Demokratie eher einer um sich selbst kreisenden Parallelwelt ähnelt. Einer nicht besonders aufregenden zumal. Vom Anspruch, Ort der lebendigen, an Inhalten und neuen Fragen interessierten Auseinandersetzung zu sein, ist das parlamentarische Verfahren um einiges entfernt. Das durchaus chic gewordene mediale Beklagen dieser Zustände hat das Desinteresse wohl noch verstärkt. Und: Es ist ein Ressentiment gegenüber dem Parlamentarischen gewachsen, nicht selten von links angefeuert – Motto: alles nur eine Konsenssoße, ein Schauspiel zu Gunsten Mächtiger, Beruhigungspille für die Massen. So wichtig Aufklärung über die unzureichenden Verfahren der Demokratie, so richtig die Kritik an der steten Tendenz zum Rückfall hinter einmal erreichte parlamentarische Standards, etwa bei der Kontrolle der Regierung – so notwendig wäre es, mit weitreichenden Änderungen über den Status quo hinauszugehen. Denn für eine gelingende Reaktivierung des Parlamentarischen, besser: für die Wiederöffnung des Bundestagsbetriebs hin zur Gesellschaft wird eine Befragung der Kanzlerin ein paar Mal im Jahr nicht reichen. Eine Reform bräuchte Mut zu größeren Schritten: von der Aufhebung des Fraktionszwangs über die Möglichkeit wechselnder Mehrheiten bis zu einer wirklichen Beteiligung von Bürgern auch zwischen Wahlen.

UNTEN LINKS Unsere Hauptstadt ist so was von fortschrittlich! Zum Beispiel diese Geste der Toleranz: »Berliner Schüler aus humanistischen Elternhäusern erhalten auf Antrag einen weiteren schulfreien Tag«, meldet die dpa. »Zum Welthumanistentag am 21. Juni können sie sich vom Schulbesuch entbinden lassen.« Sie sollen dann natürlich nicht Drogen kaufen oder so, sondern über »das Miteinander in unserer Gesellschaft« nachdenken. Gute Idee! Noch fortschrittlicher wäre es, wenn nicht nur Humanisten-Kinder, sondern alle in den Genuss des weltanschaulich erlaubten Schwänzens kämen. Schüler aus Schneemann-Familien könnten so am Tag der Tiefkühlkost am 6. März im frostigen Daheim über irgendwas grübeln. Kinder von Rundfunkmoderatoren hätten auf Antrag am 13. Februar frei: der Welttag des Radios. Und wer besonders tranige Eltern hat, wählt sich den Deutschen Lebertag im November. Freiheit, liebes Berlin, ist immer auch die Freiheit der anders Feiernden. Humanismus für Alle! tos

ISSN 0323-4940

Bewaffneter Friedensprozess Exklusivinterview mit Nicolás Rodríguez Bautista, 1. Kommandant der ELN-Guerilla

Sternlauf gegen Pegida-Demo in Dresden AfD zeigt Verständnis für Anti-Islam-Proteste

Die kolumbianische ELN-Guerilla setzt auf den Frieden und behält die Waffen in der Hand.

Berlin. Umweltschutz und Frieden: Diese beiden Themen standen im Zentrum der Kolumbien-Reise von Entwicklungsminister Gerd Müller. Über die Hälfte der Fläche Kolumbiens ist mit Wald bedeckt. Die zweitgrößte Artenvielfalt der Welt und eine für das globale Klima entscheidende Fähigkeit, Treibhausgas zu binden, zeichnen ihn aus. Zentrales Problem beim Waldschutz: Der Großteil seiner Fläche liegt im kolumbianischen Konfliktgebiet. Bei seinem am Sonntag beendeten Besuch hat Müller mehr als 300 Millionen Euro, vor allem als Darlehen, für Umweltschutz und Friedensbemühungen in Kolumbien für die

kommenden zwei Jahre zugesagt. Der bewaffnete Konflikt, der seit 1964 anhält, hat mindestens 220 000 Todesopfer und an die sechs Millionen Vertriebene verursacht. Der Krieg wird in hohem Maße durch den Anbau von Kokapflanzen und den illegalen Abbau von Rohstoffen wie Gold finanziert. Dafür muss der Wald weichen. Auch die Bauern, die vor der Gewalt fliehen, lassen sich woanders nieder und roden sich Grundstücke frei. Gleichzeitig fürchten viele Experten, dass der Wald nach einem Ende des Krieges in noch größerem Stil abgeholzt wird, um die reichhaltigen Rohstoffvorkommen abzubauen.

