Anne-Marie Siegrist-Thummel Fig端rliches Zeichnen Methoden Ideen Techniken
Impressum
Großen Dank an die Sponsoren
Konzept und Texte: Anne-Marie Siegrist-Thummel Gestaltung: Bonbon – Valeria Bonin, Diego Bontognali, Zürich Lektorat, Korrektorat: Kerstin Forster, Lisa Schons, Miriam Waldvogel Lithografie: TeamMedia, Gurtnellen Druck: Heer Druck AG, Sulgen Bindung: Buchbinderei Burkhardt, Mönchaltorf
Hans Adrian; Berchtold.Lenzin Landschaftsarchitekten, Zürich; Norbert Bräker; Stefan Büchi, Fotograf; Cassinelli-VogelStiftung, Zürich; Caran d'Ache, Genf; Eidgenössische Technische Hochschule ETH, Zürich; Maria Frey-Walpen; GfPM Gruppe für Projektmanagement, Isabelle Kalt-Scholl, Horw; HAERLE HUBACHER Architekten BSA, Zürich; ChristophHesseArchitekten, D-Korbach; Hochschule für Technik HSR, Rapperswil; Martin Klöti, Regierungsrat, St. Gallen; Pia und Kurt Müller; raumlabor.ch, Dieter Schwarz, Zürich; ryffel + ryffel Büro für Garten- und Landschaftsarchitektur, Uster; Christopher Saller, nightnurse images, Zürich; Hansruedi Schmidlin; SchweingruberZulauf Landschaftsarchitekten, Zürich; Florian Seibold, ASP Landschaftsarchitekten, Zürich; Roman Signer; Hansjörg Steinmann; Teammedia, Raini Sicher, Gurtnellen; Prof. em. Dr. Hans Würgler-Zweifel; Alex Zumstein, Malund Zeichenbedarf, Zürich
Zeichnungen auf dem Umschlag: Ivo Bertolo, Matej Draslar, Anne-Marie Siegrist-Thummel
© 2014 by niggli Verlag, Sulgen, www.niggli.ch, sowie der Autorin und den Künstlerinnen und Künstlern. ISBN 978-3-7212-0887-0
Herzlichen Dank Allen Studierenden, die ihre Zeichnungen zur Verfügung gestellt haben. Meinen Freundinnen und Freunden für ihre Unterstützung während der Buchentstehung. Kerstin Forster für das Lektorat. Valeria Bonin und Diego Bontognali für die Buchgestaltung.
Inhaltsverzeichnis
7
Vorwort
119
217
Gestaltfragment
Architektur-Figur
Einführung
125
225
27
Taktile und visuelle Phänomene der Oberfläche
Medialität wechseln, ästhetische Prozesse auslösen
9
Wahrnehmung
Die Wahrnehmung inszenieren 35
Linie
Magische Linien für den formbaren Körper 45
Punkt und Fleck
Punkte erweitern und Flecken interpretieren 53
Miniatur – Blow-up
Fragmentierung und Neuordnung
Oberfläche – Plastizität
233
Hüllen verhüllen, enthüllen, formen und deformieren
Von der Zeichnung zum Film
Hüllen
141
Rechts – Links
Balance zwischen rechter und linker Körperhälfte 149
Hell – Dunkel
Die kleine Zeichnung 65
157
Maß, Form und Bildbau
Feuer-, Licht- und Schattenspiel oder Die Zeichnung aus der Steckdose
77
Baukasten
Element, Figur, System 83
Gestik und Gebärden Gestische Spuren und Ausdrucksgebärde 91
Variation – Serie – Reduktion
Reduktion und Gestaltprägnanz im Prozess der Variation 99
Wiederholung – Umdeutung – Ornament Wiederholung und Bedeutungswechsel 109
Komposition – De-Komposition
Komposition zwischen Gesetzmäßigkeit und Zufall
Medientransfer
137
Optische Phänomene, die sich auf das Gegenteil beziehen
Maß – Proportion
Mensch will Bau werden
Licht – Schatten – Feuer
163
Natur-Figur
Die Natur als Mitgestalterin 171
Zufall
Der schöpferische Anteil des Zufalls 175
Mehrdeutigkeit
Die Physiognomisierung der Dingwelt 181
Schrift-Bild
Schreiben wie zeichnen, zeichnen wie schreiben 189
Spiegel-Bild
Gebrauchsanleitung für Spiegel 195
Bewegung
Zeit und Bewegung im Bild 213
Bildgeschichten
Mit Bildern erzählen
Animierte Zeichnung 239
