Gesichter des Krieges Burga Kalinowski war auf den Spuren ihres Großvaters, der 1917 sein Bein verlor. Seiten 18 und 19
Konsequenzen des Krieges Elf Jahre diskutierte die Arbeiterbewegung, bis 1916 der erste politische Streik zustande kam. Seite 23
Gesetze des Krieges Deutsche Chemiker und Physiker halfen den Militärs mit ihrer tödlichen Wissenschaft. Seite 27 Grafik: Wikimedia/Public domain
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Legende vom toten Soldaten Und als der Krieg im vierten Lenz Keinen Ausblick auf Frieden bot Da zog der Soldat seine Konsequenz Und starb den Heldentod. Der Krieg war aber noch nicht gar Drum tat es dem Kaiser leid Daß sein Soldat gestorben war: Es schien ihm noch vor der Zeit. Der Sommer zog über die Gräber her Und der Soldat schlief schon Da kam eines Nachts eine militärische ärztliche Kommission. Es zog die ärztliche Kommission Zum Gottesacker hinaus Und grub mit geweihtem Spaten den Gefallnen Soldaten aus. Der Doktor besah den Soldaten genau Oder was von ihm noch da war Und der Doktor fand, der Soldat war k. v. Und er drückte sich vor der Gefahr. Und sie nahmen sogleich den Soldaten mit Die Nacht war blau und schön. Man konnte, wenn man keinen Helm aufhatte Die Sterne der Heimat sehn. Sie schütteten ihm einen feurigen Schnaps In den verwesten Leib Und hängten zwei Schwestern in seinen Arm Und ein halb entblößtes Weib. Und weil der Soldat nach Verwesung stinkt Drum hinkt ein Pfaffe voran Der über ihn ein Weihrauchfaß schwingt Daß er nicht stinken kann. Voran die Musik mit Tschindrara Spielt einen flotten Marsch. Und der Soldat, so wie er's gelernt Schmeißt seine Beine vom Arsch. Und brüderlich den Arm um ihn Zwei Sanitäter gehn Sonst flöge er noch in den Dreck ihnen hin Und das darf nicht geschehn. Sie malten auf sein Leichenhemd Die Farben Schwarz-Weiß-Rot Und trugen's vor ihm her; man sah Vor Farben nicht mehr den Kot. Ein Herr im Frack schritt auch voran Mit einer gestärkten Brust Der war sich als ein deutscher Mann Seiner Pflicht genau bewußt. So zogen sie mit Tschindrara Hinab die dunkle Chaussee Und der Soldat zog taumelnd mit Wie im Sturm die Flocke Schnee. Die Katzen und die Hunde schrein Die Ratzen im Feld pfeifen wüst: Sie wollen nicht französisch sein Weil das eine Schande ist. Und wenn sie durch die Dörfer ziehn Waren alle Weiber da Die Bäume verneigten sich, Vollmond schien Und alles schrie hurra. Grafik: Ubisoft
Der Große Krieg 100 Jahre Erster Weltkrieg. »Der Große Krieg« nennt sich im Untertitel das Videospiel »Valiant Hearts« (Tapfere Herzen), das anlässlich des 100. Jahrestages des Beginns des Ersten Weltkriegs erschienen ist – eine berührende Geschichte mit Kombinationsrätseln und Herausforderungen über die Suche des französischen Soldaten Emile zwischen den Fronten nach seinem deutschen Schwiegersohn Karl. Seiten 18 bis 25
Mit Tschindrara und Wiedersehn! Und Weib und Hund und Pfaff! Und mitten drin der tote Soldat Wie ein besoffner Aff. Und wenn sie durch die Dörfer ziehn Kommt's, daß ihn keiner sah So viele waren herum um ihn Mit Tschindra und Hurra. So viele tanzten und johlten um ihn Daß ihn keiner sah. Man konnte ihn einzig von oben noch sehn Und da sind nur Sterne da. Die Sterne sind nicht immer da Es kommt ein Morgenrot. Doch der Soldat, so wie er’s gelernt Zieht in den Heldentod. Bertolt Brecht, 1918
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Mord mit Maschinen
Schlacht an der Somme. Rund eine Million Soldaten auf beiden Seiten wurden getötet oder verwundet. Inmitten des Gemetzels auch Kriegsfreiwillige aus den USA. Schon vor dem offiziellen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten kämpften sie auf der Seite der Entente. Unter ihnen Freddie, ein dunkelhäuti-
ger Fremdenlegionär. Er wird von der britischen Armee mit einem neuartigen Tötungswerkzeug vertraut gemacht: dem Panzer. 1916 wurden auf britischer und französischer Seite die ersten »Tanks« eingesetzt, später folgten die Deutschen mit eigenen Mo-
dellen. Panzer boten den Soldaten zwar mehr Schutz vor feindlichem Beschuss, senkten aber auch die Hemmschwelle zu töten. Man war hinter einer dicken Stahlwand relativ geschützt und durch die Reichweite der Geschosse vom Leid seiner Opfer weit genug entfernt. Der Krieg ist eine Maschine, die je-
den frisst, der ihr zu nahe kommt. In Verdun stehen sich zehn Monate lang deutsche, britische und französische Truppen in einem Stellungskrieg gegenüber. Es ist die verlustreichste Schlacht der Kriegsgeschichte: 600 000 Tote in zehn Monaten – Sterben im Minutentakt. Grafik: Ubisoft
Das Gesicht des Krieges Auf den Spuren meines Großvaters. Von Burga Kalinowski Arthur Scholz, geboren 1890 in Osterwieck/Harz, wird im Dezember 1914 in einen Krieg geschickt, gegen den er fünf Monate zuvor noch demonstrierte. Mit 26 Jahren verliert er während der »Schlacht an der Aisne« im Mai 1917 sein Bein und wird zum Krüppel. Seine Enkelin Burga Kalinowski hat sich die Dokumente seines Lebens angeschaut.
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uli 2014. Recherche in Osterwieck. Die Linden blühn und die Kirschen sind schon lange reif. Nach dem Regenguss riecht das Gras richtig grün und die Erde wie ein Gewürz. Ich gehe über den Denkmalplatz. Ein Kindheitsort aus den Ferien bei den Großeltern. Auf dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges sind wir natürlich herumgeklettert. Damals fehlte die Soldatenfigur. Jetzt ist sie wieder da. 1992 wurde sie auf ihren alten Platz gestellt. Die ganze Zeit lag die martialische Skulptur hinter dem Denkmal in der Erde. Irgendwer hatte sie nach dem Zweiten Weltkrieg verbuddelt. Kaum einer vermisste sie. Ich mache Fotos. Das Gesicht des Krieges: Die Figur mit Schwert und Helm, zerschossen und mit toten Augen. Säulen mit den eingemeißelten Namen der Männer aus Osterwieck und Umgebung. Gestorben für nichts und wieder nichts. Für hohle Werte und falsche Ziele, für Gott und Kaisers Reich, für Deutschlands Platz an der Sonne – in Verdun, in Arras, an der Somme, in Belgien, Galizien und in Russland. An den Fronten des Ersten Weltkrieges fielen neun Millionen Soldaten, 20 Millionen wurden verwundet. Aus Osterwieck kamen über 200 Männer um. Mein Großvater Arthur Scholz kehrte als Invalide in seine Geburtsstadt zurück. Eine Granate fetzt ihm das linke Bein bis übers Knie weg, Kugeln verkrüppeln beide Hände, eine Detonation zerreißt sein Trommelfell. Juli 1914 – der Sommer vor 100 Jahren wird der erste Kriegssommer. In Osterwieck blühn die Linden, die Kirschen werden reif, die Augustäpfel sind auch bald soweit. Das Getreide steht gut. Auf den Landgütern wird zur Ernte gerüstet. Die regionale Ilse-Zeitung gibt in ihrer Rubrik »Aus der Stadt Osterwieck« bekannt, dass größere Schüler für Feldarbeit schulfrei bekom-
men, dass »die Pferdemusterung ein erstklassiges Ergebnis für unser Heer« brachte, dass Knechte gesucht werden und brave Dienstmädchen auch, dass am Teichdamm billige Damenund Kinderhüte im Angebot sind. Die Hebamme ist umgezogen, Frühkartoffeln werden teurer und die Garnisionslazarette Magdeburg und Halle suchen jetzt schon Krankenwärter. Im Politikteil ist zu lesen, dass sich infolge der österreichischen Note an Serbien die Berliner Börse nervös und schwankend verhält, dagegen die SPD einen stabilen Mitgliederstand von über einer Million Menschen hat, »die sich zur roten Fahne bekennen«. Und für den 19. und 20. Juli 1914 lädt der Osterwiecker Kriegerverein mit ca. 354 Mitgliedern die geehrte Bürgerschaft zum Kriegerfest mit allem Drum und Dran ein. Programm am Sonntag, 19. Juli: Antreten vor dem Rathaus, Kirchgang, Zapfenstreich, die Vereinsabzeichen sind anzulegen. Kommers zum »Deutschen Haus«. Hurra. Am 1. August 1914 um 18.00 Uhr wurde die Generalmobilmachung bekannt gegeben, am nächsten Tag macht die Ilse-Zeitung ganzseitig mit Kaisers Befehl zum Draufschlagen auf. Krieg. Darauf läuft seit Monaten alles hin. Das Attentat von Sarajewo am 28. Juni wirkt wie ein Durchlauferhitzer. Nationalistische Hysterie auf allen Seiten, ein Schuss und imperiale Interessen machen Europa zum ersten großen Schlachtfeld des 20. Jahrhunderts. Töten für Höheres, für Ruhm und Ehre und die verschiedenen Vaterländer. Je nach dem steigen und fallen Aktienwerte. Bevor der erste Schuss noch fällt, macht Krupp Waffenexporte ins sogenannte Feindesland. Geschäft ist nun mal Geschäft. Kriegsgeschrei bringt gut Gewinne. Pathos schwappt blumengeschmückt durchs deutsche Land und immer lauter schallt ein Ruf wie Donnerhall – nach Vergeltung, nach Eroberung und Sieg. Schnell stellt
sich heraus: Nicht für alle ist der Krieg eine Badekur, wie später der Generalfeldmarschall Hindenburg von sich sagen wird. In diesen Tagen also sitzt Emilie Scholz am Tisch ihrer Küche in der Osterwiecker Mauerstraße 10. Es ist nachmittags, die Gänse im Gärtchen hinterm Haus sind versorgt. Sie ist traurig und ihre Gedanken flattern umher wie ängstliche Vögel. Aber sie rafft sich auf. Emilie Scholz schreibt an ihren Sohn Arthur in Berlin. »Mit schwerem Herzen und mit Thränen in den Augen ergreife ich die Feder um Dir mitzuteilen, das der Vater heute Morgen um 5 weg gefahren ist um in den Krieg zu ziehen, sie kommen an die Französische Grenze. Seid acht Tagen weiß ich schon gar nicht mehr wie mir zu muthe ist, das auch dies noch kommen mußte, das man das alles noch erleben muß. Lieber Arthur, der Vater läßt dir sagen du möchtest doch Deiner Mutter beistehen weil ich mir nichts verdienen kann. Nun habe ich acht Gänse, ich kann sie doch jetzt nicht schon verkaufen. Da gibts jetzt auch nicht fiel dafür. Nun ist man hier so allein. Nun grübelt man immerzu ob er wird wieder zurück kommen oder nicht der Vater. Es gehn alle Tage 3 Militär Züge. Was mag das erst in Berlin sein. Ich muß das beste hoffen, vielleicht kommt er wieder. Viele herzlichen Grüße von Deiner lieben Mutter.« (Schreibweise im Original) Ach, was wird nur werden. Als Handschuhnäherin ist sie nicht mehr jung und flink genug. Einige kleinere Fabriken in Osterwieck sind auch schon geschlossen. Sie versucht es in der Kofferfabrik am Denkmalplatz. Umsonst. Nun zieht die Not des Krieges ein. Da kommen keine hehren Gefühle auf. Diese Art Patriotismus können sich viele nicht leisten. Auch Emilie Scholz hat einfach nur Angst vorm Krieg, sorgt sich um Mann und Sohn. Ihr Brief nach Berlin geht in die Vol-
tastraße 5 im Wedding. Arthur Scholz wird ihn mit Bestürzung gelesen haben: Marschbefehl für den Vater nach Frankreich, im Visier der »Erbfeind«? Weder Vater noch Sohn haben Feinde in Frankreich, auch nicht in Russland, Belgien, Serbien. Und woanders auch nicht. Arthur Scholz lässt sich nicht für dumm verkaufen und Kanonenfutter will er auch nicht sein. Es sind nicht seine Formulierungen, aber seine Gefühle und Gedanken, die Karl Liebknecht im Mai 1915 in einer Rede aussprechen wird und die auf einem Flugblatt verbreitet werden: »Es bleibt dabei: Das österreichische Ultimatum an Serbien vom 23. Juli 1914 war die Brandfackel, die die Welt entzündete. (...) Es bleibt dabei: Dieses Ultimatum war das Signal für die Neuverteilung der Welt und rief mit Notwendigkeit alle kapitalistischen Raubstaaten auf den Plan. (...) Wie lange noch sollen die Glücksspieler des Imperialismus die Geduld des Volkes mißbrauchen? Genug und übergenug der Metzelei! Nieder mit den Kriegshetzern diesseits und jenseits der Grenze! Ein Ende dem Völkermord! (...) Der Hauptfeind steht im eigenen Land!« Am 27. Juli 1914 – es ist der letzte Montag des Friedens – gehen Arthur Scholz aus Osterwieck und seine Braut Anna zu der großen Antikriegsdemonstration im Berliner Lustgarten. Es muss ein großartiges Erlebnis gewesen sein, so jedenfalls hörte es sich an, wenn sie sich mal darüber unterhalten haben. Zeitlebens unvergessen blieb meiner Großmutter dieser Protest tausender Arbeiter Unter den Linden, gegenüber vom Kaiserschloss. Das war vielleicht ein hässlicher Klotz, soll sie völlig ungerührt zur Sprengung des Berliner Schlosses in den 50er Jahren gesagt haben. Den Ersten Weltkrieg kann die Protestaktion damals nicht verhindern, aber sie erzeugte ein politisches und – glaube ich – geschichtliches Bewusstsein bei