Foto: dpa/Edward Robles

Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos hat es sich zum Ziel gesetzt, Frieden zu schaffen, und verhandelt seit 2012 mit der FARCGuerilla. Seit Juni 2014 hat Bogotá auch Verhandlungen mit der ELN-Guerilla aufgenommen. »Wir müssen die Opfer um Vergebung bitten! Das ist die zwingende Voraussetzung für Aussöhnung.« Das erklärte Nicolás Rodríguez Bautista, 1. Kommandant der ELN-Guerilla, im Exklusivinterview in »neues deutschland«. »Es ist ein Prozess der Wahrheit, von dem man weiß, wann er beginnt, aber nicht, wann er aufhört«, blickt er verhalten optimistisch in die Zukunft. ml Seite 10

Schlaftablette Parlamentarismus Studie: Abnehmende »Sichtbarkeit der Demokratie« / Interesse der Bürger an Bundestagsgeschehen sinkt Die Opposition hat Reformen des Bundestagsbetriebs gefordert. Nicht zum ersten Mal – aber nun zeigt eine Studie, wie gering das Bürgerinteresse an den Debatten im Parlament bereits ist. Berlin. Haben Sie in den letzten Monaten eine Bundestagsdebatte im Radio oder im Fernsehen mitverfolgt? Einer Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge, deren Ergebnisse am Montag veröffentlicht wurden, kann sich nur jeder Vierte konkret an eine Aussprache im Parlament erinnern. Seit den 1980er Jahren ist damit die Zahl derer, die hin und wieder eine Debatte im Bundestag verfolgen, um etwa die Hälfte gesunken. Die von den Konstanzer Politikwissenschaftlern Dominik Hierlemann und Ulrich Sieberer unter dem Titel »Sichtbare Demokratie« vorgelegte Untersuchung belegt noch weitere Probleme: Im Osten weiß nicht einmal die Hälfte der Befragten, dass es neben direkt ge-

wählten Abgeordneten auch Parlamentarier gibt, die über Landeslisten in den Bundestag eingezogen sind. Gerade einmal 17 Prozent haben in jüngerer Zeit etwas über die Berliner Tätigkeiten ihres Wahlkreisabgeordneten gehört. Immerhin ist der Anteil derer seit 1995 von 55 auf 67 Prozent gewachsen, die diesen örtlichen Abgeordneten kennen oder von ihm Notiz genommen haben. Die »Debatten- und Frageformate werden intensiv genutzt«, so die Autoren mit Blick auf die Aktivitäten vor allem der Opposition. Es fehle aber an einer »abwechslungsreichen Auseinandersetzung«. Dies schlägt sich auch in der Berichterstattung nieder – diese ging zurück. Zuletzt seien Bundestagsdebatten in den Medien »wenig präsent« gewesen, schreiben die Autoren. »Über Fragestunden wurde fast nie berichtet.« Die abnehmende »Sichtbarkeit der Demokratie« steht dabei in einem Widerspruch zu den wach-

senden Erwartungen der Bürger an die Parlamentarier. Eine klare Mehrheit beklagt, »dass die Bundestagsabgeordneten bei den Debatten gar nicht mehr auf die Ar-

Nur 17 Prozent haben zuletzt etwas über die Berliner Tätigkeiten ihres Wahlkreisabgeordneten gehört. gumente der anderen eingehen«. Fast zwei Drittel sind der Meinung, dass es genug Möglichkeiten gibt, sich über die Vorgänge im Parlament zu informieren – sie werden eben nur selten genutzt. Die Parlamentsgeschäftsführerin der Linksfraktion im Bundestag, Petra Sitte, machte die Große Koalition für den Rückgang des Interesses verantwortlich. Union und

SPD wirkten »wie Schlaftabletten für den Parlamentarismus«. Viele hätten »offenbar das Gefühl, dass die wichtigen politischen Entscheidungen nicht im Parlament, sondern in Hinterzimmern und Koalitionsrunden fallen«. Sitte forderte, »die politischen Grundkonflikte wieder im Parlament« auszutragen, damit der Bundestag keine »Abnickstation für Regierungsinitiativen« bleibe. Auch die Grünen setzten sich abermals für Reformen ein. Die Regierung bremst derweil selbst kleinere Reformschritte aus. Zwar gibt es Pläne, die Attraktivität der Fragestunde etwas zu erhöhen – danach soll künftig jeder Minister dem Parlament einmal pro Jahr Rede und Antwort stehen. Einen Vorschlag der Sozialdemokraten, dass auch die Kanzlerin ein- oder zweimal zu einer solchen Befragung im Jahr antreten soll, blockte die Union aber ab – sie wolle »kein Spektakel unter dem Bundesadler«. nd