Zeichnung aufführen Körperzeichen 245
Quellen 246
Bildnachweis Fotonachweis Zeichnerinnen und Zeichner 248
Biografie
7 Vorwort
Dieses Buch möchte Ihr Interesse am Zeichnen wecken beziehungsweise – so schon vorhanden – es intensivieren und mit ungewöhnlichen praktischen Anleitungen weiter anregen. Zeichnen und Imaginieren sind beseelende und vergnügliche Tätigkeiten. Das in einer Zeichnung lediglich Angedeutete und Undefinierte bezaubert in seinem Möglichen ebenso wie die prägnant visualisierte Gestalt. Alles kann Anlass zum Zeichnen sein: ein Körperfleck, ein Zeitungsrand, Dunkelheit. Die unterschiedlichsten hier vorgestellten Ansätze und Themen erlauben einen Einstieg auf jeder Stufe. Zeichnen kann – talentunabhängig – optimiert, schöpferisches Verhalten stimuliert werden. Unkonventionelle Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen verstärken die Neugier und die Lust am Kritzeln, Ausprobieren, Wagen. Im Mittelpunkt steht dabei immer der menschliche Körper. Die Zeichnungsübungen sind individuell erweiterbar und nehmen flankierend Bezug auf Phänomene in der Kunst. Mit wenigen Ausnahmen resultieren die Exponate aus meinen Lehrveranstaltungen an der ETH Zürich (Departement Geistes- und Sozialwissenschaften und Departement Architektur). Die ästhetischen Prozesse haben zu überraschenden Resultaten geführt und belegen, dass anschauliches Denken und visueller Ausdruck ermutigend vermittelt und gelernt werden kann. «Denn Zeichnen ist einer der wichtigsten nonverbalen Zugänge zur Welt.»1 Anne-Marie Siegrist-Thummel
35 Linie
Magische Linien für den formbaren Körper
Simultanwirkung von bestehenden Linien Copy! Maßlinie 1 Maßlinie 2 Linie wird Figur im Raum Eine ununterbrochene Linie – Serviettenzeichnungen Linienbündel
Die Linie ist omnipräsent und gehört zum Elementaren der Zeichnung. Striche oder Linien sind in Wirklichkeit erdachte Abgrenzungen von Flächen, Formen, Farben, Materie und Raum. Somit schließt das Zeichnen immer auch die Abstraktion mit ein. Das Erscheinungspotenzial der Linie wird in der Zeichnung ausgelotet und unterschiedlich materialisiert, nicht nur mit Stift und Maus. Auch Wasser, Erde, Licht, Feuer, Sand, Pflanzenteile, Pflanzensäfte etc. hinterlassen Spuren. Linien formen, verbinden und beenden; sie deuten an, beschreiben, umschließen. In ihrer Verdichtung bilden sie Flächen und die Linie ist es wiederum, die sie unterteilt. Linien konstruieren und dekonstruieren, sie führen zu Ordnungen, korrespondieren mit Text und Bild, schaffen Zwei- oder Dreidimensionalität. Sie können Bewegung ausdrücken, Energie kennzeichnen, Stimmungen auslösen. Linien haben Namen sowie Funktionen und in jedem Fachbereich ihre eigene Bedeutung. In ihrer unterschiedlichen Ästhetik vermitteln Linien, geprägt durch die Handschrift, Sinn oder Unsinn. Wie Linien gelesen oder gesetzt werden, was sie anordnen, verursachen und bewirken, ist abhängig von ihrem Einsatzbereich. Ein Chirurg verbindet die Linie mit anderen Konsequenzen als ein Pilot oder Dirigent. Zeichnen hat zahlreiche Berührungspunkte mit der Geste. Die Linien, hervorgerufen durch vielfältige Bewegungen, faszinieren in ihrer abbildenden und abstrakten Form. Man unterscheidet das Ansetzen, den Druck, die Verdickung oder Verflüchtigung der Linie; die unterbrochene, hingeworfene, klar konturierte oder geschnittene Linie etc.