meinen Großeltern. Und Selbstbewusstsein. Und Erinnerungen, die bleiben. Auch vom Alltag: Kintopp und Stummfilm mit der schönen Asta Nielsen, die »Elektrische«, die durch Berlin fuhr, feine Damen und bessere Herren, die sich in eleganten Pferdedroschken zu Cabarets und Cafés fahren ließen. Es waren die letzten Tage der Belle Époque. Mit dem Lied »Hermann heeßt er« kreierte Claire Waldoff den Schlager der Saison 1913/14 – sowohl im »Chat Noir« an der Friedrichstraße, dem mondänen Vergnügungsviertel, als auch in Rixdorf, wo die einfachen Leute ihren Spaß hatten. Vielleicht haben Anna und Arthur in diesem Sommer in einem Berliner Biergarten danach getanzt. Jedenfalls lernten sie sich damals kennen. Anna, 23 Jahre, aus Oberschlesien in die große Stadt gekommen. Arthur, 24, aus dem kleinen Harz-Städtchen Osterwieck, seit Jahren als Schlosser nach Arbeit in boomenden Industrieregionen wie Rhein und Ruhr unterwegs, zuletzt in Dortmund, jetzt in Berlin bei der AEG, Werk Brunnenstraße. Sie ist Köchin, muss vor der Charlottenburger Herrschaft knicksen und »Gnädige Frau« sagen. Anna ist klein, hübsch, hat ein schnelles Mundwerk, einen scharfen Verstand und eine zupackende Art. Wenn sie ihren Zopf auflöste, fielen die Haare bis auf die Hüften. Auf gar keinen Fall will sie ihr Leben verplempern in Stellung bei irgendeiner Herrschaft. Noch die freundlichste Herrschaft ist – Herrschaft. Über »meine Gnädigste« macht sie sich lustig. Die Unruhe der Stadt und die Unruhen der Zeit gefallen ihr. Auch, dass Frauen dabei sind, wenn es um Veränderung geht. Von Clara Zetkin und Rosa Luxemburg kennt sie mehr als nur die Namen und für das Frauenwahlrecht ist sie auch. Mit Arthur Scholz kann sie über diese politischen Sachen reden. Und er erzählt ihr zum Beispiel von der Kundgebung
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* mit Rosa Luxemburg, die er 1911 als Vertrauensmann des Metallarbeiterverbandes in Dortmund mit organisiert hat. Am 2. August 1913 ist er dann in die SPD eingetreten, 18 359 die Nummer seines Mitgliedbuches. Sie gehen zu Versammlungen und lesen Artikel von Liebknecht und Luxemburg. Sie sind beeindruckt von deren politischem Wissen, ihrem Feuer und Engagement – und ein halbes Jahrhundert später immer noch bewegt und zornig beim Gedanken an ihre Ermordung. Schweinehunde, sagte meine resolute Großmutter kurz und zutreffend und meinte außer den Mördern besonders die Hintermänner, Drahtzieher, Mitwisser und Nutznießer wie Noske. Jajaja und hör mir bloß auf, murmelte sie mürrisch, wenn die Rede auf Krieg und Novembertage kam oder wenn einer meinte, die SPD-Führer hätten keine Wahl gehabt – nicht am Anfang mit den Kriegskrediten und nicht am Ende des Krieges, als sie ihren Deal mit der neuen alten Macht durchzogen und dafür noch gefeiert werden wollen. Neeneenee. Anna Scholz blieb dabei: Ebert, Scheidemann und Noske – Verräter an den Arbeitern und der Revolution. Gelegentlich spuckte sie dazu noch trocken aus. Mein Großvater sagte dann: Nu lass mal die Kirche im Dorf. Das ganze politische Elend dieser Zeit beschreibt Sebastian Haffner detailliert und präzise in seinem Buch »Der Verrat. 1918/1919 – als Deutschland wurde, wie es ist«. Meine Großeltern kannten das Buch nicht, aber die Geschichte haben sie so erlebt. Mit Karl und Rosa, mutmaßte Arthur Scholz oft, wäre manches anders verlaufen. Ganz hoch gegriffen: der Gang der Geschichte. Das verlorene Spiel mit deutschen Vergangenheiten – »Was wäre, wenn ...« – hin und wieder hat er sich gesprächsweise darauf eingelassen, darüber gegrübelt und eine ganze Zigarre weggepafft. Seine Nachdenklichkeit und sein Ordnungssinn sind ein Glücksfall. Möglich, dass der Koffer vor mir noch aus der Fabrik am Denkmalplatz stammt. Alt genug ist er, zerschrammt sowieso, durch etliche Regale und Keller gewandert. Zum ersten Mal sehe ich diese Unterlagen. Sie dokumentieren fast lückenlos das Leben meines Großvaters: Taufschein 1890, Lehrzeugnis, Arbeitsbuch, Metallarbeiterausweis, Militärpass,
Giftgas
Quittung für die standesamtliche Trauung, Lazarettausgehschein, Hauskaufvertrag, SPD-, USPD- und SED-Parteibuch, Sparbuch, Mitgliedskarte Gesangsverein, Ankündigung der Feier zum 50. Geburtstag des 1919 ebenfalls ermordeten Pazifisten und Anarchisten Gustav Landauer, Stadtverordnetenausweis, Invalidenrentenbescheid, Durchschlag des Kirchenaustrittsschreibens, ein Foto seiner Mutter, Briefe und Zeugnisse der drei Kinder, Einladung zur 1.-Mai-Feier und zum Jahrestag der Befreiung, Urkunde zum 50-jährigen Gewerkschaftsjubliläum, 1929 die Ankündigung des Buches »Im Westen nichts Neues« von Remarque, Lebensmittelkarte 1954, Kalenderblatt mit Lessing-Zitat, Inflationsgeld, eine Reichsbanknote vom 22. August 1923: »Zehn Millionen Mark« – die Zeche für den Krieg müssen jetzt alle zahlen. Zum Schluss in einem Extraumschlag die Rechnung für das Urnengrab auf dem Osterwiecker Friedhof. Insgesamt: Eine unvollständige Aufzählung von 1890 bis 1982. Fast ein ganzes Jahrhundert. Und nie hat man gesagt: Erzähl doch mal. Wir waren begeistert davon, dass unser Großvater einen Apfel in einem Zug schälen konnte, und stritten um die gekringelte Schale. Schön blöd. Vielleicht. Nur selten fragen Enkelkinder nach dem Ersten Weltkrieg, oder erkundigen sich, warum die AEG 1914 für eine 58-Stunden-Woche nur 47,75 Mark gezahlt hat. Und auch die Sütterlin-Protokolle der USPD-Ortsgruppe von 1922 mit Diskussionen über Reform oder Revolution, über Kampf mit KPD oder SPD, wird ein Kind nicht unbedingt lesen wollen. Am Sonnabend, den 28. Juni 1919 diskutierten sie zum Beispiel die »Entwicklung des sozialistischen Gedankens« und Arthur Scholz, der inzwischen in der USPD aktiv ist, vermerkt, dass 30 weitere Osterwiecker in der Gruppe mitmachen wollen. Die Unzufriedenheit wächst. Streit in der Stadt über Arbeiterräte, Bürgerwehr und Versailler Vertrag. Und am 9. November 1919 – ein Samstag – fand zum ersten Jahrestag der Novemberrevolution eine Gedenkfeier statt. Der Streit ging weiter. Auch darüber hätte mein Großvater erzählen können. Geschichte von unten. Wir haben ihn nicht gefragt. Irgendwann ist es zu spät. Dann bleiben nur die Dokumente und was Kin-
der aus Gesprächen der Erwachsenen so nebenher aufgeschnappt haben. Schließlich Vermutungen. Annäherungen an das Damals. In seinem Lebenslauf schreibt Arthur Scholz: »Nach Ausbruch des Krieges lehnte ich die Herstellung von Kriegsmaterial und die Leistung von Überstunden in der AEG ab, ließ mir meine Papiere geben und verzog nach Osterwieck.« Am 1. August holt er von seinem Sparkonto 200 Mark. Mehr war nicht drauf, aber es hilft seiner Mutter. Nach sechs bewegten Wander-Arbeitsjahren ist Arthur Scholz zurück in Osterwieck. Nach den glitzernden Großstädten nun wieder die krummen Gassen mit dem bunten Ensemble mittelalterlicher Fachwerkhäuser, das Flüsschen Ilse, der Kolonialwarenladen Schuster, später Gresse. Bei Gresses im Laden – hieß es – gibt es Furz und Feuerstein und immer ein schönes Gespräch unter Nachbarn. Schnell kehrt die Vertrautheit der Vergangenheit zurück: Freunde von der Schule im Sonnenklee, Lehrmeister Pröhle aus der Maschinenfabrik, die Kirschplantagen rechts auf dem Weg hoch zum Bismarckturm, in der DDR in Friedensturm umgetauft. Fanden viele Leute damals besser. So oder so: Man hat einen weiten Blick auf Stadt und Gegend, bei klarem Wetter bis zum Brocken. Schade, dass Anna nicht hier ist, wird Arthur Scholz damals gedacht haben. Er hätte es ihr bestimmt gern gezeigt: unter blauem Himmel die sanften Bögen der Hügel am Horizont. Seine Heimat. Inzwischen auch mit rauchenden Schornsteinen. Vielleicht hat er sich da oben in sein Leben mit Anna geträumt. Könnte sein. Osterwieck liegt im nördlichen Harzvorland. Halberstadt, Wernigerode, Bad Harzburg oder Goslar sind nicht weit weg. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts siedelte sich Industrie an, prägte das soziale Klima und Gesicht des Städtchens. Die Arbeiter der Zuckerfabrik, der Kalkwerke, und besonders die Gerber und Handschuhmacher der Lederindustrie organisieren sich und bringen soziale Proteste in diese kleinstädtische Ordnung. Gewissermaßen einen Linksdrall. Im Juli 1878 streikten die Weißgerber für einen Wochenlohn von 18 Mark, im April 1911 kämpften die Handschuhmacher um acht Pfennig mehr pro ein Dutzend, 1925
Gaskrieg. Emile, der Bauer aus der kleinen lothringischen Stadt St. Mihiel, hat einen Spezialauftrag. Er soll die Giftgasmaschine der Deutschen lahmlegen. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wurde am 22. April 1915 bei Ypern in Belgien von den deutschen
streiken 500 der über 1000 Lederarbeiter acht Wochen lang für bessere Arbeitsverhältnisse und mehr Lohn. Einer der Mitorganisatoren, Hermann Matern, wird in der DDR Vizepräsident der Volkskammer. Die Welt ist wirklich ein Dorf. Bunt. Nie ganz friedlich. 1914 wird sie wieder mal zu einem mörderischen Ort. Und es sage keiner, es wäre ein geschichtliches Versehen. Mal so reingeschlittert. Frage immer nach dem Wieso-Warum, war einer der wenigen Standardsprüche meines Großvaters für seine Enkel. Folge der Spur des Geldes, hätte gut dazu gepasst. Oder nur cui bono – wem nützt es. Am 4. Dezember 1914 wird Arthur Scholz in den Krieg geschickt, den er ablehnt. Nein, zu den ersten 53 Freiwilligen aus Osterwieck gehörte er gewiss nicht. Über die schrieb die Ilse-Zeitung, dass auch die schulfreie Jugend »den Auszug unserer braven Söhne in den Kampf« begeistert verfolge. Aus »jugendlichen frischen Kehlen« schmettern sie: »Die Serben sind alle Verbrecher, ihr Herz ist ein finsteres Loch, die Russen sind auch nicht viel besser! Aber Haue, aber Haue, krieg'n sie doch!« So flott wird es in den Bittgottesdiensten nicht hergegangen sein. Da hieß es fromm »Mit Gott für Kaiser und Reich« – und vor allem wachsam sein. In Halberstadt wurden gerade russische Spione standrechtlich erschossen. Das Verfüttern von Brotgetreide wird verboten, Mehl ist mittlerweile knapp. In Osterwieck sammeln nun die Frau Fabrikdirektor, die Frau Goldschmied, die Frau Superintendent, die Frau Bürgermeister und noch eine Frau Fabrikbesitzer sogenannte Liebesgaben für die Familien der armen Schweine an der Front. Der Hungerwinter 1916/17 kommt ja erst noch. In den Annalen festgehalten ist die gute Tat des Bleiweißfabrikanten, der den armen Kindern der Stadt ein schönes Weihnachten 1914 ausrichtete. Fast schon wie eine große Volksgemeinschaft. So übernimmt der Kriegerverein die nächtlichen Wachdienste an der Bahnstrecke. Andere haben andere Sorgen. Der Verein deutscher Zündholzfabrikanten ist in geschäftlichen Nöten wegen der ausbleibenden russischen Hölzer. Und die Osterwiecker Bleiweißfabrik muss ihre Produktion kriegsbedingt einstellen. Blei wird für Munition ge-
Truppen Gas als Massenvernichtungswaffe eingesetzt: 3000 gegnerische Soldaten erstickten, 7000 überlebten mit schweren Verätzungen in der Lunge. Entwickelt hatte das Chlorgas der deutsche Chemiker Fritz Haber. Chlorgas reizt die
braucht. Am 10. November erscheint eine ganze Seite Traueranzeigen – »Gefallen auf dem Feld der Ehre«. Die Druckerei Zickfeldt bringt eine Feldpostkarte mit Bild und Spruch vom Kaiser heraus: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.« Kaiserliches Entgegenkommen für die Politik des Burgfriedens der SPD. Kein Trost für trauernde Eltern. Kein Spruch für Arthur Scholz, der an der Westfront steht. In seinen Unterlagen gibt es ein Foto mit ihm in einem Unterstand und eine Zeichnung von einer militärischen Kampfstellung. Es gibt ein Bild, das zeigt ihn als Gefreiten der »Masch.-Gewehr-Komp. Füsilierregiment 36«. So hat er geheiratet, am 12. April 1917 im Standesamt BerlinCharlottenburg. Extra Heimaturlaub und Anna hatte von ihrer Herrschaft auch freibekommen. Da hat er noch beide Beine und gesunde Hände. Ich hoffe, es war ein schöner Tag. Ich hoffe, sie sind noch mal tanzen gegangen. Dann gibt es diese Bescheinigung in Sütterlinschrift: »Unteroffizier Arthur Scholz, geb. am 1. 10. 1890, befand sich seit 16. 6. 15 beim Füsilier-Regiment Nr. 36 im Felde (...). Er wurde am 5. 5. 17 in der Doppelschlacht AisneChampagne schwer verwundet und am 21. 5. 17 für Tapferkeit vor dem Feinde zum überplanmäßigen Vizefeldwebel befördert. Ahrendt, Oberleutnant der Reserve und Kompanieführer«. In dieser Schlacht fielen insgesamt 187 000 französische und 163 000 deutsche Soldaten. Das nächste Bild von Arthur Scholz entsteht im Lazarett. Für ihn ist der Krieg zu Ende. Er bekommt ein Holzbein und das Eiserne Kreuz 2. Klasse dazu.