Dresden. Mit einem Sternlauf gegen Intoleranz und für eine weltoffene Stadt sind am Montag unter dem Motto »Dresden für alle« Dresdner den wöchentlichen Pegida-Demonstrationen entgegengetreten. Ein erster vom Bündnis Dresden Nazifrei organisierter Demonstrationszug setzte sich am Nachmittag von der Neustadt aus mit mehreren Hundert Teilnehmern in Bewegung. Fünf weitere Züge folgten. Am Abend sollte vor dem Rathaus eine zentrale Kundgebung stattfinden. Dazu aufgerufen hat ein breites Bündnis von Kirchen, Glaubensgemeinschaften, Parteien, Vereinen und Verbänden. Seit Wochen machen die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands« in der Elbestadt Front gegen Muslime, Flüchtlinge und Asyl. Rico Gebhardt, Fraktions- und Landesvorsitzender der Linkspartei in Sachsen, erklärte am Montag: »Angst ist ein schlechter Ratgeber – deshalb führt Pegida in eine Sackgasse der Vorurteile. Wir nehmen die Sorgen der Bürger und Bürgerinnen hier ebenso ernst wie die der Flüchtlinge, die zu uns kommen. ›Dresden für alle‹ ist ein gutes Motto für das Zusammenleben aller Menschen, die in dieser Stadt leben – Sachsen für alle sollte der Maßstab für die Gesellschaft in unserem Freistaat sein.« Verständnis für Pegida äußerte am Montag die Alternative für Deutschland (AfD). Diese will ihren Mitgliedern nicht verbieten, an den Demonstrationen teilzunehmen. Der Bundesvorstand der rechtspopulistischen Partei erklärte aber, sollten bei den Protestveranstaltungen Nazi-Symbole gezeigt oder rechtsextreme Parolen gerufen werden, sollten sich die AfD-Mitglieder zurückziehen. nd/dpa Seite 6

Amazon-Mitarbeiter wieder im Ausstand Streiks im Vorweihnachtsgeschäft in Bad Hersfeld und Leipzig Bad Hersfeld. Im Weihnachtsgeschäft setzen Beschäftigte des weltgrößten Onlineversandhändlers Amazon mit Warnstreiks ein Zeichen in dem Tarifkonflikt. Bereits in der Nacht zum Montag begannen die Ausstände in Bad Hersfeld. Am größten deutschen Standort beteiligten sich nach Angaben der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di im Tagesverlauf 500 Mitarbeiter an dem Arbeitskampf. Am Nachmittag legten nach Gewerkschaftsangaben auch knapp 200 Beschäftigte in Leipzig die Arbeit bis zum Ende der Spätschicht nieder. Laut Gewerkschaft sollte am Dienstag wieder normal gearbeitet werden. Ob in den nächsten Tagen an anderen Standorten zu weiteren Ausständen aufgerufen wird, ließ ver.di offen. Beobachter rechnen bis Weihnachten mit weiteren Kampfmaßnahmen der Gewerkschaft. Ver.di versucht seit mehr als einem Jahr, Amazon zu Tarifgesprächen zu Bedingungen des Einzelhandels zu bewegen. Der Versandriese lehnt das strikt ab und sieht sich selbst als Logistiker. Deswegen kommt es seit Mai 2013 immer wieder zu Streiks. Laut ver.di gibt es montags in Bad Hersfeld besonders viel zu tun. Grund seien spezielle Weihnachtsangebote. Auftragsvolumen und Arbeitsdruck seien dadurch noch einmal »deutlich angestiegen«, erklärte Vorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger. Ein Zeichen dafür, dass der US-Konzern seine Beschäftigten nicht gut behandele, seien die hohen Krankenstände, so Nutzenberger weiter. Der »Welt« zufolge liegt der Krankenstand an den deutschen Standorten jeweils bei mindestens elf Prozent. Vier Standorte hätten eine Quote von 15 bis 20 Prozent, Leipzig sogar 20 bis 25 Prozent. Die Gewerkschafterin bezeichnete die Situation als »absolut inakzeptabel«. Agenturen/nd


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