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Linien sind überall präsent, sowohl als Schrift, wo sie die komplexesten sprachlichen bzw. intellektuellen Inhalte transportieren, als auch auf der sinnlichen Ebene in ihren mannigfachen Ausdrucksformen und Medien. So schreibt Jean-François Lyotard: «[…] ich denke, dass die Linie etwas absolut Radikales und Ontologisches hat. Eine Linie ziehen auf einer Oberfläche, welcher auch immer, heisst jenes Minimum an Sinn herstellen. […] Ein schlichter Bleistiftstrich auf dem Papier ist eine Kunst, die karger, ärmer nicht sein könnte, eine der ärmsten Formen von Kunst. Diese fast mystische Ärmlichkeit hat für mich zunächst etwas Ureigenes, Ursprüngliches.»5
38 Copy!
Einen Faden direkt auf dem Kopierer/Scanner formen und ‌ klick!
Die einfache Schnur, mit welcher die Figurationen gelegt sind, ist von geringer Stofflichkeit und prägt durch ihre provisorische Schlichtheit die umriss- oder skeletthafte Figuration.
39 Maßlinie 1
Die erste Zeichnung bestimmt das Linienmaß (hier 1,60 m). Diese Maßlinie ist Konzept für eine Serie von Zeichnungen unterschiedlicher Sujets zu einer gewählten Thematik. Der abgemessene Faden wird aus seiner üblichen Erscheinungsform enthoben und erhält eine eigene Charakteristik, die dem jeweiligen Motiv entgegenkommt. Die beiden Zeichnungen bestehen aus einer durchgehenden Linie von 1,60 Meter.
40 MaĂ&#x;linie 2
Der Umfang eines DIN-A3-Blattes (142,4 cm) bricht als materialisierte Linie vom Rand in das Format hinein und bildet zunächst als Schnurlinie eine Figuration, die auf einem anderen Papier gezeichnet wird. Drahtschnur, Kohle, Naturpigment, Stehlampe
41 Linie wird Figur im Raum
Ein Purzelbaum, und schon entsteht eine neue Figur. Durch die Bearbeitung ihrer Umgebung erhält die Figur einen räumlichen Bezug. Die topografische Wirkung wird durch Schatteneintrag verstärkt. Schnüre, Kohle und Weißkreide, Pastellkreiden, Naturpigment
45 Punkt und Fleck
Punkte erweitern und Flecken interpretieren
Flecken deuten Verwandeln und erweitern eines Flecks Gewachsene Flecken Smartphone-Zeichnung Vergrößerung der Smartphone-Zeichnungen Kompakte Figuren Pointillistische Zuckerfigur
Der Punkt ist ein weiteres Schlüsselelement in der Zeichnung. Er wird in der Schrift, Kunst, Geometrie, Musik oder Meditation unterschiedlich definiert. Selbst in der Malerei kommen ihm ganz unterschiedliche Bedeutungen zu. Wassily Kandinsky bezeichnete den Punkt als Urelement der Malerei und sieht die Linie als Sekundärelement und größten Gegensatz zum Punkt. In der Kunst zeigt sich der Punkt in einem wandelbaren Spannungsfeld: als prägnanter Punkt oder Kreis in der konkreten Malerei, als Cut-out-Fleck bei Matisse, als Farbmisch-Element im Pointillismus, als Rasterelement in der Pop-Art, als Klecks im Tachismus oder als Explosionsfleck bei Roman Signer.