Für Arthur Scholz ist der Krieg im Mai 1917 zu Ende. Im Lazarett – liegend neben seiner Frau Anna – erhält er ein Holzbein. Foto: privat
1919 ziehen meine Großeltern nach Osterwieck. Ob er ihr jemals die Aussicht vom Turm aus gezeigt hat? Ich weiß es nicht. Belegt wird aber, dass Arthur Scholz mit nunmehr neunzigprozentiger Erwerbsunfähigkeit dem Deutschen Reich eine monatliche Rente von 139,50 Mark wert ist. Am Ende ergibt sich ein Tausch: insgesamt 2970 Mark Kapitalabfindung für das abgerissene Bein und zerkrüppelte Hände. Von dem Geld kauft Arthur Scholz Grundstück und Haus. Dort haben meine Großeltern gelebt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Schleimhäute, führt zu Atemnot und zum Erstickungstod. Haber hatte zu Kriegsbeginn als Wissenschaftler sein Können ganz bewusst in den Dienst des Militärs gestellt. Sein Motto lautete: Im Frieden für die Menschheit, im Krieg für das Vaterland. Durch Haber habe
die Wissenschaft ihre Unschuld verloren, sagt der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer. Haber erhielt 1919 den Nobelpreis für Chemie – für das Verfahren zur Herstellung von Düngemitteln zur Produktion von Nahrungsmitteln. Grafik: Ubisoft
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Die Pazifistin Der Ruf der Bertha von Suttner
»Nur eine breite Bewegung von unten kann die Politiker zum Umdenken bewegen«, war sie überzeugt. Ihr Roman »Die Waffen nieder!«, 1889 in Leipzig erstmals erschienen, war quasi die Inauguraladresse der Friedensbewegung. Sie musste nicht mehr erleben, dass trotz ihrer Mahnungen die Völker Europas in blinder, blutiger Verbissenheit aufeinander losgingen. Die erste Friedensnobelpreisträgerin (1905) starb in den Vortagen des Weltkrieges, am 21. Juni 1914. Die geborene Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau hatte sich, als das Vermögen des Va-
ters verebbte, beim Industriellen Freiherr Karl von Suttner verdingt, dessen Töchter sie privat unterrichtete und in dessen Sohn Arthur sie sich verliebte. Er heiratete sie trotz elterlichen Verbots. Das Paar zog in den Kaukasus, nach Tiflis, wurde Zeuge und Chronist des Russisch-Türkischen Krieges 1877/78 und war fortan friedensaktiv. Nach dem großen Erfolg ihres Romans, in dem sie aus der Perspektive einer Frau, die zwei Ehemänner in Waffengängen verlor, die Gräuel von Kriegen beschrieb, gründete sie eine gleichnamige pazifistische Monatsschrift, sodann die »Österreichische Gesellschaft für Friedensfreunde« und die »Deutsche Friedensgesellschaft« und regte die Bildung eines internationalen Schiedsgerichts an. Für Bertha von Suttner war Frieden naturrechtlichter Normalzustand, Krieg hingegen »Irrwahn«. ves
Würde und Mitgefühl
Mal wieder dumm gelaufen Das jüngere Erinnern an den Ersten Weltkrieg und die ukrainische Krise. Von Velten Schäfer
E
s war eine Art von Public Viewing, das sich ziemlich genau 50 Jahre vor dem deutschen Fußballsommer von 2014 auf dem Berlin-Dahlemer Universitätscampus zutrug. Das Auditorium, vor dem der Hamburger Historiker Fritz Fischer seine Thesen zum Ersten Weltkrieg vortrug, war derart aus den Nähten geplatzt, dass sein Vortrag per Fernbild nach draußen übertragen wurde – damals überaus unüblich, zumal in der Geschichtswissenschaft. Tatsächlich war diese Veranstaltung Teil eines gedenkpolitischen Erdbebens: Aufgrund damals neuen, aus der UdSSR in die DDR gelangten Materials bewertete Fischer zunächst das konkrete Agieren der Reichsführung völlig anders als bis dahin in der BRD üblich: Nicht nur »hineingeschliddert«, wie es bis dato landläufig hieß, war man demnach in den Weltkrieg, die Deutschen hätten denselben letztlich planvoll herbeigeführt. Fischer lieferte nichts anderes als eine wissenschaftliche Begründung des Versailler »Kriegsschuldparagrafen« – man kann sich ausmalen, wie ungeheuerlich das damals für viele noch klang. Nicht minder umwälzend war indes eine methodische Akzentverschiebung, die Fischer in seinem zweiten Buch über die Vorzeit des Ersten Weltkriegs vornahm. In seinem Gefolge rief eine neue Historikergeneration den »Primat der Innenpolitik« aus. Demzufolge galt es, außenpolitisches Verhalten anhand der inneren Verhältnisse zu erklären. In Auseinandersetzung mit marxistischen Imperialismustheorien wurden in der Folge Fischers Befunde über den Kriegsausbruch mit der »Sonderwegsthese« erklärt: Deutschland habe sich im späten 19. Jahrhundert letztlich deshalb in seine gefährliche außenpolitische Achsen- oder »Mittellage« manövriert, weil es sich auch innenpolitisch ›anormal‹ entwickelt habe – und etwa historisch überholte
Schichten zu viel Einfluss beibehielten. Deutschland ließ sich auf diese Art auch soziogenetisch als noch imperialistischer beschreiben als das englische oder französische Kolonialregime. Fischers Thesen haben das Geschichtsbild einer Generation von Westdeutschen geprägt. Ab etwa den 1980er Jahren lernte jeder Gymnasiast, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch mit einem deutschen »Griff nach der Weltmacht« zu tun gehabt habe – und der »Primat der Innenpolitik« hatte intellektuell kaum zu überschätzende Wirkungen, indem er nicht weniger als einen neuen Ansatz der Historik nach sich zog. Nun stellte man weniger auf die Akten und Briefe der Handelnden ab, sondern auf sozialökonomische Dynamiken. Sowohl die deutsche Geschichtswissenschaft als auch die »Aufarbeitung« des Nazireichs wur-
100 Serie zum Ersten Weltkrieg
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den durch diesen Perspektivwechsel nachhaltig vorangetrieben. Politisch war diese im Kern sozialdemokratische Gedenktradition jedoch nie unproblematisch: Aus der Sonderwegsthese wurde fast durchweg eine unbedingte Westbindung gefolgert. All jenen, die weniger NATO wollten, mit Neutralitätsgedanken spielten oder auch nur »atomwaffenfreie« Zonen forderten, ließ sich auf ihrer Basis auswärtiger Hazard und zuweilen fast ein bräunlicher Schimmer unterjubeln – bis weit hinein in den linken Radikalis-
Das erste Opfer des Krieges sei die Wahrheit, heißt es. Nein: Das erste Opfer ist die Menschlichkeit. Nur wenigen gelingt es, sich diese zu bewahren. So wie Anna aus Belgien, die in Frankreich Tiermedizin studiert. Sie fährt
mus, wo die »antideutsche« Debatte der 1990er mit einer Sonderwegsdiskussion begann. Rückblickend will es fast scheinen, als seien mit diesem Kampfbegriff mehr Linke desavouiert worden als Reaktionäre überführt. In ihrem schlechtesten Sinn, nämlich als außenpolitisches Dogma, ist die Sonderwegsthese auch nach wie vor in Kraft. Ansonsten aber ist vom Fritz-Fischer-Paradigma nicht viel geblieben – und zum 100. Jubiläum machen sich nun zwei voluminöse Bücher abermals an eine Revision: Herfried Münklers »Großer Krieg« und vor allem Christopher Clarks Beststeller »Die Schlafwandler«, den schon der Klappentext damit bewirbt, er wende sich gegen den »Konsens« einer deutschen »Hauptschuld«. Beiden geht es in unterschiedlicher Reichweite um eine Re-Revision des unmittelbaren Kriegsausbruchs – was durchaus legitim ist, denn wie alle Historiker hatte auch Fischer seine Thesen natürlich zugespitzt. Dennoch ist auch die neue Darstellung nicht gegen Kritik gefeit. Münkler etwa bringt jüngst vor, gerade Deutschland habe im Juli 1914 keine konkreten Kriegsziele gehabt und deutet dies als Anzeichen für eine deutsche Überraschung vom Krieg. Dabei ließe sich die Tatsache, dass die Führung erst nach Kriegsausbruch bei den diversen Machtzentren Kriegszielszenarien einholte, auch ganz anders deuten: Im Wilhelminismus bestand eine Art kaisertreue »Zivilgesellschaft«, deren im Gegenteil schon lange bestehenden, weit reichenden Annexions- und Dominanzszenarien schwer zu koordinieren waren. Bei Clark kommt nach Fachhistorikermeinungen ausgerechnet Wien mit seiner aggressiven Haltung auf dem Balkan kaum nachvollziehbar günstig weg. Bedenklich ist an dieser jüngsten Revision aber weniger die abermalige Umdeutung des Inhalts der Diplomatenakten und Politikernachläs-
zu Beginn des Krieges von Paris aus an die Front, transportiert im Taxi die begeisterten Franzosen in den Krieg. Doch die Begeisterung legt sich schnell. Nach ihrer gemeinsamen Flucht mit Emile
se, auch wenn eine Umbewertung der historischen natürlich bei der Übernahme aktueller politischer »Verantwortung« helfen soll. Zu denken gibt vielmehr, wie umstandslos sie an dem zweiten, dem methodischen Teil der Fischer-Wende vorbeigeht. Nicht beim Politologen Münkler und schon gar nicht beim Polit-Historiker Clark spielt das Innere der beteiligten Länder konzeptuell eine Rolle – und damit auch nicht der Charakter der damaligen Staatenwelt. So bleibt unterm Strich ein nonchalantes »Dumm Gelaufen«, das dem traditionellen »Hineingeschliddert«
Diese Routine des Regierungskegelns geht aus Sicht der Dominanzmächte so lange gut, wie sich kein ebenbürtiger Gegenspieler zeigt. an Naivität nicht nachsteht. Und im Umkehrschluss erscheint die Welt der großen Mächte, die einander um 1914 hochgerüstet und aggressiv belauerten, als ganz normal und fast idyllisch. Dabei hatte etwa Friedrich Engels bereits 1887 vor dem großen Krieg der Imperien gewarnt. Dieser werde, raunte er im Stil des Nostradamus, Europa »so kahl fressen wie noch nie ein Heuschreckenschwarm«. Die Methode dieses neuen »Dumm Gelaufen« ist dabei ganz die alte: Man geht so nahe heran, bis nichts mehr zu erkennen ist. Doch während man hinsichtlich der neuen Zensuren für die Akteure des Sommers 1914 sagen kann, dass eine Neuverteilung der »Schuld« auf die Kabinette und Generalitäten heute niemand mehr wehtut, macht diese systematische Verwischung der Konturen tatsächlich Angst. Denn auch die Auslösung
und Freddie trifft Anna auf Karl, den Schwiegersohn von Emile. Sie findet ihn schwer verletzt und rettet ihm das Leben. Doch Menschlichkeit wird von der Maschine Krieg nicht goutiert. Karl wird von den Franzosen ge-
der ukrainischen Krise, die pünktlich zum Kriegsjubiläum die Erinnerung an deren Schrecken so unangenehm nahe brachte und auf die Clarks Schlafwandler-Bild weit besser zu passen scheint als auf den Juli 1914, hatte mit solchen Wahrnehmungsproblemen zu tun. Nur dass »der Westen«, dessen Spitzenpolitiker sich im vergangenen Winter so selbstverständlich nach Kiew aufmachten, um den gewaltsamen Sturz einer immerhin gewählten europäischen Regierung zu fördern, in diesem Fall zum konkreten Geschehen zu viel Distanz aufbaut. So viel nämlich, dass der konkrete Konflikt hinter einem abstrakten Kampf der »Werte« verschwindet. Wieder wird so ein Ist-Zustand der Staatenwelt stillschweigend akzeptiert, der zum Ursachengeflecht der Krise gehörte: Dass es sich nämlich die westlichen Dominanzmächte inzwischen herausnehmen, selektiv und nach kurzfristigem Interesse jedwede Regierung freihändig abzusetzen. Dabei ist die Bilanz dieses vermeintlichen Demokratieexports eine Katastrophe: In nicht einmal zwei Jahrzehnten haben maßgeblich westliche Interventionen eine apokalyptische Bürgerkriegszone erschaffen, die fast vom Mittelmeer bis an den Indus reicht. Diese Routine des Regierungskegelns geht aus Sicht der Dominanzmächte so lange gut, wie sich kein ebenbürtiger Gegenspieler zeigt. Ändert sich dies allerdings, müssen die westlichen Einmischungspolitiker im Handumdrehen wieder auf ganz anderen Klaviaturen zu spielen lernen Und weder die allgemeine Erfahrung noch die in der Ukraine konkretisierte Erfahrung legen diesbezüglich großen Optimismus nahe – auch wenn es dort, anders als vor 100 Jahren auf dem Balkan vorerst gelungen scheint, den Krieg lokal zu halten. Denn die Geschichte lehrt ja vor allem eins: dass aus ihr fast nie gelernt wird.
fangen genommen. Auch Emile geht es nicht besser. Er wird wegen Fahnenflucht vor Gericht gestellt, wegen seiner Verdienste aber begnadigt – um sogleich wieder an die Front geschickt zu werden. Grafik: Ubisoft
Erster Weltkrieg 21
u neues deutschland Sonnabend/Sonntag, 26./27. Juli 2014
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Tafeln, die oft lügen Fataler Heldenkult
Hass und Freundschaft
Der Krieg hat zwar schon begonnen – ist aber doch noch weit weg. Emile wartet Ende August auf dem Bahnsteig eines Pariser Bahnhofs auf den Truppentransport an die Front. Auf dem Bahnsteig auch Freddie, der dunkelhäutige Fremdenlegionär aus den USA. Obwohl er auf ihrer Seite ist,
wird er von den französischen Soldaten schlecht behandelt. Emile hilft Freddie – Beginn einer Freundschaft. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wähnte sich die Mehrheit des »weißen« Europas in spätkolonialer Überheblichkeit allen anderen überlegen.
Menschen mit schwarzer Hautfarbe galten vielen als Zwischenstufe zwischen Affe und Mensch. Die meisten für den Krieg rekrutierten französischen Soldaten einfacher Herkunft hatten wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben einen Menschen mit dunkler Hautfarbe gesehen. Grafik: Ubisoft
Clara und die toten Großväter In Wiederau verdrängte eine Kriegsgegnerin zeitweise das »Kriegerdenkmal«. Von Hendrik Lasch
D
ie ersten Toten ließen nicht lange auf sich warten. Kaum vier Wochen war der Krieg alt, der später der I. Weltkrieg genannt werden würde, da beklagte Wiederau den ersten Gefallenen. Reinhard Pötzsch starb am 1. September 1914 in einem Lazarett in St. Loup Terrier, einem Dorf in den Ardennen. Er war der Bruder seines Großvaters väterlicherseits, sagt KarlHeinz Pötzsch, Ortschronist des sächsischen Dorfes. Und er ist der erste in der langen Reihe jener Männer aus Wiederau, die in den nächsten vier Jahren ihr Leben ließen. Auf dem Denkmal, mit dem die Gemeinde später die Kriegstoten ehrte, steht er oben links. Es folgen 61 weitere Namen. 62 gefallene Väter, Söhne, Ehemänner allein unter den 1100 Wiederauern: Der Krieg riss schmerzliche Lücken in fast jede Familie. Die von Pötzsch traf es doppelt; im Juli 1917 verlor bei Langemark in Flandern auch Oswin Kirsten das Leben, der Vater seiner Mutter. Seine Großmutter blieb mit zwei Töchtern allein. »Sie hat nie wieder geheiratet und musste sich allein durchschlagen«, sagt Pötzsch: »So ging das vielen im Dorf.« Die Frauen mussten nicht nur ohne die geliebten Männer weiterleben; sie hatten zunächst auch nicht einmal einen Ort, an dem sie um diese trauern konnten. St. Loup Terrier und Langemark liegen 800 Kilometer von Wiederau entfernt. Selbst wenn die Kriegsopfer dort ein Grab erhalten hätten und nicht einfach in einem Graben verschüttet worden sein sollten – für eine Bauersfrau oder eine Textilarbeiterin jener Zeit waren die Orte, an denen ihre Männer vermeintlich für Kaiser und Vaterland gefallen waren, unerreichbar fern. Ab 1929 gab es einen Platz zum Trauern und Erinnern. In Wiederau wurde, wie davor und danach in nahezu jedem anderen deutschen Ort, ein Denkmal errichtet: drei Tafeln aus schwarzem Granit, die unterhalb der Kirche neben der Hauptstraße angebracht wurden. »Unseren gefallenen Helden in Dankbarkeit gewidmet«, heißt es auf der mittleren; dazu die Jahreszahlen 1914 und 1918, von der