«[…] das Volumen ist ein Abstraktum, welches man erhält, indem man einem Körper das Physische entzieht; die Fläche ist noch abstrakter, sie entzieht dem Volumen die Dicke und die Tiefe; eine Linie erhält man, indem man der Fläche ihre Weite entzieht, und das Abstrakteste von allen ist der Punkt, dem selbst die Mög lichkeit entzogen ist, Teile zu besitzen.» 6
Bei der ersten Berührung des Bildträgers mit dem Körper(-Teil) oder Werkzeug entsteht ein Punkt. Mit ihm konzentrieren wir uns auf den Ort und Beginn der Zeichnung. Wiederholt sich der gezeichnete Punkt anstatt aus ihm eine durchgezogene Linie entstehen zu lassen, können folgende ästhetische Aspekte maßgebend sein: Größe, Ausformung (geometrisch, organisch), Dichte, Farbe, Ordnung (solitär, gerastert etc.). Die Wirkung des Punktes oder Flecks ist material- und technikabhängig. In der Bildgestaltung werden die aufnehmenden Bildflächen bespritzt, betropft, gestochen, betupft, usw. Vom tief gedrückten Punkt eines Stichs bis zum Wüstenkrater in der Land-Art hinterlässt jedes Werkzeug seine charakteristische Spur.
46 Flecken deuten
Flecken lassen sich überall deuten: auf der Haut, auf Wänden und Böden. Bisher Übersehenes wird plötzlich wahrgenommen. Hält man die Augen offen, zeigen sich Licht- und Schattenflecken, Asphalt-Flicken oder Kaugummi-Flachreliefs. Der Fotoapparat ist ein geeignetes Medium, um auf Entdeckungsreise zu gehen oder man zeichnet und interpretiert kleine Flecken mittels Vergrößerungsglas.
47 Verwandeln und erweitern eines Flecks
Metamorphose Figur aus drei Tuscheflecken Punkterweiterung in Photoshop Der Fleck wird ausgedehnt und geformt; Formen heiĂ&#x;t Grenzen setzen
Im Sinne der Metamorphose wird durch Punkterweiterung eine Bildreihe erzeugt. Die Umgestaltungen basieren auf der Kunst des Assoziierens.
48 Gewachsene Flecken
Fleckenzucht: Bei Nahrungsmitteln im K체hlschrank das Verfallsdatum missachten und den Schimmelprozess verfolgen. Auf den Nahrungsmitteln im Plastikgef채ss bilden sich nach einiger Zeit bezaubernde Figuren.
Pilzfleck auf Randensuppe und Himbeerjoghurt
49 SmartphoneZeichnung
Analog zu den feinen Bewegungen der navigierenden Fingerkuppe auf dem Smartphone wird mit feinsten BerĂźhrungen auf Papier gezeichnet. ZwĂślf Figuren auf einer DIN-A6-Karte positionieren. Gouachefarbe
50 Vergrößerung der SmartphoneZeichnungen
Schnell wechselnde Körperpositionen von einem Punkt aus. Anschließend vergrößern und in bestehenden Bildern montieren (siehe S. 63). Gouachefarbe
65 Maß – Proportion
Maß, Form und Bildbau
Bildbau Füllendes und Formendes Zwischenräume
Harmonie und Proportion haben bereits den Vorsokratiker Protagoras beschäftigt, er hat das Wesen der Dinge mittels Zahlen zu ergründen versucht. Sein viel zitierter Satz «Der Mensch ist das Maß aller Dinge»7 bezieht sich auch auf den menschlichen Körper, der maßgebend ist für unsere Wahrnehmung und für alles, was ihn umgibt und womit er sich beschäftigt. Erst die Renaissance, später die Hochklassik hatten den Anspruch, das «richtige» Maß als verbindliche Regel festzulegen.