Silhouette eines Stahlhelms getrennt, und die 62 Namen der Toten. Dieser Teil des Denkmals ist heute noch – oder wieder – zu sehen. Es fehlt ein Sockel, der das Denkmal in der ursprünglichen Form komplettierte: mit Eisernem Kreuz und dem Spruch »Die Helden tot, das Volk in Not«. Der Satz findet sich auch andernorts an ähnlichen Denkmälern. Wie viele vergleichbare Sprüche deutet er an, dass es beim Bau nicht nur darum ging, einen Ort zu schaffen, an dem Hinterbliebene Blumen ablegen konnten. Mag das tatsächlich die Intention der Bürger, Kirchgemeinden oder Vereine gewesen sein, die für
Die Bronzeplastik von Clara Zetkin scheint heute aus dem Garten milde auf das Denkmal für die Kriegstoten zu blicken, das 1993 zum zweiten Mal errichtet wurde – freilich ohne Eisernes Kreuz und ohne Sinnspruch. den Bau sammelten, so gab es in Staat und Politik auch andere Motive, den Bau der Denkmäler voranzutreiben. Kriegerdenkmale, schreibt der Historiker Kurt Pätzold, seien stets auch Orte gewesen, um »Reden zu hören und Bekenntnisse abzugeben, die Deutschlands Größe und seinem Helden- und Kriegsruhm galten und den Gedanken an die noch ausstehende Revanche pflegten«. Wahrscheinlich ist, dass auch in Wiederau Schüler dazu angehalten wurden, den Spruch zu deuten – einen Spruch, der ahnen lässt, wie aus Trauer über den verlorenen Krieg und Wut über die wirtschaftliche Not eine Stimmung geschürt wurde, die neue Kriege denkbar werden ließ. Neue »Helden«, so die unterschwellige Botschaft, sollten das Land aus der Misere holen. In Wiederau ist der Spruch heute nicht mehr zu lesen. Das ist ein Er-
gebnis einer historischen Volte, die 1968 zunächst sogar zum Abriss des Denkmals führte. Die Erinnerungsstätte für die Kriegstoten sollte einem Gedenkort für eine berühmte, in Wiederau gebürtige Kriegsgegnerin weichen. Die Rede ist von Clara Zetkin, 1857 als Tochter des Kantors im Ort geboren, aufgewachsen in dem Schulhaus, das knapp oberhalb des Kriegerdenkmals steht. Seit 1952 beherbergt das Gebäude ein Museum zum Gedenken an die Frau, die Sozialdemokratin und später Kommunistin war, Frauenrechtlerin – und nicht zuletzt vehemente Kriegsgegnerin. Als die SPD-Fraktion am 4. August 1914 im Reichstag den Krediten für den Krieg zugestimmt hatte, dem später auch Oswin Kirsten, Reinhard Pötzsch und weitere 60 Wiederauer zum Opfer fielen, meinte Zetkin »wahnsinnig zu werden oder mich töten zu müssen«. 1915 organisierte sie in Bern eine internationale Konferenz sozialistischer Frauen gegen den Krieg. Ihre Haltung führte sie zunächst in den Spartakusbund, dann in die nach dem Ausschluss vieler Kriegsgegner aus der SPD gegründete USPD und schließlich in die KPD. In der Rückschau kann es als eine durchaus sinnreiche Wendung der Geschichte erscheinen, dass das Kriegerdenkmal an der Hauptstraße von Wiederau entfernt wurde, um eine Pazifistin zu ehren – auch wenn das für sie geschaffene Denkmal erst sechs Jahre nach Verschwinden des Vorgängers im Sommer 1974 aufgestellt wurde. Die Bronzeplastik schuf der Bildhauer Harald Stephan aus KarlMarx-Stadt. Zuvor lud ihn der Bezirksvorstand des Demokratischen Frauenbunds (DFD) in die Gedenkstätte ein. Der Besuch solle es ihm ermöglichen, die »geistige Haltung der bedeutenden Frau besser auszudrücken«; hieß es in einem Zeitungsartikel; schließlich sollte er »nicht nur das Mütterliche« Zetkins darstellen, sondern vor allem die »Führerin der internationalen Arbeiterklasse«. Als solche stand Zetkin fortan an der Fernstraße F 107 in Wiederau. Auf ihr rollten vor allem zu Anlässen wie dem Internationalen Frauentag
am 8. März, der auf Zetkins Initiative seit 1910 gefeiert wurde, Busse mit Schülern, Lehrlingen und Betriebskollektiven nach Wiederau. Freilich: Ehrliches persönliches Interesse war eher selten das Motiv für die Reise; selbst Wohlmeinende empfanden die Ausflüge oft als »Pflichtbesuche«. Dass Zetkin in grundsätzlichen Fragen mit namhaften Genossen über Kreuz gelegen hatte, erfuhren die Besucher der Ausstellung nicht; statt dessen lasen sie, dass »das, wofür Clara Zetkin und die Besten der Arbeiterklasse ein Leben lang gekämpft haben, in der DDR Wirklichkeit« sei. Der Spruch ist heute im Museum nicht mehr zu finden, und auch die Zetkin-Plastik steht nicht mehr an der heutigen Bundesstraße B 107. Statt dessen wird dort wieder der Kriegstoten gedacht. Am 25. März 1993 beschloss der Gemeinderat, das Denkmal wieder aufzubauen, das ein Vierteljahrhundert zuvor entfernt worden war. Der Beschluss fiel einstimmig, betont der damalige Bürgermeister Reiner Scheffler. Zuvor waren die 1968 abmontierten Tafeln mit den Namen der Gefallenen unvermutet im Lagergebäude eines Gasthofs wieder aufgetaucht. Gänzlich originalgetreu erfolgte der Wiederaufbau nicht. Weil die Bundesstraße verbreitert worden war, wurde das Denkmal um 90 Grad gedreht. Zudem entschied man sich, auf das ebenfalls noch vorhandene Eiserne Kreuz und den Spruch zu verzichten. »Davon nahmen wir Abstand«, sagt Scheffler, »uns ging es nur um das Gedenken an die Toten.« Dennoch: ein Kriegerdenkmal erneuert, die Pazifistin beiseite geräumt – was in Wiederau geschah, scheint zur verbreiteten Denkmalsstürmerei der frühen 90er Jahre zu passen, als reihenweise Ikonen des DDR-Geschichtsbilds beseitigt wurden. Freilich: Ganz so einfach liegen die Dinge in Wiederau nicht. Tatsächlich wurde der Skulptur Zetkins übel mitgespielt: Sie wurde umgestürzt, beschmiert, schließlich in einem Gebüsch abgeladen, »wo die Vögel auf sie kackten«, sagt Scheffler. Die Kommunalpolitik indes trug der-
lei Verunglimpfung nicht mit – weil »die Clara das nicht verdient«, sagt der Bürgermeister und setzt zu einer Lobrede auf die berühmteste Tochter des Ortes an, die zwar nicht in allen Details historisch korrekt ist, aber ein anhaltend inniges Verhältnis zu Zetkin offenbart: Sie sei, weil sie als Kämpferin für die Rechte der Frau bei der SPD nicht genügend Mitstreiter gefunden habe, in der KPD gelandet, sagt Scheffler und fügt an: »Das, wofür sie kämpfte, war etwas Gutes.« Also ließ Scheffler die Plastik aus dem Gebüsch holen – und im kleinen Garten neben dem Haus ihrer Kindheit aufstellen, in dem eine vom Heimat- und Naturverein betreute Ausstellung heute liebevoll und umfassend über Zetkins Leben und Ideen informiert. An ihrem neuen Standort fällt sie den Reisenden auf der B 107 ins Auge – und ist zugleich, wie Scheffler anmerkt, vor Beschädigungen geschützt, weil der Weg in den Garten durch das Museum führt. Das an ihrer Stelle errichtete Kriegerdenkmal, auf das Zetkin milde herabschaut, versteht man in Wiederau heute als Erinnerungsort für die Toten – die freilich nicht einem abstrakten tragischen Schicksal zum Opfer gefallen seien, sondern einem »Raubkrieg«, wie Scheffler klarstellt. Auch er hat einen Vorfahren unter den Toten: Paul Fuhrmann, seinen Großvater. Als dieser am 3. November 1916 in der Schlacht an der Somme fiel, war seine Tochter – Schefflers Mutter – gerade mal ein Jahr alt. Im Jahr, als die junge Frau 24 wurde, brach Deutschland dann den nächsten Raubkrieg vom Zaun, einen Krieg, den manche als Revanche für die toten »Helden« des Ersten Weltkriegs verstanden. Für den politischen Größenwahn zahlten erneut viele mit ihrem Leben. Aus Wiederau ließen 111 Männer als Soldaten ihr Leben, jeder zehnte Dorfbewohner. An sie und die vielen anderen Opfer des Gemetzels erinnert heute ein kleiner Gedenkstein, der unterhalb des Denkmals für die Toten von 191418 in den Rasen eingelassen ist. Auf die Nennung der Namen wurde verzichtet.
Wie viele Denkmäler für Heinrich Heine gibt es in Deutschland? Die Zahl ist kaum zu schätzen – so wie die der Kriegerdenkmäler. In der »Weltbühne« im Juli 1929 wurden die Zahlen dennoch in Relation zueinander gesetzt: Sie verhielten sich hierzulande, schrieb Kurt Tucholsky, »wie die Macht zum Geist«. Na dann: Gute Nacht, Geist! Schließlich wirkt Deutschland, gemessen an Stelen und Tafeln auf Märkten und Plätzen, nicht wie das Land der Dichter, sondern das der Krieger. Das »Onlineprojekt Gefallenendenkmäler«, das sich als »Mahnung vor dem Wahnsinn des Krieges« versteht, hat Tafeln für Tote vom Dreißigjährigen bis zum Zweiten Weltkrieg zusammengetragen. Allein in Sachsen-Anhalt kommt man auf sagenhafte 1146 Funde. Kein Ort im Land, in dem es nicht ein Denkmal für Gefallene gibt, mindestens. Den Löwenanteil stellen Erinnerungsorte für die Toten des Ersten Weltkriegs, die ab etwa 1920 in enormer Zahl errichtet wurden. Vordergründig erinnern sie an zwei Millionen deutsche Gefallene; oft mit Namen, Sterbedaten und -orten, an denen die Männer erschossen oder verbrannt, verschüttet oder mit Gas getötet wurden. Solche grausigen Details verschweigen die Inschriften indes; statt dessen werden Tote zu »Helden« stilisiert, die »für das Vaterland« getötet worden seien – was Unfug ist, wie Kurt Tucholsky anmerkte. Für treffender halte er die Wendung: »Getötet vom Vaterland«, schrieb er und merkte an: »Die Tafeln lügen«. Ein Versehen ist das nicht. Die »Kriegerdenkmale in Deutschland«, schreibt der Historiker Kurt Pätzold in einer gleichnamigen, 2012 erschienenen »kritischen Untersuchung«, seien eben nicht nur Orte der Trauer und des Gedenkens, sondern von Staat, Stiftern und Förderern auch als »wirkungsvolles Instrument staatsbürgerlicher Erziehung« angesehen worden. So wurden die toten Soldaten zu »Helden« stilisiert, deren Tod als »Vermächtnis« für folgende Generation zu verstehen sei: »Sorgt dafür, dass wir nicht vergebens gestorben sind«, heißt es etwa; selbst zu »Rache« wird in manchen Inschriften aufgerufen. Die Denkmäler seien, schlussfolgert Pätzold, auch »Instrumente von Geschichtspropaganda«, mit denen die Herrschenden auf künftige Pläne vorbereiten wollten. Als diese Großmachtpläne im Mai 1945 erneut gescheitert waren, setzten die Alliierten dezente Korrekturen an den Denkmälern durch; die Kontrollratsdirektive Nr. 30 verfügte im Mai 1946, dass Insignien des deutschen Militarismus wie Eiserne Kreuze oder Schwerter zu entfernen seien. Die Denkmäler selbst durften stehen bleiben. Auch in der DDR blieben sie in aller Regel unangetastet. Für die linksautonome Szene sind sie indes ein regelmäßiges Anschlagsziel; immer wieder werden Denkmäler mit Farbbeuteln beworfen oder – wie 2010 in Balingen – mit Parolen wie »Deutsche Täter sind keine Opfer« versehen. Umgewidmet wurden derlei Denkmäler nur selten. Im sächsischen Müdisdorf wurde die Inschrift mit dem Dank an die Gefallenen 1945 entfernt – und später durch eine für die »Opfer von Faschismus und Militarismus« ersetzt. Hendrik Lasch
22 Erster Weltkrieg
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Erfolgreich und gefährlich Wie eine Zeitung als Kriegstreiber mächtig wurde 1894 schickten die deutschen Sozialdemokraten ihre fähigsten Köpfe an die Ufer der Pleiße, um die »Leipziger Volks-Zeitung« zu gründen. Sie sollte ein Gegengewicht zu den kriegstreiberischen »Leipziger Neuesten Nachrichten« (LNN) bilden. Doch konnten sie weder deren Aufstieg zur größten deutschen Tageszeitung außerhalb von Berlin noch den Weltbrand verhindern. Zu raffiniert hatte Verleger Edgar Herfurth die Etablierung der »LNN« eingefädelt. Die ersten 30 000 Exemplare ließ er im Oktober 1892 Leipziger Haushalten gratis zuwerfen. Die Methode war damals neu – wie auch Herfurths spätere Idee, altes Zeitungspapier wieder zu verwerten. Inhaltlich dominierte im Blattes ein Motto, das variiert stets wiederkehrte: die »nationale Aufgabe«. Damit redete die Zeitung der rücksichtslosen Kolonialpolitik ebenso das Wort wie aggressiver Außenpolitik. Der beständige Ruf, »Front zu machen gegen die Mächte des Umsturzes«, also die Sozialdemokraten, komplettierte die wesentlichen Inhalte der »LNN« – der wohl am stärksten Völker verhetzenden Zeitung im deutschen Blätterwald vor 1914. Dies verrät ein Schreiben von Ernst Hasse, kurzzeitig Chef des keineswegs zimperlichen Alldeutschen Verbands. »Als in diesen Tagen ein in Österreich lebender hochangesehener Norddeutscher sich an mich mit der Anregung wandte, auch in Deutschland ein radikalstes Blatt zu begründen«, so Hasse 1904, »habe ich ihm geraten, doch erst einmal einige Zeit die Leitartikel der Leipziger Neuesten Nachrichten zu lesen. Er werde finden, dass für einen im deutschen Reiche überhaupt möglichen Radikalismus der Bedarf gedeckt sei.« Die »LNN« kann als Taufpate der gewaltigen Flottenrüstung gelten, die der Alldeutsche Verband 1896 bezeichnender Weise in Leipzig los trat. Zu dieser maßgeblich den Krieg von 1914 mit vorbereitenden Kampagne hieß es im Blatt: »Bei dem steten Wachstum des deutschen
Die nationalen Aufgaben: Flotte, Kolonien, Kampf gegen die SPD. Welthandels und der deutschen Handelsflotte braucht unsere überseeische Politik auch in Friedenszeiten einzelne Kriegsschiffe und ganze Geschwader in allen Teilen der Erde zur Wahrung des Ansehens und zum Schutze unserer Rechte.« Als neue Verantwortungsfelder für Deutschland machte die Zeitung zudem die Kolonien aus: »Auch das ist Friedenspolitik, wenn Deutschland sich endlich anschickt, an der großen Arbeit der expansiven Civilisation seinen Anteil zu nehmen.« Die richtigen Leute hierfür seien Männer wie Carl Peters, der bei seinen Eroberungsfeldzügen in Afrika vor Morden an Wehrlosen nicht zurückschreckte. Als dies im Reichstag von einem Abgeordneten der Centrum-Partei scharf attackiert wurde, hob das Blatt in typischer Weise zur Verteidigung an. Engländern oder Franzosen wäre es niemals eingefallen, »schon den einen Mörder zu nennen, der … sich gezwungen sieht, das Leben einiger Schwarzer dranzugeben«. 1908 hatte die Zeitung die Schallmauer von 100 000 Exemplaren durchbrochen, in den ersten Jahren des Ersten Weltkrieges verkaufte man 259 000 Exemplare täglich, ein Viertel davon außerhalb von Sachsen. Die »LNN« beschäftigte, von den Redakteuren bis zu den Zustellern, 1500 Menschen, ein für damalige Verhältnisse gigantischer Medienapparat. Andreas Müller
Hunde im Einsatz
Nach der Schlacht an der Marne gerät Emile in deutsche Gefangenschaft. Dort trifft er auf Walt. Der bellende Vierbeiner wird fortan nicht mehr von seiner Seite weichen. Der Erste Weltkrieg war zwar der erste, der weitgehend motorisiert und mit einem hohen
Einsatz an Technik, Eisen und Stahl geführt wurde, doch auf das Tier verzichtete das Tier Mensch nicht. Hunde wurden als Minenräumer, zur Bergung von Verwundeten, zum Verlegen von Sprengleitungen, als Meldehunde oder einfach als Maskottchen eingesetzt. Noch weniger als die
Menschen hatten sie eine Wahl. Zu Beginn des Krieges kamen 6000 Hunde auf der Seite der Deutschen zum Einsatz, auf französischer Seite waren es nur wenige Dutzend. Bis Kriegsende wuchs die Zahl auf beiden Seiten der Front auf insgesamt 20 000 an. Grafik: Ubisoft
Todesrauschen auf Zelluloid Als die Filmindustrie Waffen für den Kampf um einen Platz an der Sonne schmiedete. Von Kurt Laser
D
er Beginn des Krieges traf die deutsche Filmwirtschaft völlig überraschend. Sie arbeitete unproduktiv, war zersplittert und weder technisch noch politisch auf ihre Aufgaben im großen »Völkerringen«, wie der Massenmord verharmlosend bezeichnet wurde, eingestellt. Doch das sollte sich alsbald ändern. Zunächst einmal wurde nach den gegenseitigen Kriegserklärungen im deutschen Kaiserreich die Aufführung von Filmen der Ententemächte verboten. Der unliebsamen Konkurrenz entledigt, fasste die deutsche Filmindustrie die für sie günstige Gelegenheit am Schopfe. Die Zahl der Filme produzierenden Firmen verzehnfachte sich nahezu. Allein im ersten Kriegsjahr wurden über 50 »patriotische« Streifen produziert. Die Titel lauteten »Auf dem Felde der Ehre«, »Ich hatt' einen Kameraden« »Leben heißt kämpfen«, »Lieb Vaterland magst ruhig sein«; »Stolz weht die Fahne schwarz-weiß-rot« »Kriegsgetraut« und »Todesrauschen – Ein Kriegsdrama«. Der Film »Das ganze Deutschland soll es sein« wollte die Aufhebung der Klassengegensätze in der Stunde der »Vaterlandsverteidigung« suggerieren: Ein Arbeiter und ein Generaldirektor, die vor dem Krieg zerstritten waren, versöhnen sich angesichts des gemeinsamen äußeren Feindes. Der Arbeiter rettet den vom Pferd gestürzten Unternehmer vor dem Gegner. Beide sinken sich in die Arme. Eine ähnliche Botschaft kolportierte »Goldene Herzen in eiserner Zeit«. Und in dem Streifen »Weihnachtsglocken« heiratet die Tochter des adligen Gutsbesitzers einen Landarbeiter, weil dieser an der Front ihrem Bruder das Leben gerettet hat. Der Film »Ich kenne keine Parteien mehr« griff das Postulat von Kaiser Wilhelm II. zu Kriegsbeginn auf. Ein sozialdemokratischer Mechaniker schützt hier seinen früheren politischen Kontrahenten vor einer feindlichen Kugel. Als Dank dafür darf er dessen Tochter heiraten, was dieser zuvor strikt abgelehnt hat. Neben den heroischen und sentimentalen Geschichten von Front und Heimat standen auch Militär-
schwänke wie »Fräulein Feldgrau«, »Mudricks Fahrt zum Kriegsschauplatz«, »Mobilmachung in der Küche«, »Musketier Kaczmarek« (auch unter dem Titel »Der Trottel der Kompanie« bekannt geworden) sowie »Wie Max das Eiserne Kreuz erwarb« auf dem Kinoprogramm. Mit dem Ausbruch des Krieges erlangten vor allem aber auch die aktuellen Wochenschauen besondere Bedeutung. Die von der MessterFilmgesellschaft herausgebrachten Revuen wurden allein bis 1916 von mehr als 34 Millionen Deutschen gesehen. Die Wochenschauen brachten beispielsweise Bilder von der Mobilmachung Anfang August 1914 in Ber-
Die Hand der Ufa ist lang und mächtig ... So arbeiten die Deutschen. Den Filmkrieg haben sie schon gewonnen. lin, zeigten den Kaiser in Uniform, später kamen Aufnahmen von der Front und von Feldgottesdiensten sowie der Unterstützung der Soldaten durch die Heimatfront hinzu. Die Zahl der »vaterländischen« Filme verringerte sich indes bald. Das Interesse an Kriegsfilmen nahm angesichts der desaströsen Lage an den Fronten und in der Heimat rapide ab. Propagandastreifen waren beim Publikum nicht mehr besonders gefragt. Detektivgeschichten und Lustspielfilme sollten die Menschen wieder ins Kino locken. Zu den erfolgreichsten und vielseitigsten deutschen Filmregisseuren zählte damals Max Mack. In seiner Sudermann-Adaption »Der Katzensteg« bekam Käthe Haack 1915 ihre erste Filmrolle. In den Jahren des Ersten Weltkrieges verkörperte sie das typische deutsche Mädel: blond und treu. Noch war ja der Hurra-Patriotismus aus den Kinos nicht ganz verschwunden, und entsprechend hießen ihre Filme »Die Braut des Reserveleutnants«, »Der Feldarzt«, »Ostpreußen und sein Hindenburg«. Käthe Haack wirkte auch in dem 1916
gedrehten Werbefilm für Kriegesanleihen »Der feldgraue Groschen« mit. Kinosäle füllten während des Krieges ebenso Filme mit Henny Porten – der einzige deutsche Filmstar, der sich noch 1913/14 für Völkerverständigung und gegen den Krieg eingesetzt hatte. Andere Filmstars und Bühnenschauspieler wie Adele Sandrock, Albert Bassermann, Otto Gebühr, Paul Hartmann, Emil Jannings oder Eduard von Winterstein stellten sich hingegen von Anbeginn in den Dienst der deutschen Kriegführung. 1917 warb im Zirkus Schumann in Berlin »Das Vaterländische Spiel« für neue Kriegsanleihen – eine vornehmliche Aufgabe des Films im Krieg. Filmpropagandistischer Ehrgeiz beschränkte sich nicht auf nationalen Rahmen, sondern griff auch aufs feindliche oder neutrale Ausland über. Am 6. April 1916 hielt in Leipzig der Vorsitzende des »Ausschusses zum Studium der Frage einer deutschen Film- und Lichtbild-Vortragspropaganda im Ausland«, Ludwig Klitzsch, einen Vortrag: »Wir sehen uns infolge des Krieges vor neue Aufgaben gestellt und es muss für uns gelten, der Waffenrüstung der Konkurrenz nicht nur eine ebenso starke Wehr entgegenzusetzen, sondern darüber hinaus die Waffen zu schmieden, die uns die Benutzung des Platzes an der Sonne und Besitzergreifung von Neuland gestatten.« Erstklassige Filme seien geeignet, dazu beizutragen, »den schaurigen Schmutz, mit dem uns das Ausland versorgt«, allmählich zu verdrängen. Da das Kino mittlerweile auf der ganzen Welt verbreitet sei, müssten deutsche Filme gerade auch »bei den halb- oder gar nicht zivilisierten Völkern als einziger und deshalb um so begehrter Mittler gegenüber der übrigen Welt und ihren Geschehnissen eine bedeutende Rolle spielen.« In diesen Worten zeigte sich die ganze Arroganz eines Vertreters der angeblich »zivilisierten« Nationen, die gerade um die Vorherrschaft in der Welt stritten. Am 18. November 1916 kam es im Berliner Hotel Adlon zur Gründung der Deutschen Lichtbild-Gesellschaft e. V., die von führenden deutschen Wirtschaftsverbänden getragen wurde. Die DLG war relativ schnell in der
Lage, deutsche Propagandafilme in Bulgarien, der Türkei, Rumänien, Schweden, Dänemark und Norwegen in großem Maßstab aufzuführen. Doch schon kurz nach ihrer Gründung erwuchs ihr ein starker Gegner. Am 30. Januar 1917 wurde durch Erlass des Kriegsministeriums in Berlin das Bild- und Filmamt (Bufa) gegründet. Unter der Leitung von Offizieren arbeiteten sieben Filmtrupps an der Ost- und an der Westfront sowie in Mazedonien und im Nahen Osten. Diplomatische Missionen halfen bei deren Verbreitung. Der Frontdienst übernahm die Versorgung der deutschen Truppen mit neuen Filmen, etwa 900 Feldkinos gab es. Aber weder die DLG noch das Bufa erfüllten offenbar die weiterreichenden Erwartungen der deutschen Militärführung. So unterschrieb am 4. Juli 1917 Erich Ludendorff, der Erste Generalquartiermeister beim Chef des Generalstabes des Feldheeres, einen Brief an das Preußische Kriegsministerium, den Major Grau und Oberstleutnant von Haeften verfasst hatten: »Der Krieg hat die überragende Macht des Bildes und des Films als Aufklärungs- und Beeinflussungsmittel gezeigt. Leider haben unsere Feinde den Vorsprung, den sie auf diesem Gebiet haben, so gründlich ausgenutzt, dass schwerer Schaden für uns entstanden ist. Auch für die fernere Kriegsdauer wird der Film seine gewaltige Bedeutung als politisches und militärisches Beeinflussungsmittel nicht verlieren. Gerade aus diesem Grund ist es für einen glücklichen Abschluss des Krieges unbedingt erforderlich, dass der Film überall da, wo deutsche Einwirkung noch möglich ist, mit dem höchsten Nachdruck wirkt.« Am 18. Dezember 1917 wurde ergo die Universum Film AG, kurz Ufa genannt, gegründet. Das Deutsche Reich, die Deutsche und die Dresdner Bank, die AEG, HAPAG und der Norddeutsche Lloyd, Robert Bosch und Fürst von Donnersmarck kamen für das nötige Aktienkapital von 25 Millionen Mark auf. Offiziell traten allerdings weder das Deutsche Reich noch die Deutsche Bank, der größte Teilhaber, als Aktiennehmer auf. Die Ufa kaufte die Aktien sämtlicher
deutscher Produktions-, Verleih- und Theaterbetriebe der dänischen Nordisk Films Kompagni für zehn Millionen Mark auf. Für 1,11 Millionen Mark erwarb sie zudem die Mehrheit des Stammkapitals der ProjektionsAG Union und für 5,3 Millionen Mark die Messter-Film GmbH . Im letzten Kriegsjahr 1918 engagierte sich die Ufa besonders im Ausland, vor allem in der zum Teil von deutschen Truppen besetzten Ukraine. Am 27. April 1918 teilte die Ufa dem Reichswirtschaftsamt mit: »Mit unseren Bestrebungen in der Ukraine verfolgen wir sehr wichtige deutschnationale Interessen.« 1918 wurden allein in der Ukraine noch fünf deutsche Niederlassungen gegründet und Verträge mit fast allen dortigen Filmtheatern abgeschlossen. In Kiew musste jedes Theater 60 Prozent deutsche Filme spielen und zu jedem außerdem noch einen reinen Propagandafilm zeigen. Im Frühjahr 1918 rief die Ufa außerdem Tochtergesellschaften auf dem Balkan und in der Türkei ins Leben. Am 8. Mai 1918 schrieb die ungarische Zeitung »Pesti Napló« treffend: »Für deutsche, österreichische und ungarische Filmfabriken, Filmverleihanstalten und Kinos ist zurzeit das erschreckendste und mächtigste Wort: Ufa. Diese AG hat die Bank der deutschen Schwerindustrie, die Deutsche Bank, zustande gebracht, um sich mit Erfolg auf das gesamte Filmgewerbe Mitteleuropas verlegen zu können.« Das Blatt beklagte des Weiteren, »dass die Ufa ihren Blick bei ihrer zielbewussten und gierigen Einverleibungsarbeit auch auf die junge ungarische Filmindustrie richtet. So wie sie überall mit Haut und Haaren Filmfabriken, Filmverleihanstalten und Kinos ankaufte, versuchte sie sich mit dem starken Druck ihres mächtigen Körpers in der Filmwelt Ungarns festzusetzen.« Die Ufa sei bereits Herr über die sieben größten Lichtspieltheater Ungarns. Die »Pesti Napló« schlussfolgerte schließlich: »Die Hand der Ufa ist lang und mächtig ... So arbeiten die Deutschen. Den Filmkrieg haben sie schon gewonnen.« Der Berliner Museologe Dr. Kurt Laser ist auf Filmgeschichte spezialisiert.
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Die Inspiration der Bolschewiki Vom Reden und Handeln wider den Krieg. Von Ralf Hoffrogge
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er politische Streik ist ein heißer Brei, um den gerne herumgeredet wird – viele schnuppern dran, aber niemand will die Sache auslöffeln. Frank Bsirske etwa verlangte 2010 medienwirksam das politische Streikrecht, nahm jedoch dezent Abstand davon, seine zwei Millionen ver.di-Mitglieder zu mobilisieren. Diverse Gruppen und Grüppchen der radikalen Linken verlangt es noch kräftiger nach dem Politstreik, doch fehlen ihnen Mittel und Methode, um derartiges anzuzetteln – nicht einmal ein anständiger Universitätsstreik kam in den letzten Jahren zustande. Aber auch zu Hochzeiten der Bewegung war politischer Streik ein unbequemes Thema. Elf Jahre musste die Arbeiterbewegung diskutieren, bis im Juni 1916 der erste politische Streik zustande kam – ironischerweise ohne jedes Zutun der Großkopferten von Rechts oder Links, sondern als Aktion der Basis. Schon 1905 hatte Rosa Luxemburg den Massenstreik als Auftakt zur Revolution gefordert. Eduard Bernstein, Vater des Revisionismus, wollte mit ihm wenigstens das allgemeine Wahlrecht durchsetzen – doch es fand sich niemand, den Streik auch durchzuführen. Denn die Gewerkschaften weigerten sich schlicht und erklärten den Generalstreik für anarchistischen Unsinn: Lieber solle man organisatorische Kleinarbeit betreiben und Mitglieder werben. Es folgten Konferenzen zwischen SPD und Gewerkschaftsführungen. Man beschloss, nichts zu beschließen und der Streik fand nicht statt. Auch im August 1914 nicht, als die Kriegsmaschinerie des Hohenzollernstaates auf die Kooperation der Arbeiterbewegung angewiesen war.
Frauen an der Front
Zwei Jahre Krieg, Millionen Tote, Hungersnot und ungezähltes menschliches Elend brauchte es dann, bis die von Anfang an verhaltene Stimmung zum Krieg kippte – im Juni 1916 wurde gestreikt. Entscheidend hierfür war ein Netzwerk gewerkschaftlicher »Obleute«, Ehrenamtliche, die die Funktion von Betriebsvertrauensleuten hatten. Die Basis musste selbst handeln, denn SPD und Gewerkschaftsführung hatten den Krieg unterstützt, noch in den letzten Kriegstagen rief das sozialdemokratische Zentralorgan »Vorwärts« zur Zeichnung von Kriegsanleihen auf. Auch die »Revolutionären Obleute« hatten lange gezögert, bis ihnen der Kragen platzte. Entstanden war die Gruppe aus der Opposition der Berliner Metallarbeiter gegen den Kurs ihrer Führung im Deutschen Metallarbeiter-Verband, dem Vorläufer der IG Metall. Wesentlichen Anteil am Aufbegehren hatte der Dreher Richard Müller. Er organisierte am Rande von scheinbar unpolitischen Bierfesten Treffen kriegskritischer Gewerkschafter und schweißte aus ihnen ein Widerstandsnetz. Jeder Obmann eines Großbetriebes hatte Vertrauensleute in den Abteilungen, das Netzwerk gewann langsam aber sicher Einfluss auf Hunderttausende von Arbeitern und Arbeiterinnen in der Rüstungsindustrie. Der »Liebknechtstreik« vom 28. Juni 1916 war ihre erste Aktion – ein Solidaritätsstreik gegen die Verurteilung Karl Liebknechts, der auf einer Antikriegsdemonstration am 1. Mai 1916 verhaftet worden war. Obwohl sich etwa fünfzigtausend Streikende beteiligten, erreichte die Aktion ihr Ziel nicht: Liebknecht wurde verurteilt und kam erst im Oktober
1918 wieder frei. Doch für die sozialistische Friedensbewegung bedeutete das die Wende. Der Staat wollte mit dem Prozess Stärke zeigen und offenbarte stattdessen die eigene Schwäche. Nun begann ein Kampf zwischen der Friedensbewegung und dem Staat, den Obleute mit der Waffe der Arbeitsverweigerung austrugen. Sie agierten strategisch, riefen nicht jeden Tag zum Ausstand auf, sondern warteten gezielt, bis sich der Unmut angestaut hatte. Im April 1917 war es wieder soweit, als die Lebensmittelknappheit einen Höchststand erreicht hatte. Das Volk hungerte, stundenlang musste für Brot und Fleisch angestanden werden, und wenn dann die Zutei-
Das Signal hatte ein spontaner Massenstreik in Wien gegeben, doch die eigentliche Inspiration kam aus Moskau und Petrograd lung mangels Masse vorzeitig beendet wurde, kam es nicht selten zu regelrechten Hungerkrawallen. Die Schutzpolizei zögerte nicht, mit gezogenem Degen in die Menge zu reiten. Doch am 16. April 1917 war sie überfordert, als in ganz Deutschland etwa 400 000 Menschen streikten und demonstrierten. Viele davon waren Frauen, sowohl hungernde Hausfrauen als auch selbstbewusste Industriearbeiterinnen; während die Männer im Krieg standen, mussten sie die Fabrikarbeit mit übernehmen. Frauen stellten, so einige Zeitzeugen, den größten Teil der Streikenden.