Familienbild Montage Fiktive Gestalten Warenkörper
Die abendländische Tradition von Vitruv beeinflusste Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer sowie weitere Künstler der Renaissance. Die am weitesten verbreitete verbindliche Gesetzmäßigkeit war der Goldene Schnitt mit seinem Maßverhältnis, das besagt, dass sich das Ganze zu seinem größeren Teil (a) verhält wie der größere Teil (a) zum kleineren (b): Das Proportionsverhältnis a:b ist demnach 61,8 % zu 38,2 %. Im Zusammenhang mit dem Goldenen Schnitt ist auch die unendliche Fibonacci-Reihe zu erwähnen, weil deren Verhältnis aufeinanderfolgender Zahlen zueinander ihm sehr nahe kommt: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 usw. Beide Zahlenverhältnisse haben Wissenschaftler später in der Natur nachgewiesen. Nach Vitruv hat die Natur den menschlichen Körper so geformt, dass das Gesicht vom Kinn bis zum oberen Ende der Stirn und dem unteren Rand des Haarschopfs ein Zehntel der Gesamtkörperlänge beträgt, die Handfläche von der Handwurzel bis zur Spitze des Mittelfingers ebenso viel, der Kopf vom Kinn bis zum höchsten Punkt des Scheitels ein
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Achtel, und von der Mitte der Brust bis zum höchsten Scheitelpunkt ein Viertel. Der Mittelpunkt des Körpers ist der Bauchnabel. Schreibt man den liegenden Menschen mit ausgestreckten Armen und Beinen in einen Kreis ein, dann berührt der Umfang die Fingerspitzen und die Zehenspitzen. Ebenso wie sich der Körper in einen Kreis einpassen lässt, passt er auch in das Quadrat. Das Maß von den Fußsohlen bis zum Scheitel entspricht dem Maß der Armspanne. In der berühmtesten Darstellung des nach Vitruv wohl proportionierten Menschen folgt ihm Leonardo mit seinen Vermessungen der Anatomie junger Männer und erklärt damit auch die Regeln des Goldenen Schnitts: Vier Finger breit sind eine Handbreite und vier Handbreiten gleich lang wie ein Fuß; sechs Handbreiten machen eine Elle und vier Ellen einen Mann. Zwei Ellen ergeben einen Schritt und vierundzwanzig Handbreiten einen Mann. Das Zentrum des von Leonardo in ein Quadrat eingeschriebenen Menschen liegt am Ansatz des männlichen Gliedes. Die Vitruv-Figur zeichnete er nach folgenden Proportionen: Gesicht: 1/10, Kopf: 1/8, Fuss: 1/6, Elle: 1/4 der Gesamtgröße. Der menschliche Körper, auch wenn er von Künstlern immer wieder in geometrische Formen unterteilt wurde, bleibt eine große organische Einheit und hat individuell unterschiedliche Ausmaße. Klassische Schemata dienen lediglich der Orientierung, z.B. dass der Kopf etwa einem Achtel der Gesamtlänge eines erwachsenen Menschen entspricht.
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Nicht zu allen Zeiten richteten sich Proportionen nach festgelegten Regeln, wie wir sie heute kennen. Der Künstler der Venus von Willendorf folgte seinen emotionalen Vorstellungen einer Frau: große Brüste, ausladende Hüften, gewölbter Bauch und runder Po, ein eher kleiner Kopf. Subjektive Relevanzen sind auch erkennbar in Kinderzeichnungen: Bedeutungsvolles wird gross, beispielsweise ein Körperteil, der schmerzt. Ein besonders freizügiger Umgang mit Maßverhältnissen ist in der außereuropäischen Kunst festzustellen, wo der Kopf meistens überdimensioniert erscheint, oder in ägyptischen Wandmalereien, wo Könige größer dargestellt werden als die Untertanen. Den freien Umgang mit Maßen, Formen und Proportionen zeigen uns insbesondere auch die Künstler und Musikerinnen unserer Zeit. Anfangs der Siebzigerjahre demontierte der «Anarchitekt» und Künstler Gordon Matta-Clark Hauswände, zersägte ganze Häuser, öffnete Decken und Böden, schnitt gewaltsam tragende Balken aus den Gebäuden und stellte Gebäude auf die Probe. Seine cuttings und splittings verschafften Einblick ins Innere der Architektur und spielten an auf Stabilität und Vergänglichkeit der Architektur sowie auf die erzwungene oder selbst gewählte Containerisierung. Er setzte Zeichen gegen die Vereinsamung und kritisierte die Spekulation mit dem Baugrund. Mit seinem radikalen Dekonstruktionsgedanken und gewaltsamen Eingriffen verletzte und befragte er Denkgebäude einer Gesellschaft und verwies auf den altgriechischen Homo-Mensura-Satz nach Protagoras: «You are the measure.»8
68 Bildbau
Bilder bewegen sich in einem offenen «Grenzverkehr». Sie fließen über die Ränder hinaus, erhalten ein Format oder einen zusätzlichen Rahmen im Bild selbst (Bild im Bild). Begrenzungen beziehen sich auf den Bildinhalt wie auch auf die Form des Bildträgers. Welche Posen passen in ein Quadrat, in einen Kreis, in ein Rechteck, in ein Dreieck?