In den ersten Kriegswochen rückte die deutsche Armee rasch vor, so dass sie Anfang September kurz vor Paris stand. Im September begannen britische und französische Truppen an dem östlich der französischen Hauptstadt gelegenen Fluss Marne mit einer Gegenoffensive. Die für die Alli-
Obwohl auch der zweite Massenstreik im April 1917 ergebnislos abgebrochen wurde, gaben die dissidenten Gewerkschafter nicht auf. Mit Hilfe der gerade gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) weiteten Müller und seine Obleute ihr Netzwerk aus. Der nächste Schlag erfolgte am 28. Januar 1918 und war deutlich radikaler. Das Signal hatte ein spontaner Massenstreik in Wien gegeben, doch die eigentliche Inspiration kam aus Moskau und Petrograd: Dort hatten die Bolschewiki im Oktober 1917 die Macht übernommen und boten den Deutschen sofortigen Frieden in den Grenzen von 1914 an. Die kaiserlichen Generäle weigerten sich jedoch und bestanden auf gigantische Gebietsabtretungen – unter anderem hatten sie es auf die Ukraine abgesehen, die politisch »unabhängig«, faktisch jedoch ein Vasallenstaat des Deutschen Reiches werden sollte. Der durch dreiste Militärs verspielte Frieden reizte die Heimatfront zum Aufstand. Der Januarstreik 1918 übertraf noch den Aprilstreik, 750 000 Menschen sollen sich beteiligt haben. Gefordert wurden nun nicht mehr nur Brot und Friede, sondern auch freie Wahlen und die Demokratisierung des Deutschen Reiches. Eine revolutionäre Forderung in einem Staat, in dem zwar gewählt wurde, am Ende jedoch der Kaiser die Minister einsetzte. Der Streik wurde niedergeschlagen, die Forderungen ein drittes Mal nicht erfüllt. Jeder der drei Massenstreiks war mit hohem persönlichen Risiko verbunden, Tausende streikende Arbeiter wurden zur Armee eingezogen, viele von ihnen ließen ihr Leben an der Front und erlebten das Kriegsende nicht mehr. Die Oberste Heeres-
ierten erfolgreich verlaufene Schlacht markiert den Wendepunkt des Krieges. Fortan stand man sich in einem Stellungskrieg gegenüber. Für Anna, die mittlerweile Sanitätsschwester ist, heißt das: Verwundete versorgen. Frauen waren in der öffentlichen Wahrnehmung des Ersten
leitung regierte unterdessen mit eiserner Hand. Sie setzte im Osten, in Brest-Litowsk, ihren »Siegfrieden« durch, besetzte ein Drittel des sowjetrussischen Territoriums und kalkulierte auf einen militärischen Sieg im Westen. Ein Pokerspiel mit hohem Einsatz – zu hohem Einsatz. Im Sommer 1918 brach die Westfront zusammen, Fahnenflucht und Verweigerung griffen um sich, die deutsche Armee war nicht mehr einsatzfähig. Nun stellte sich die Machtfrage: Alles oder nichts. Die Revolutionären Obleute trafen sich im Herbst 1918 regelmäßig mit USPD und Spartakusgruppe, um ihre Aktionen zu koordinieren. Das größte Gewicht hatten dabei die Obleute. Sie waren mit ihren Erfahrungen aus drei Massenstreiks die einzigen, die über ein aktives Netzwerk in den Betrieben verfügten, und die Autorität hatten, einen revolutionären Generalstreik Realität werden zu lassen. Auf geheimen Treffen waren daher einzig die Obleute stimmberechtigt – sehr zum Verdruss Karl Liebknechts und seiner Spartakusgruppe, die Aktionen forderten. Doch die Obleute setzten sich durch und blieben bei ihrer bisherigen Taktik. Sie warteten, bis auch in Berlin die Autorität des Militärs am Tiefpunkt angelangt war. Erst ganz zuletzt gaben sie den Weg frei und mobilisierten ihre Basis in den Betrieben. Der vierte politische Massenstreik am 9. November 1918 war erfolgreich. Er ging jedoch nicht als Streik in die Geschichte ein, sondern als deutsche Novemberrevolution, die das Ende des Kaiserreichs besiegelte. Vom Berliner Historiker Ralf Hoffrogge erschien 2008 im Karl-Dietz-Verlag eine Biografie über Obmann Richard Müller.
Weltkriegs lange Zeit unterrepräsentiert, und wenn, dann erinnerte man an die vielen tausend Krankenschwestern oder an ihre Aktivitäten in der freiwilligen Kriegsfürsorge an der »Heimatfront«. Frauen ersetzten aber auch männliche Arbeiter in der Rüstungsindustrie. Grafik: Ubisoft
Der Mahner Jean Jaurés, das erste Opfer
Der sozialistische Parlamentsabgeordnete und Chefredakteur der »L’Humanité« hatte es eilig am Abend des 31. Juli 1914. Er wollte noch einen Leitartikel für die Ausgabe des nächsten Tages diktieren, um einmal mehr vor dem heraufziehenden Krieg zu warnen. Darum ging er mit einigen Mitarbeitern und Freunden, darunter Marx-Enkel Jean Longuet, nur schnell über die Straße zum Abendessen ins Café du Croissant. Jean Jaurès saß mit dem Rücken zum Fenster, das wegen der sommerlichen Wärme halb offen stand. Niemand bemerkte, dass jemand von draußen die Gardine beiseite schob und mit einem Revolver auf seinen Kopf zielte. Es fiel nur ein Schuss, aber der war tödlich. An der Stelle, wo Jaurès zusammenbrach, erinnert noch heute ein Mosaik im Fußboden. Er war der erste Tote des von den Franzosen als der »Große Krieg« bezeichneten Weltkriegs, gegen den er bis zuletzt mit aller Kraft angekämpft hatte. Dadurch hatte er sich vor allem bei den rechtsnationalistischen Kräften verhasst gemacht. Die hetzten gegen ihn, seit er 1910 die Verlängerung der Wehrpflicht von zwei auf drei Jahre abgelehnt und vorgeschlagen hatte, das »Kasernenheer« durch eine der Republik verpflichtete Armee
von Bürgern zu ersetzen. Er wurde bezichtigt, ein »objektiver Alliierter Deutschlands«, ein »Trommler der Kapitulation«, ein »geborener Verräter« zu sein. Im Sommer 1914 überschlugen sich seine Gegner aber förmlich. So fragte Maurice de Waleffe in der Zeitung »Les Echos de Paris«: »Findet sich denn kein Offizier mit vier Mann, um diesen Jaurès an die Wand zu stellen und ihm eine Ladung Blei ins Hirn zu jagen?« Solche Worte verfehlten nicht ihre Wirkung und hatten auch seinen Mörder, den Studenten Raoul Villain, beseelt. Der gehörte der auf Revanche gegen Deutschland erpichten Liga der jungen Freunde ElsassLothringens an und hatte sich nach einer Friedenskundgebung am 29. Juli mit Jaurès den Smith and Wesson-Revolver gekauft. Nach der blutigen Tat wurde er umgehend durch einen Polizisten verhaftet, der zufällig gegenüber dem Café Streife lief und den Mord praktisch live mit angesehen hatte. Villain verbrachte den ganzen Krieg in Untersuchungshaft und wurde erst danach, im allgemeinen Siegestaumel Anfang 1919 vor Gericht gestellt. Die Geschworenen – alle aus dem Bürgertum und älter als 50 – votierten bei nur einer Gegenstimme für Freispruch und billigten dem Mörder »patriotische Beweggründe« zu. Gegen das empörende Urteil gab es Demonstrationen, und da sich Villain trotz seines von der Justiz ausgestellten »Persilscheins« in Frankreich nicht sicher fühlte, ging er nach Spanien. Hier ließ er sich auf der Insel Ibiza nieder, wo er 1936 durch Republikaner, die aber ganz offensichtlich nichts von seiner Tat 1914 in Paris ahnten, als vermeintlicher Spion der Franco-Putschisten standrechtlich erschossen wurde. Über ihn ist die Geschichte hinweggegangen, während Jean Jaurès in die Geschichte als großer Pazifist eingegangen ist. Seine Nachfahren, Frankreichs sozialistische Präsidenten François Mitterrand und François Hollande schämen sich nicht, sich auf sein Vermächtnis zu berufen und zugleich Militäraktionen abzusegnen. Ralf Klingsieck, Paris
24 Erster Weltkrieg
Sonnabend/Sonntag, 26./27. Juli 2014 u neues deutschland
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Die Sünderin Die Tragik der Mata Hari Sie gilt als Inkarnation weiblicher Spionage, als Femme Fatale, die ihre Reize einsetzt, um Männern geheimste Geheimnisse zu entlocken. Es gab vor ihr und zeitgleich wirkliche und viel erfolgreichere Agentinnen. Fürs Spionieren war sie nicht geboren und nicht talentiert. Sie wollte nur gut leben, als es Millionen ans Leben ging, versuchte zwischen den Fronten zu lavieren und wurde eines der berühmtesten Opfer des Krieges.
»Ich danke Ihnen, mein Herr«, soll sie stolz dem französischen Offizier zugerufen haben, der im Morgengrauen des 15. Oktober 1917 in Vincennes den Degen hob, das Zeichen für den Exekutionstrupp. Geboren 1876 als Margaretha Geertruida Zelle im niederländischen Leeuwarden, strebt sie hoch und in die weite Welt hinaus, führt den exklusiven Haushalt einer Offiziersgattin auf Java, wird verstoßen und startet 1903 in Paris ihre Karriere als exotisch-erotische Tänzerin: »Schiwa, ich tanze für Dich ...« Von Ballettprofis belächelt, wird sie von einflussreichen Männern dies- und jenseits des Rheins umschwärmt, auch als das Varieté-Publikum ihrer überdrüssig ist; sie selbst nährt immer wieder ihren verruchten Ruf, dementiert nicht eine behauptete Liasion mit dem deutschen Thronfolger, was ihr viel mehr zum Verhängnis wird denn angeblicher Kriegsverrat als Berlins Agentin H 21. Das kriegsmüde, sieglose Frankreich brauchte ein Sünderin. ves
Das Töten lernen
Menschen in der Kriegslandschaft Historiker Dominiek Dendooven über das Militärische als schlechteste aller Konfliktlösungen Herr Dendooven, woran merken Sie im Museum, dass der 100. Jahrestag des Weltkriegsbeginns ansteht? Die Besucherzahl ist deutlich gestiegen, und wir beobachten ein erweitertes Spektrum – nach wie vor viele Schülergruppen, aber auch viele Gäste aus neuen Ländern. Yperns Perspektive ist bis heute die der Front und der Opfer – was heißt das? Wir »erzählen« den Weltkrieg aus dem Blickwinkel der Menschen in der Kriegslandschaft, also persönliche Erlebnisse in Flandern während des Krieges. Dieser Fokus überwindet alle Grenzen von Nationalismus, Geschlecht oder Klasse. International konzentriert sich die Debatte zum Kriegsbeginn auf Frankreich, Britannien und Russland bzw. Deutschland und Österreich-Ungarn, während Ihr Land, das am 4. August 1914 den Überfall von drei deutschen Armeen erlebte, eher unbeachtet bleibt. Worauf richtet sich bei Ihnen das Gedenken – auf deutsche Massaker in Lüttich und Löwen, Flucht und Vertreibung von einem Viertel der Bevölkerung oder den Widerstand der belgischen Armee? Hauptaufmerksamkeit gilt den Opfern aller Seiten, militärischen wie zivilen. Die Gedenkveranstaltungen sind international angelegt und schließen bewusst einen Friedensappell ein. Nur das Verteidigungsministerium beleuchtet näher die belgische Armee und ihren Widerstand. Es finden Gedenkveranstaltungen auf vielen Ebenen statt, im Bund, unter der Schirmherrschaft der wallonischen oder flämischen Regierung oder auf der Ebene Westflanderns. Daneben gibt es die »Märtyrerstädte«, sodass auch die Massaker der ersten Kriegsmonate gebührende Aufmerksamkeit erfahren. Legt man die heutige Weltkarte zugrunde, waren 121 Staaten in den
Dominiek Dendooven, belgischer Historiker, untersucht seit 15 Jahren den Ersten Weltkrieg – im flandrischen Ypern, in dessen Umkreis einige der blutigsten Schlachten stattfanden, Deutschland erstmals Giftgas zum Töten einsetzte und bis heute 200 000 Soldaten vermisst sind. Mit Dendooven, 43, der die Freie Universität Brüssel absolvierte und im Weltkriegsmuseum »In Flanders Fields« in Ypern arbeitet, sprach Reiner Oschmann. Foto: privat
Krieg einbezogen – welches Land muss für Sie als Hauptverursacher gelten, und welche Nation zählte, militärisch wie zivil, die meisten Opfer? Serbien hat von allen Ländern am meisten gelitten, gefolgt von der Türkei. In der Schuldfrage laufen bis heute große, strittige Debatten. Jedenfalls ist die Sache komplexer, als nur zu sagen: Deutschland oder Österreich-Ungarn trifft die Schuld. Beispielsweise verhielt sich innerhalb Österreich-Ungarns der ungarische Premier viel vorsichtiger als der österreichische Generalstabschef Conrad von Hötzendorf, der von vornherein auf Krieg gebürstet war. Vor allem aber zeigt sich, dass politische Führer ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden, einen Krieg zu verhindern. So bezog die deutsche Regierung im Juli 1914 keinen offiziellen Standpunkt, sondern beschränkte sich darauf, die Habsburger Regierung wissen zu lassen, sie werde an ihrer Seite stehen, egal, was geschieht. Dieses Verhalten beantwortet nicht die größere Frage, warum es zum Krieg kam. Ich habe darauf keine eindeutige Antwort, auch nachdem ich seit 15 Jahren die Hintergründe dieses Krieges analysiere. Ich neige dazu, ihn als Zusammenstoß von Imperien im Zusammenspiel mit tödlichen Missgeschicken zu bewerten.