69
70 Füllendes und Formendes
Eine «geometrische Verpackungsform» zu skizzieren, bevor das Sujet gezeichnet wird, ist beim Aufbau der Figur bzw. des Bildinhaltes und der Festlegung ihrer Proportionen hilfreich. Die Form-Inhalt-Problematik kann weiter untersucht werden unter dem Aspekt der Nichtidentität von Füllendem und Formendem, wie man es beispielsweise vom aus Brüsten, Nabel und Scham geformten Frauengesicht von René Magritte kennt.
Raumerfahrung: Durch die körperliche und psychische Erfahrung von Raum entstehen architekturähnliche Bilder.
71 Zwischenräume
Mit den Fingern und anderen Körperteilen lassen sich annähernd geometrische Formen und (Zwischen-)Räume bilden. Auch bei der Annäherung zweier Körper kommt es zu einem «Spielraum», der erotische Spannung wiedergeben kann – Berührungspunkte, Verschmelzungen etc.
72 Maß, Form, Proportion
Gliederpuppe, Barbie & Co. Industriell hergestellte Warenkörper wie Lego-Figuren, Barbiepuppen oder Transformerfiguren vernachlässigen die menschlichen Maße und Proportionen zugunsten anderer Funktionen. Die standardisierten und vermessenen Schaufenster-, Schneider- oder Gliederpuppen hingegen entsprechen den durchschnittlichen menschlichen Proportionen. Manichino (steifer Bock, Balg) ist ihre italienische Bezeichnung, ihr Ursprung ist das niederländische Mannekijn und bedeutet Männchen. Dank ihrer Kugelgelenke lässt die Gliederpuppe die skurrilsten Verrenkungen zu. Der Manichino war in den früheren italienischen Kunstakademien ein geeignetes Hilfsmittel, um die perspektivischen Verkürzungen der Figuren zu studieren, wie sie um 1410 vom Bildhauer und Architekt Brunelleschi im Kontext seiner Linear-perspektive entwickelt wurden. Heute gehört die Holzpuppe den vergangenen Atelierrequisiten an und wird kaum mehr als Orientierungshilfe für Zeichnungsstudien genutzt. Der genormte, mechanisierte und in Versatzstücke aufgeteilte Mensch bleibt nicht nur in der Kunst ein brisantes Thema. Mit den raffinierten Neuschöpfungen von Prothesen, Robotern und technisch-organischen Cyborgs stehen wir noch nicht am Ende des «Warenkörpers» – in ihm vermuten wir eine mysteriöses, utopisches Potenzial.
137 Hüllen Körpernahe Verpackung Bandage Rückenskulptur
Hüllen verhüllen, enthüllen, formen und deformieren Seit Menschengedenken werden Körper in Form von Stein-, Lehm- oder Holzfiguren sowie als Ritz- und Höhlenzeichnungen nachgebildet. Die Schönheit des Körpers war Sinnbild für das Göttliche und gleichzeitig bleibt er dem zeitlichen Verfall ausgeliefert. Weil Nacktheit über lange Zeit tabuisiert war, gehörten Verhüllungen und Teilverhüllungen zur Skulptur wie zum Bild; erst die Renaissance-Künstler begannen sich diesem Diktum zu widersetzen. Die Konfrontation mit der Natur, das Interesse am anatomischen Bau des Körpers, die detaillierte Beobachtung von Körperteilen und -proportionen standen im Mittelpunkt. Leonardo da Vinci zeichnete vermutlich als Erster das geheimnisvolle Unsichtbare im menschlichen Körper: ein Kind im Mutterleib. Der Begriff Hülle umfasst ein weites Feld, sie begleitet den Menschen von der Zeugung (Samen, Embryo) bis zum Tod (Urne). Sie umgibt die Atmosphäre, besteht aus Luft, Wasser, Licht, ist Lebensraum, Schutz, Architektur, Verpackung. Häute, Rinden, Schalen lassen den Inhalt erahnen, verbergen ihn aber zugleich. Die Grenzen zwischen innen und außen sind gemäß ihrer Beschaffenheit und Funktion: durchlässig, elastisch, künstlich, polyform, temporär, austauschbar, giftig etc. Die Natur ist die vorbildlichste Verpackungskünstlerin. So wurde der Klettverschluss anhaftenden Früchten wie Hexenkraut nachgeahmt, und die Schichten der Zwiebelschale, das Schalengehäuse der Muschel, der Fallschirm des Löwenzahns u.a. finden in der Technik, in der Architektur oder im Verpackungsdesign ihren interdisziplinären Transfer.
138 Körpernahe Verpackung
Ein in ein Leintuch gehüllter Mensch dient als Ausgangslage für die Zeichnung. Durch die «Verpackung» zeigt sich das Grobvolumen des Körpers. Einige Körperstellen treten markanter in Erscheinung als andere, die einzelnen Gliedmaßen verschmelzen zu einem «Monolith». Im Sinne einer Bildhauerzeichnung erhält die Zeichnung Plastizität durch toniges Modellieren. Jede Art von Stiften oder Kreiden
139 Bandage
Das Modell wird in der Vorstellung bandagiert. In dieser Betrachtungsweise werden Bänder um das Volumen / den Körper gelegt, etwa so wie ein verletzter Körperteil normalerweise eingebunden wird; so erhält die «Mumie» Volumen und wirkt greifbar, skulpturenartig, plastisch. Die Auflagestelle unterhalb des Körpers definiert den Raumbezug. Sehr feiner Filzstift, Tuscheroller
140 Rückenskulptur
Den Rücken mit Vaseline einreiben, Gazestücke in dünnflüssigen Gips tauchen und mit drei bis fünf Lagen auf dem Rücken eine feste «Rückenwand» herstellen. Die Hülle erst abheben, wenn der Gips kalt und erstarrt ist. Die Hüllenplastik gibt nun auch Einblick in das fehlende Volumen und bietet sich an für eine Foto- oder Zeichenserie.
195 Bewegung Drumming Simultaneität und Synthese Abstrahierte Figuration Bewegungsablauf Am laufenden Band Mäander Panorama MDF-Holzschnitt Thermofax Blick winkelverschiebung 1 Blick winkelverschiebung 2 Hand und Tanz
Im statischen Medium Bild können wir folgende Bewegungsdarstellungen ausmachen: 1. Direkte Bewegungsspur (unmittelbar mit dem Körper[-teil] und dem geführten Werkzeug) 2. Indirekte Bewegungsspur (Tropfkessel, Spritzpistole) 3. Mechanisch erzeugte Bewegungsspur (aus der Aktion mit Hilfsmitteln) 4. Bewegung als serieller Prozess (Themenvariation) 5. Bewegung durch Einbeziehung eines Bewegungssymbols (Pfeil, Strich) 6. Bewegung des Bildbetrachters (Augenführung, Körperführung, Standortwechsel) 7. Bewegung durch Körperhaltung (Bewegungserstarrung im Gehen, Kämpfen, Werfen) 8. Bewegung als optische Illusion (Gehirnvorgang)
Zeit und Bewegung im Bild Auf der vibrierenden Achse zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt das Gegenwärtige, der Augenblick. Seine Anwesenheit ist von kurzer Intensität, obwohl er eine Kluft, einen Übergang darstellt zwischen dem Nicht-Mehr und Noch-Nicht. Die Bewegung löst einen starken Sehreiz aus. Ihre Wahrnehmung funktioniert stroboskopisch, indem das Gehirn unzählige Einzelbilder, die auf unsere Netzhaut projiziert werden, zusammenfasst zu einem bewegten Bild. Aus Einzelbildern einen Bewegungsablauf darzustellen, wie wir ihn heute vom Film kennen, ist erstmals William George Horner mit der Erfindung des Zoetrops gelungen; wie beim Daumenkino wird der Stroboskopeffekt genutzt, um die Illusion eines Bewegungsablaufes zu generieren. Es bewegt uns heißt die einfache geometrische Zeichnung von Josef Albers (1957), die durch scheinbare Perspektiven Räume erzeugt, die ineinandergreifen, plastisch vorspringen oder zurückweichen (S. 155). Der Kippeffekt, ein Flimmern zwischen zwei sich ergänzenden Sichtweisen bewirkt bereits eine Vorstufe von Bewegung. Anders beim Akt, die Treppe herabsteigend Nr. 2 von Marcel Duchamp (1912): Seine abstrahierte Figurendarstellung ist sichtbar beeinflusst von der Chronofotografie. Mit kubistisch verschachtelten «Körperteilen» bewegt sich der Akt von oben links nach unten rechts und visualisiert zusätzlich den Zeitaspekt. Die ewig wechselnden und wiederholten Bewegungen des Menschen, wie auch seine Erstarrung bleiben zentrale Themen der Kunst.