Karl, der deutsche Schwiegersohn Emiles, wird kurz vor Kriegsausbruch wie alle anderen Deutschen des Landes verwiesen. Zurück bleiben seine Frau Marie, sein kleiner, kurz vor Kriegsbeginn geborener Sohn Victor und
Wie viele Soldaten fielen in Flandern und wie viele sind bis heute vermisst? In Westflandern starben etwa eine halbe Million Soldaten (von den rund zehn Millionen militärischen Opfern des Weltkriegs). Davon sind rund 200 000 als vermisst gemeldet. Das hat vor allem mit der Art und Weise zu tun, in der der Krieg geführt wurde: Tödlichste Waffe war die Artillerie – viele Soldaten wurden buchstäblich zerfetzt. Und da der Krieg vielfach als Stellungskrieg stattfand, wurden sehr oft Soldatengräber vom Kriegsbeginn später wieder zerstört. Das Wesentliche des Kriegsausbruchs, schrieb der Publizist Simon Jenkins, war, »dass niemand dachte, dass es der Beginn von irgendetwas sein« könnte. Wie sieht das der Historiker Dendooven? Eine der wichtigsten Lehren des Kriegsausbruchs sollte sein, dass man zwar – wie in jedem anderen Krieg – weiß, wann ein Krieg beginnt, nie jedoch, wann und wie er enden wird. Einen Krieg anzufangen ist immer ein gewaltiges Risiko, das um jeden Preis vermieden werden sollte. Politiker heute muss das veranlassen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und Dinge nie außer Kontrolle geraten zu lassen. Wie kommt es, dass bis zu Beginn der Gedenkkonjunktur der Erste Weltkrieg in der Wahrnehmung lan-
Emile. Der wird wenige Tage später mit der französischen Generalmobilmachung als Soldat eingezogen. Die Verwandlung vom Menschen zum Soldaten geschieht durch die Uniform. Das erste,
ge fast so weit weg wirkte wie der 30-jährige Krieg? Der Schatten des Zweiten Weltkriegs liegt drückend über dem Ersten Weltkrieg. Beide sind miteinander verbunden, aber sie sind nicht derselbe Krieg. Der ideologische Aspekt fehlt im Ersten Weltkrieg weithin, und es ist nicht eindeutig, wer gut und wer böse war. Was im Zweiten Weltkrieg geschah, war um vieles furchtbarer und mit noch mehr getöteten Zivilisten verbunden, sodass es die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg überlagerte. Worin vor allem bestehen die aktuellen Lehren des Krieges 14/18? Er war der erste totale Krieg, mit erstmaligem Einsatz von Massenvernichtungswaffen, also in diesem Falle Giftgas, bei dem Militärs nicht länger nur Militärs, sondern Gesellschaften sich gegenüberstanden. Er war auch der Beginn von Europas Selbstentmachtung und der Aufstieg der USA zum Weltpolizisten. Er formte das 20. Jahrhundert mit den beiden Großblöcken und setzte die Entkolonialisierung in Gang. Seine wichtigste Lehre besteht in der Gewissheit, dass eine militärische Lösung stets die schlechteste ist. Sobald ein Krieg begonnen hat, ist sein Verlauf völlig unvorhersehbar und kann zu Katastrophen außerhalb aller Vorstellung führen. Erinnert Sie die Ukraine-Krise 2014 manchmal an Ereignisse des Weltkriegs? Ja. Auch sie hat viel mit Geostrategie und der Bestimmung von Einflusszonen zu tun. Wenn westliche Führer die russische Geschichte und die russischen Gefühle zur Ukraine beachtet hätten, hätten sie den Funken vermeiden können, der den prorussischen Nationalismus in der Ostukraine und auf der Krim auslöste. Wir bemerkten 1914 eine ähnliche »Unentschiedenheit«, die sich als fatal erwies. Andererseits erleben wir, ähnlich 1914, wie Russland aktiv seinen Unterstützern in einem anderen –
was ein Soldat lernen muss, ist zu gehorchen. Also gehorcht Emile. Auf Befehl sticht er auf Strohpuppen ein, wirft Handgranaten auf einen – noch – imaginären Feind. Im Spiel »Valiant Hearts« dauert die Grundausbildung fünf
souveränen – Land hilft und sie ermuntert. Stimmt es, dass weit weniger Deutsche die 160 Kriegsgräberstätten in Belgien aufsuchen als Briten, Amerikaner oder Australier? Mehr und mehr kommen jetzt auch Deutsche, aber nach wie vor weniger als Briten. Wir haben viele Australier und Kanadier, weil sie im Ersten Weltkrieg eine Art Geburtsstunde ihrer Nation sehen. Es gibt kaum Amerikaner, weil US-Bürger mit dem Ersten Weltkrieg sehr wenig vertraut sind. Der Umstand, dass weniger Deutsche kommen, hängt mit dem gewaltigen Schatten des Zweiten Weltkriegs über der deutschen Geschichte zusammen. Ich möchte noch einen aktuellen Vorgang hervorheben: Kurz vor unserem Interview besuchte Angela Merkel Ypern und unser Museum. Das war wichtig. Sie war sehr interessiert und engagiert gegenüber der Öffentlichkeit; dies wurde allseits geschätzt. Um es simpel zu sagen: Ohne die Geschichte zu vergessen, sieht fast keiner bei uns die Deutschen noch als die Bösen, die den Krieg verursacht haben. Das liegt mehr als lange zurück. Nach dem Tod der letzten Kriegsteilnehmer ist Flanderns Landschaft der letzte Kriegszeuge. Wie soll man mit ihr weiter umgehen? Dieser Umstand macht die Landschaft noch wichtiger. Die Regierungen Belgiens und Frankreichs bemühen sich deshalb, einige Schlachtfelder zum Teil des UNESCO-Welterbes zu erklären. Wie auch immer: Auch in den nächsten Dekaden wird die Landschaft Flanderns Munition und menschliche Überreste freigeben. Unsere Behörden bemühen sich darum, eine vernünftige Balance von Bewahrung und Entwicklung zu finden. Es wäre unmöglich und nicht gut, die ganze Region als Freilichtmuseum oder als ein einziges Massengrab zu behandeln. Behutsame Entwicklung ist angesagt.
Minuten. Viel Zeit brauchte man auch vor 100 Jahren nicht, um das Menschenmaterial zu konditionieren: Nach kaum drei Wochen war in allen Armeen die Verwandlung zum Soldaten abgeschlossen. Grafik: Ubisoft
Erster Weltkrieg 25
u neues deutschland Sonnabend/Sonntag, 26./27. Juli 2014
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Die vergessenen Fronten Der Kriegsschauplatz in Asien
Minen
Emile und Walt beim Minenräumen. Nach zwei Jahren Krieg stehen sich Millionen von Soldaten in den Schützengräben gegenüber – teilweise nur wenige Meter voneinander entfernt. Die Methoden des Mordens werden verfeinert. Minen werden zwischen den Gräben in die Erde als Samen
des Todes eingepflanzt. In kilometerlangen Tunneln graben sich die Kriegsparteien bis unter den Feind, um Tonnen von Sprengstoff anzubringen. Die verheerendste Minenexplosion ereignete sich am 7. Juni 1917 nahe dem belgischen Dorf Messines. Die Briten brachten 430 Tonnen Am-
monal-Sprengstoff auf einmal zur Explosion – die Detonation soll noch im viele hundert Kilometer entfernten London zu hören gewesen sein. Es war bis zum Atombombenabwurf in Hiroshima 1945 die stärkste jemals von Menschen erzeugte Detonation. Texte: Jürgen Amendt Grafik: Ubisoft
Nicht nur Schall und Rausch Die Sprache der Begriffe und Bilder vom Ersten Weltkrieg. Von Kurt Pätzold
D
er Begriff »Weltkrieg« ist keine nachträgliche Kennzeichnung für jenen Krieg, der am 28. Juli 1914 mit dem Angriff der K. u. K-Monarchie gegen das Königreich Serbien begann, sich dann durch den Kriegseintritt der britischen Dominien Australien und Kanada, Japans und des Osmanischen Reiches noch 1914 und der USA 1917 von einem europäischen zu einem erdballweiten Krieg ausweitete. Das Wort »Weltkrieg« wurde warnend bereits mehr als ein Vierteljahrhundert vor dessen Beginn und von nach ihrer Gesinnung und ihrer Rolle in der Geschichte so verschiedenen Männern wie Friedrich Engels und Helmuth Graf von Moltke, dem vormaligen Generalstabchef der preußisch-deutschen Armeen, benutzt. Ersterer sah 1887 eine Entwicklung der Staaten in Gang gesetzt, die einem solchen Krieg entgegen trieb und beschrieb eindringlich dessen Folgen. Letzter sprach neunzigjährig, 1890, davon in einer Rede im Deutschen Reichstag, in der er sich gegen die Illusion wandte, es werde ein solcher Waffengang kurz sein und nach wenigen Feldzügen einen Sieger haben. Weder der eine noch der andere hatte den Begriff geprägt. Er lässt sich vordem schon mit Bezug auf ältere Kriege antreffen. Die erste Verwendung weist das Grimmsche Wörterbuch für das Jahr 1599 aus. Weltkrieg – der Name setzte sich in der deutschen Sprache fest für einen Krieg, der nach geografischer Ausdehnung, Zahl der teilnehmenden Staaten, Menschen- und Tieropfern, materiellem und finanziellem Aufwand, Verwüstungen von Ortund Landschaften sowie der Dauer seiner Folgen bis dahin ohne Beispiel war. Bei dieser einen Kennzeichnung ist es nicht geblieben. Bald schon wurden weitere Begriffe und Bilder in Umlauf gebracht. Die einen versuchen eine Bestimmung des historischen Ortes des Krieges im 20. Jahrhundert. Heute häufig gebrauchte lauten »Urkatastrophe« und »zweiter Dreißigjähriger Krieg«. Beide stellen eine Verbindung vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg her. Andere wollen den geschichtlichen Einschnitt erfassen, den dieser Große Krieg bezeichnet. Dazu zählen die Kennzeichnungen »Epochenum-
bruch«, »Ende der belle epoque« und »Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters« sowie Metaphern wie »In Europa gingen die Lichter aus« oder »Sprung ins Dunkle«. Wieder andere beziehen sich auf die Entstehung des Krieges. Das tun Bilder von Politikern, die schlitternd, taumelnd oder schlafwandelnd aus dem Frieden in den Krieg gerieten. So gewiss wie derlei in der Originalitätssucht ihrer »Erfinder« wurzelt, so unstrittig ist, dass stetiges Suchen nach neuen Begriffen auch stärkere gedankliche Anregungen vermitteln soll. Was aber ist gewonnen? Ein tieferes Verständnis des Geschehens? Oder verstellen manche Bilder nicht eher die Wirklichkeit? Lenken sie vom Hauptsächlichen auf Nebensächliches ab? Die Diagnose Somnambulismus führt jedenfalls von der quellenbezeugten Tatsache weg, dass der Krieg als Möglichkeit fest in Köpfen von Po-
Dieser Krieg – wie andere vor und nach ihm – war Menschenwerk und dies auf andere Weise als Katastrophen im zivilen Leben, an denen auch Menschen beteiligt sind. litikern existierte, Ziele zu erreichen, an die sie vermeintlich nicht anders kämen. Das war der »deutsche Fall«, beschrieben als ein Verlangen »nach dem Platz an der Sonne«. Der Zweck, die Kriegsschuld des deutschen Kaiserreiches und seiner politischen und militärischen Elite zu leugnen, war hiermit also schon vor den neumodischen Bildern von den in den Krieg Schlitterern oder Taumelnden erfüllt. Wie aber steht es mit der viel gebrauchten »Urkatastrophe«? Dem Denken und Fühlen von Millionen Angehöriger vieler Nationen hatte sich dieser Krieg, der ihnen den Verlust naher und nächster Menschen, von Habe, Heimat und Zukunftsplänen brachte, als Katastrophe eingeprägt. Katastrophen werden im Alltag Ereignisse genannt wie Erd- und Seebeben, Vulkanausbrüche, Erdrutsche, sintflutartige Unwetter mit Überschwemmungen, Dürreperio-
den, Einschläge von Himmelskörpern. Sie entstehen ohne menschliches Zutun und wider menschliches Wünschen und Wollen. Die Betroffenen sind ihnen ausgeliefert. Es ist die Nähe zu dieser dominierenden Verwendung, welche die bloße Kennzeichnung eines Krieges als Katastrophe fragwürdig macht. Dieser Krieg – wie andere vor und nach ihm – war Menschenwerk und dies auf andere Weise als jene Katastrophen im zivilen Leben, an denen auch Personen beteiligt sind, also Unglücke als Folge fehlerhafter Konstruktionen wie Zusammenstürze von Gebäuden und Brücken, Unfälle zu Lande, in der Luft, auf See oder unter Tage. Auch sie sind Folgen von Menschenwerk, aber ungewollte Resultate. Niemand war an ihnen interessiert. Das gilt hingegen für Kriege nicht und namentlich nicht für den Krieg, der 1914 begann. Ihm gingen Absichten voraus und begleiteten ihn. Dem Wort Urkatastrophe macht neuerdings verstärkt die Wendung vom »zweiten Dreißigjährigen Krieg« Konkurrenz, die einen zeitlichen Bogen von 1914 bis 1944/45 schlägt. Mit ihr wird eine Verbindung zwischen den beiden Weltkriegen hergestellt, freilich ohne über deren Wesen etwas zu sagen. Ist aber die Bezeichnung der Jahre zwischen 1919 und 1938 als Kriegszeit gerechtfertigt? Sind die begrenzten Kriege, die in den zwei Jahrzehnten stattfanden, als Fortdauer dieses einen anzusehen? Lässt sich das für den polnisch-sowjetrussischen Krieg von 1920 sagen? Für die Eroberung Äthiopiens durch Italien 1935? Für Japans Krieg auf dem asiatischen Kontinent? Und wie steht es mit der Beziehung der Bürgerkriege in Russland und in Spanien zum Ersten Weltkrieg? Das Bild vom »zweiten Dreißigjährigen Krieg« macht – gewollt oder nicht – die deutschen Faschisten zu Fortsetzern eines Krieges, den »andere« begannen und den sie nun weiterführten. In Wahrheit verfolgten sie jedoch vom Beginn ihrer Herrschaft an ihren eigenen Plan, einen Krieg um der Ziele willen zu beginnen, die 1914 verfehlt wurden und die sie partiell veränderten, aber noch weiter steckten: im Osten bis zum Ural und Kaukasus. Zwischen den beiden Kriegen hatte der »alte« Kontinent, bevor das
Geschehen 1933 die Situation grundlegend zu verändern begann, Schritte hin zu einer Friedensordnung gemacht, zwar inkonsequent, halbherzig und nicht von nachhaltiger Wirkung. Auch deshalb lassen sich die zwei Jahrzehnte nicht als Fortdauer des Krieges ansehen. Der Begriff ebnet also eine Entwicklung ein, die durch Kontinuität und Diskontinuität gekennzeichnet war. Zu den Bestimmungen, die dem Ersten Weltkrieg jüngst wiederholt gegeben werden, gehört »Zivilisationsbruch«. Vordem war dieser von Historikern auf die faschistische Diktatur in Deutschland gemünzt. Vor allem gelten Auschwitz und der Massenmord an den europäischen Juden als furchtbarster Ausdruck dieses Bruchs. Indes, die ausgeweitete Verwendung dieses Begriffs entbehrt nicht jeder Berechtigung: Der Erste Weltkrieg hat in das gewalttätige Gegeneinander von Völkern und Staaten nicht nur auf Schlachtfeldern Neuerungen eingeführt, die auch als moderne Barbarei bezeichnet wurden. Zehn- und sogar Hunderttausend Tote hatte es in Kriegen vordem schon gegeben. An den drei Tagen der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 waren geschätzt 100 000 Männer umgekommen. Und kein Krieg, der nicht auch Grausamkeiten hervorbrachte. Was aber seit 1914 geschah, war von anderer Qualität: Der massenhafte Einsatz von Maschinengewehren, die Verwendung von Artilleriemunition, die entsetzliche Verletzungen hervorrief und Menschen in Massen zu Krüppeln machte, der Einsatz von Giftgasen, die zu Erblindungen und qualvollen Erstickungstoden führte, die Bombenabwürfe aus Zeppelinen und Flugzeugen auf Zivilisten weit hinter den Fronten und fern kriegswichtiger Anlagen, die Deportation von Menschen aus eroberten Gebieten zur Zwangsarbeit, die Praxis der verbrannten Erde bei Rückzügen, das Verhungernlassen von Kriegsgefangenen, die Morde an Zivilisten, die als »Geiseln« genommen worden waren ... Selbst die nur einen Teil dessen erlebten, nur Bruchstücke an Wissen vom Ganzen besaßen, waren in das Gefühl gestürzt, dass hier eine Welt, ihre Welt unterging, in der sie im Glauben an deren Dauerhaftigkeit
gelebt hatten. Was ihnen als Zivilisation galt, existierte nicht mehr. Ein dahin Zurück gab es nicht. Insofern drückt der Begriff vom »Zivilisationsbruch« einen Wandel adäquat aus, doch nur, wenn er nicht mit Verallgemeinerungen verbunden wird, mit denen die Vorkriegsgesellschaft zur belle epoque erklärt und verklärt, verfehlt und verschönt wird. Zudem: Die Verluste trafen die Schichten der Gesellschaft sehr unterschiedlich. Weite Teile der Arbeiterklasse waren vor dem August 1914 erst noch dabei, sich ihren Anteil an der Zivilisation zu erkämpfen – und hatten dies in Deutschland nach dem November 1918 fortzusetzen. Was immer sich den Begriffen »Urkatastrophe«, »zweiter Dreißigjähriger Krieg« und »Zivilisationsbruch« an Gedankenanstößen abgewinnen lässt – ihnen haftet ein schwerwiegender Mangel an. Sie sagen nichts über den Charakter des Weltkrieges und stechen damit von Kennzeichnungen wie Befreiungs-, Unabhängigkeits-, Bürger- oder Religionskrieg ab. Das leistete indessen eine Charakteristik, die auch keine nachträgliche Schöpfung ist, sondern bereits aufkam, als sich das Kommende erst abzeichnete. Diese treffende Bezeichnungen lautete und lautet »imperialistischer Krieg«. Sie war und ist unmittelbar eine Entgegensetzung zur Lüge vom »Verteidigungskrieg«, mit der Millionen Deutsche und andere Nationen zu den Waffen gerufen wurden, im Glauben, es gelte ihre Familien, ihre Heimat, ihr Vaterland, ihre Kultur vor den Feinden zu schützen, die das eigene Land nicht »hochkommen« lassen wollten, es eingekreist hätten oder ihm seine Erfolge neideten. Diese treffende Charakteristik ist weitgehend in Vergessenheit gebracht worden. Und so erfüllen die hier diskutierten Begriffe – unabhängig davon, ob ihre Benutzer das beabsichtigen oder nicht – eine Art Verdrängungsfunktion. Von den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft und deren Ausgeburten soll offenbar auch hundert Jahre danach keine Rede sein. Vom Berliner Geschichtsprofessor erschienen kürzlich die Bücher »1914 – Das Ereignis und sein Nachleben«, »Kriegerdenkmale in Deutschland. Eine kritische Untersuchung« und »Kein Streit um des Führers Bart«.
Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ist der Erste Weltkrieg ein in Europa ausgefochtener Konflikt. Mochten in ihm auch die Kolonialvölker der sich feindlich gegenüberstehenden Mächte mitgerungen haben, der Stellungskrieg an der Westfront in Europa dominiert die Erinnerung. So ist wenig über die anderen Fronten bekannt. Der deutschen Militärführung gelang es Ende 1914, die Türkei in den Krieg hineinzuziehen. Die Verbindungen zwischen osmanischem und preußisch-deutschem Militär blickten auf jahrzehntelange Tradition zurück. Kein geringerer als »der große Schweiger«, Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke (d. Ä.), war als junger subalterner Offizier einige Jahre Militärberater bei der »Pforte«. Am Vorabend des Krieges bildeten deutsche Generale und Admirale einen erheblichen Teil der Elite der Flotte und des Heeres der Osmanen aus. Im August 1914 gingen die deutschen Kreuzer »Goeben« und »Breslau« in türkischen Dienst über und fuhren unter dem Oberbefehl des deutschen Admirals Wilhelm Souchon. Ende Oktober versenkte das Geschwader ein russisches Schiff vor Odessa, was Russlands Kriegserklärung an die Türkei nach sich zog. Vor allem im Kaukasus, in Ägypten, Palästina, an der Dardanellenfront und in Persien kämpften deutsche und türkische Soldaten gemeinsam gegen die Entente. Die während der Operationen in Persien erfolgreiche 6. Osmanische Armee unterstand dem deutschen Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz, die 5. Osmanische Armee oblag Marschall Otto Liman von Sanders und die türkische Marine dem Vizeadmiral Johannes Merten. Auch auf subversivem Gebiet arbeitete man zusammen. Der deutsche Geologe Oskar von Niedermeyer, der Orientalist Wilhelm Wassmus und der junge Leutnant Werner Otto von Henting erhielten den Auftrag, Diversanten nach Afghanistan zu schleusen und einen Dschihad gegen die britische Fremdherrschaft zu entfachen. Man verlor indes bereits in Rumänien die Ausrüstung, weil man sich als Wanderzirkus getarnt hatte und die dortigen Beamten nicht glauben wollten, dass ein solcher Maschinenge-
Deutsche und Türken gemeinsam gegen die Entente – ein Bündnis mit Tradition. wehre benötige und diese kurzerhand beschlagnahmten. Zudem zerstritten sich Niedermeyer und Wassmuss bald. Letzter schlug sich auf eigene Faust nach Persien durch und schürte tatsächlich Aufruhr; er wurde zum »deutschen Lawrence« stilisiert. Entgegen weit verbreiteter Ansicht schritten jedoch deutsche Militärs und Diplomaten zumindest punktuell beim 1915/16 von Jungtürken verübten Massenmord an den Armeniern ein. So verbot von der Goltz die Deportation der Armenier aus Mossul. Kurzzeitig wurde auch in China gekämpft. Berlin bot dem »Reich der Mitte« unmittelbar nach Kriegsausbruch an, das gepachtete Tsingtau zurückzugeben und es so einem Zugriff Japans zu entziehen. Ungeachtet dessen griffen japanische Flotteneinheiten Tsingtau an. Der kommandierende Kapitän zur See Alfred MeyerWaldeck musste nach zweimonatiger Belagerung kapitulieren. 1917 erklärte China dann dem Deutschen Reich den Krieg, Kämpfe fanden jedoch nicht mehr statt. Martin Meier
Wissenschaft 27
u neues deutschland Sonnabend/Sonntag, 26./27. Juli 2014
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Tödliche Wissenschaft Wie deutsche Chemiker und Physiker den Verlauf des Ersten Weltkriegs beeinflussten. Von Martin Koch
Unterstützt von einer Giftgaswolke greifen deutsche Soldaten an der Westfront an.
U
m Sprengstoffe und Munition herstellen zu können, benötigten alle imperialistischen Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Salpeter. Allerdings war es nicht ganz einfach, in den Besitz dieses wertvollen Rohstoffs zu gelangen. Denn es gab weltweit nur eine technologisch bedeutsame Salpeterlagerstätte, und die befand sich in der Atacamawüste in Chile. Von dort importierte auch das Deutsche Reich die begehrte Chemikalie. Zumindest bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Nachdem jedoch Großbritannien am 4. August 1914 in den Krieg eingetreten war, wurde es für Deutschland immer schwieriger, Salpeter aus Übersee einzuführen. Im deutschen Generalstab machte sich deswegen aber zunächst niemand ernsthafte Sorgen. Hier vertraute man weiter auf den sogenannten Schlieffen-Plan. Danach sollten Frankreich und Russland in zwei kurzen Feldzügen besiegt werden, für die man wiederum nur einen relativ geringen Munitionsbedarf veranschlagt hatte. Erst als die Kämpfe im Westen in einen materialintensiven Stellungskrieg mündeten, wurden die geringen Salpetervorräte zum Problem. Spätestens bis Mitte 1915, so besagten Schätzungen, würde Deutschland ohne neue Salpeterquellen seine gesamte Munition verschossen haben und gezwungen sein, den Krieg zu beenden. Dass dies nicht geschah, verdankten die deutschen Militärs nicht zuletzt der Wissenschaft. Bereits 1910 hatten die Chemiker Fritz Haber und Carl Bosch ein Verfahren zur synthetischen Herstellung von Ammoniak entwickelt, das 1913 in einem Werk der BASF erstmals zur großtechnischen Anwendung gelangte. Das Wichtigste aber war: Aus Ammoniak ließ sich durch Oxidation die zur Produktion von Sprengstoffen benötigte Salpetersäure gewinnen. In seiner Eigenschaft als stellvertretender Direktor der BASF gab Bosch dem preußischen Kriegsministerium deshalb im September 1914 das »Salpeterversprechen«. Hiernach übernahm die BASF die Verpflichtung, bis Mai 1915 ein großtechnisches Verfahren zur Herstellung von Salpetersäure aus Ammoniak zu entwickeln. Gefördert wurde dieses Unternehmen vor allem von Walther Rathenau, der als Leiter der im August 1914 gegründeten Kriegsrohstoffabteilung maßgeblich dazu beitrug, dass Deutschland überhaupt vier Jahre lang Krieg führen konnte. Da der Staat den Bau der neuen Salpeterfabrik in Oppau bei Ludwigshafen mit sechs Millionen Mark
finanzierte, konnte dort wie vorgesehen im Mai 1915 die Produktion anlaufen. In der Folge musste die BASF ihr Know-how allerdings auch anderen Firmen zur Verfügung stellen, so dass 1916 bereits zehn Anlagen zur synthetischen Herstellung von Salpetersäure arbeiteten. Damit hatte sich Deutschland vom Chile-Salpeter unabhängig gemacht und die wohl bedrohlichste Munitionskrise des Ersten Weltkriegs abgewendet – auch dank der bedingungslosen Hingabe von führenden Chemikern wie Fritz Haber, der seinen Patriotismus einmal so begründete: »Im Frieden gehört der Wissenschaftler der Menschheit, im Kriege aber nur dem Vaterland.« Um den unerwarteten Stellungskrieg im Westen wieder in Bewegung zu bringen, hatte der deutsche Major und Artilleriespezialist Max Bauer schon im September 1914 vorgeschlagen, chemische Kampfmittel einzusetzen. Er dachte dabei hauptsächlich an Geschosse, die »durch eingeschlossene feste, flüssige und gasförmige Stoffe den Gegner schädigen oder kampfunfähig machen sollten«. Fasziniert von dieser Idee ließ General Erich von Falkenhayn den berühmten Physikochemiker Walther Nernst zu sich kommen und bat ihn, die Sache zu prüfen. Nernst sagte sofort mit Eifer zu. Als Partner gewann er den Chemie-Industriellen Carl Duisberg, den späteren Aufsichtsratsvorsitzenden der I.G. Farben, sowie Haber. Im Oktober 1914 nahm die sogenannte Nernst-Duisberg-Kommission ihre Arbeit auf. In ihrem Bemühen, chemische Kampfstoffe für das deutsche Heer zu entwickeln, wurde sie auch von anderen
Foto: Imago/United Archives
namhaften Wissenschaftlern unterstützt. Als Beispiel sei hier nur der Chemienobelpreisträger Emil Fischer genannt, der bereits Ende 1914 Voruntersuchungen mit Blausäure durchführte. Während Nernst und Duisberg auf einem Schießplatz bei Köln das Abfeuern von Reizstoff-Granaten erproben ließen, verfolgte Haber andere Ziele. Er wollte die gegnerischen Soldaten nicht nur aus ihren Stellungen vertreiben, er wollte sie töten. Als Mittel dafür empfahl er Chlorgas, das in der chemischen Industrie in großen Mengen als Abfallprodukt anfiel. Es sollte bei günstigen Windverhältnissen auf die feindlichen Stellungen aus Flaschen abgeblasen werden. Die Haager Landkriegsordnung glaubte Haber dadurch umgehen zu können, dass er das tödliche Chlor als Reizgas deklarierte, dessen Anwendung im Krieg nicht verboten war. Am 22. April 1915 fand in der Nähe der flandrischen Stadt Ypern der erste Chlorgasangriff der Militärgeschichte statt. Eine sechs Kilometer breite und bis zu 900 Meter tiefe Gaswolke bewegte sich auf die französischen Stellungen zu und tötete dort über tausend Soldaten. Neben Haber, der wegen dieser Aktion von Kaiser Wilhelm persönlich vom Vizewachtmeister zum Hauptmann befördert wurde, waren auch andere Wissenschaftler an der Vorbereitung des Gasangriffs beteiligt: James Franck, Gustav Hertz und Otto Hahn, der am 25. April 1915 einen Brief seiner Kollegin Lise Meitner erhielt. Darin stand: »Ich beglückwünsche Sie zu dem schönen Erfolg bei Ypern.«
Am 12. Juni fuhr Hahn an die Ostfront, um in Galizien erneut einen Gasangriff zu beaufsichtigen, bei dem neben Chlorgas auch das weitaus giftigere Phosgen zum Einsatz kam. Er sei damals »tief beschämt« gewesen über die vielen qualvoll Sterbenden, deren Leid er selbst mit verursacht habe, schrieb Hahn später. Doch die Scham währte nicht lange. Durch den ständigen Umgang mit Giftgasen stumpfte Hahn immer mehr ab. Am Ende habe ihm der Gastod an der Front keinerlei Skrupel mehr berei-
Haber wollte die gegnerischen Soldaten nicht nur aus ihren Stellungen vertreiben, er wollte sie töten. Als Mittel dafür empfahl er Chlorgas. tet, gestand er in seinen Erinnerungen. Frei von Skrupeln war auch Haber, der einmal unverhohlen feststellte: »Ich halte den Gaskrieg für legitim, ja sogar für human. Er ist Ausdruck unserer naturwissenschaftlichen Phantasie, die im Krieg und während der Kriegsvorbereitungen notwendig ist.« Ähnlich wie viele Chemiker wollten auch andere deutsche Wissenschaftler ihren Beitrag zum erhofften Sieg der deutschen Truppen leisten. Zu ihnen gehörte der Göttinger Mathematiker Richard Courant, dem bei einem Fronteinsatz die Schwächen der deutschen militärischen Kommuni-
kation aufgefallen waren. Als Alternative empfahl er die Nutzung der Erdtelegraphie, mit deren Hilfe es ihm gelungen war, Signale über eine Entfernung von rund zwei Kilometern zu übertragen. Es dauerte allerdings bis zur Somme-Schlacht 1916, ehe sich die Militärs von den Vorteilen der neuen Technik überzeugt hatten, die längst auch die Alliierten einsetzten. Auf Vorschlag des Physikers Rudolf Ladenburg wurde 1915 bei der Artillerie-Prüfungskommission in Berlin eine Schallmessabteilung gegründet, zu der alsbald auch der spätere Mitbegründer der Quantenmechanik Max Born stieß. Das hier entwickelte akustische Verfahren zur Bestimmung der Position feuernder Geschütze verschaffte den deutschen Truppen anfangs durchaus Vorteile. Der Historiker Arne Schirrmacher sieht darin sogar die »wissenschaftlich wie militärisch fruchtbarste Aktion« von Physikern im Ersten Weltkrieg. Zwar mussten Ladenburg und Born hin und wieder zu Inspektionen an die Front fahren. Ansonsten jedoch konnten sie am wissenschaftlichen Leben in Berlin teilnehmen und Kontakte zu anderen Physikern pflegen, etwa zu Albert Einstein, mit dem Born befreundet war. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr Wissenschaftler versuchten, durch einen Einsatz in der militärischen Forschung einem Kampfeinsatz an der Front zu entgehen. Das gelang nicht immer. Allein von den Physikern, die freiwillig oder gezwungenermaßen in den Ersten Weltkrieg zogen, fand jeder fünfte den Tod.
Epilog Nach dem Krieg wurde Fritz Haber von den Alliierten als Kriegsverbrecher geführt. Um einer möglichen Auslieferung zu entgehen, ließ er sich einen Vollbart wachsen und floh in die Schweiz. All dies hielt die Schwedische Akademie der Wissenschaften jedoch nicht davon ab, ihm 1919 der Chemienobelpreis rückwirkend für das Jahr 1918 zu verleihen – »für die Synthese von Ammoniak aus dessen Elementen«. Wenig später kehrte Haber nach Deutschland zurück. Er wurde Leiter der neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung (Degesch), bei der einige seiner früheren Mitarbeiter 1922 das Insektengift Zyklon B entwickelten. Nicht nur bei deutschen Militärs galt Haber weiterhin als Experte für den Gaskrieg. Selbst der im niederländischen Exil lebende Wilhelm II. ließ bei ihm nachfragen, ob es in einem künftigen Krieg gegen die Alliierten möglich sei, große Städte »total zu vergasen«. Eine Antwort ist nicht überliefert. Um Deutschland die Zahlung der in Versailles festgesetzten hohen Reparationen zu ermöglichen, spielte Haber ab 1920 mit dem Gedanken, Gold aus dem Meer zu ge-
winnen. Denn nach seinen Berechnungen sollte eine Tonne Seewasser etwa fünf Milligramm des begehrten Elements enthalten. Doch die unter seiner Leitung durchgeführten Forschungen auf dem Passagierschiff »Hansa« brachten nicht den gewünschten Erfolg. Der Grund: Haber hatte den Goldgehalt des Meerwassers um den Faktor Tausend zu hoch angesetzt. Damit war jeder Versuch einer maritimen Goldgewinnung illusorisch geworden. 1933 musste Haber hilflos mit ansehen, wie die Nazis das von ihm geleitete Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie von jüdischen Mitarbeitern »säuberten«. Obwohl er als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs zunächst unbehelligt blieb, legte Haber, der 1893 vom Judentum zum Protestantismus konvertiert war, die Leitung des Instituts nieder. Er verließ Deutschland und ging an die Universität Cambridge, wo er kurzzeitig wieder in einem Labor arbeiten konnte. Am 29. Januar 1934, während eines Erholungsaufenthalts in der Schweiz, starb der »Vater des Gaskriegs« mit 65 Jahren an Herzversagen. mk
James Franck (2. v. l) und Otto Hahn (2. v. r.) – als Offiziere beim Giftgaskrieg dabei Foto: Max-Planck-Gesellschaft