198 Abstrahierte Figuration
Die Empfindung von Bewegung wird durch unterschiedliche Bildformen hervorgerufen. So kann z. B. das gegenständliche Motiv zurücktreten zugunsten der Organisation einzelner Bildteile. Sehr langsame Bewegungsfiguren von einer Seite des Raumes zur anderen werden bildnerisch dokumentiert. Eine Aneinanderreihung der Figuren (Posen) suggeriert den Bewegungsablauf und gestaltet sich neu in der Abstraktion. Ausfransende Antiformen vernetzen Figuren und Zwischenräume. Grafitstift, Radiergummi Weitere Umsetzung als Holzschnitt mit verändertem Duktus der Linienführung (rotes Bild)
200 Am laufenden Band
Obwohl Zeit nicht zwingend horizontal dargestellt werden muss, verwenden wir insbesondere längliche Formate und zeichnen in der Horizontalen von links nach rechts. Varianten der Darstellung von Zeit und Bewegung können auch vertikal oder diagonal gezeichnet werden. Das Modell hält jede Pose fünf bis zwanzig Sekunden und geht dann gleitend in die nächste Stellung über. Die Zeichnung wird ausgeführt, als ob man schreiben würde – stufenweise verformen sich die Körper, jede Figur nimmt etwas von der vorangegangenen auf. Kassa-Röllchen, diverse kleine Rollenpapiere, Bleistift, Filzstift oder Wachskreide
202 Mäander
Die Größe der einzelnen Figuren richtet sich nach der verfügbaren Zeit – fünf bis acht Sekunden erlauben etwa zwei bis drei Zentimeter hohe Figuren. Jede Pose wird nur kurze Zeit gezeigt und ist integrativer Bestandteil des Bewegungsablaufs – ähnlich wie ein Buchstabe in einem Schriftzug. Das Fließende ergibt sich in dieser Bewegungsstudie durch das Aneinanderreihen von Figuren wie Flussschlingen. Filzstift auf schmalen Papierstreifen
205
Pinselzeichnung Umsetzung der Zeichnung auf 21 × 320 cm (Rückseite des Brettes siehe S. 37), Nachbearbeitung im MDF-Druckstock Druck auf Japanpapier
206 Thermofax
Statt per Farbe kann die Übertragung auch mittels Bügeleisen auf Thermofaxpapier erfolgen. Dazu das Faxpapier auf den Druckstock legen, darüber eine Stofflage, damit die Wärme des Bügeleisens nicht zu stark durchdringt (kleinste Wärmestufe). Überraschend sind die unerwarteten Verformungen und Zufallsspuren.
Wärmeübertragung ist auch durch Reibung mit einem Stück Modellkarton möglich.
207
Vorderseite und R端ckseite des Thermorfax
208 Blick winkelverschiebung 1
Ein einfacher Gegenstand, z.B. ein Stöckelschuh oder eine Milchflasche, wird aus Draht geformt und anschließend an einem Faden auf Augenhöhe aufgehängt. Sobald das Objekt aus einer anderen Perspektive (Standortwechsel) betrachtet wird, verändert sich die Figur. Die Ausgangsfigur kann durch weitere Verformungen manipuliert werden, sodass eine Verwandlung von einem Ding zum nächsten stattfinden kann. Die Mehransichtigkeit wird mittels Zeichnungen oder Fotos dokumentiert.