vom guten wohnen_leseprobe

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vom guten wohnen. vier zürcher hausbiografien von 1915 bis zur gegenwart.

Herausgegeben von Marie Antoinette Glaser und ETH Wohnforum – ETH CASE Centre for Research on Architecture, Society & the Built Environment mit Beiträgen von Annelies Adam-Bläsi, Eveline Althaus, Marie Antoinette Glaser, Patrick Gmür, Sabine Herzog und Anna Joss

Niggli


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Vorwort

Margrit Hugentobler 10

Gutes Wohnen hat Bestand — Hausbiografien beschreiben Karrieren dauerhafter Wohnbauten

Marie Antoinette Glaser 29

Eine Stadt, die von allen bewohnt wird

Ein Interview mit dem Direktor des Amts für Städtebau Zürich, Patrick Gmür 54

Der Pionierbau — Die Kolonie Industrie I (1915)

Anna Joss 92

Die schlichte Beständige — Die Wohnsiedlung Zurlinden (1919)

Marie Antoinette Glaser 138

Das Innovative konventionell umgesetzt — Die Hochhäuser Heiligfeld (1950–1952)

Eveline Althaus 184

Gemeinschaftsidee im Grossformat — Die Siedlung Grünau (1975 / 1976)

Marie Antoinette Glaser 208

Anmerkungen und Abbildungsverzeichnis

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Autorinnen und Autoren

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Dank und Impressum


Vorwort Für wen – und vor allem, was sollen wir bauen? Diese Fragen beschäftigen längerfristig denkende private und institutionelle Investoren im Wohnungsbau. Konferenzen und Workshops zu Lebensstilen, demografischen Entwicklungen, Marktsegmenten, Standortqualitäten und ähnlichen Themen stossen auf reges Interesse. Sollen noch weitere Wohnungen mit zunehmend grösseren Wohnflächen gebaut werden? Braucht es mehr grosse oder mehr kleinere Wohnungen? Wie viel soll in Materialisierung und Ausstattungskomfort investiert werden? Lässt sich mit Wohnungsbau überhaupt noch eine anständige Rendite erzielen? Den öffentlichen und gemeinnützigen Wohnbauträgern stellen sich teils andere Fragen. Auch sie müssen sich überlegen, wer ihr Zielpublikum sein soll. Sind es weiterhin Haushalte mit Kindern, welche inzwischen in der Stadt Zürich nur noch rund ein Viertel ausmachen? Sollen es eher Wohnungen für Singles, Paare, Wohngemeinschaften oder für ältere Menschen sein? Wie viel darf Wohnraum noch kosten, wenn er auch für bescheidenere Einkommen erschwinglich bleiben sollte? Unter welchen Umständen soll eine in die Jahrzehnte gekommene, den gegenwärtigen Bewohnerinnen und Bewohnern zur Heimat gewordene Wohnsiedlung einem Ersatzneubau weichen, wenn durch eine Verdichtung die Wohnfläche verdoppelt werden kann und gemeinschaftlich genutzte Innenund Aussenräume bestehen bleiben? Wie gebaut werden soll oder sollte, darüber besteht mehr Konsens: ressourcenschonend, energieeffizient, gescheit verdichtet – dauerhaft. Lebenszyklusanalysen bedingen eine neue Sichtweise, die weit 4

über die zu Beginn anfallenden Investitionskosten hinausgeht, die in einer langfristigen Perspektive ohnehin an Bedeutung verlieren. Graue Energie, recyclebare Materialien und Rückbaumöglichkeiten werden wichtig. Das vorliegende Buch, herausgegeben von Marie Antoinette Glaser und dem ETH Wohnforum – ETH CASE, erweitert die gegenwärtige, oft technisch und ökonomisch fokussierte Diskussion der baulichen Nachhaltigkeit um die Begriffe der Langfristigkeit, Vielschichtigkeit, Reparaturfähigkeit, Einfachheit, Eleganz, Solidität. Hausbiografien – Geschichten von Häusern im Lauf der Zeit – assoziieren wir wohl zuerst mit der Denkmalpflege. Ihr Auftrag ist es, Zeitzeugen zu erhalten, die Vergangenheit im städtischen Kontext ablesbar zu machen sowie sanfte Renovationen und Restaurationen zu fordern und zu fördern. Ironischerweise ist es nun ein Buch wie das vorliegende zu den Geschichten von Wohnsiedlungen aus unterschiedlichen Zeitepochen des letzten Jahrhunderts, das zum Nachdenken über die eingangs erwähnten aktuellen Fragen anregen kann. Es möchte weit breitere Kreise als historisch und städtebaulich Interessierte ansprechen. Vergangenheit hat Zukunft. Mit dem mehrdimensionalen Zugang ist es dem Forschungsteam gelungen, einen einzigartigen und umfassenden Methodenmix zu entwickeln, welcher der Vielschichtigkeit und der kulturellen und sozialen Bedingtheit der Untersuchungsobjekte auf die Spur kommt. Zusätzlich zu historischen, ethnografischen und architektonischen Zugangsinstrumenten schliessen die Erkenntnisse auch ökonomische Überlegungen mit ein, die sowohl für Wohnbauträger als auch für die Bewohner-


schaft zentral sind. Die hier dargestellten Beschreibungen und Erkenntnisse aus den Geschichten der vier ausgewählten Wohnsiedlungen und ihrer Bewohnerschaft werden zudem in begleitenden Videodokumentationen zum Leben erweckt. www.hausbiografien.arch.ethz.ch Hausbiografien prägen das Gesicht unserer Städte und deren Qualitäten. Sie sind eng mit den Lebensgeschichten ihrer Bewohnerinnen und Bewohner verknüpft. Weit über aktuelle Trends und favorisierte Lebensstile hinaus verweisen sie auf das gute Wohnen in all seinen Facetten grundlegender menschlicher Bedürfnisse. Die vielfältige Forschungsarbeit des 1990 gegründeten ETH Wohnforum, das sich mit Fragen von Wohnraumentwicklung und Innovationen, mit Wohnqualitäten aus Sicht verschiedener Nutzergruppen und Akteure im Wohnungsbau beschäftigt, wird durch den Perspektivenwechsel des vorliegenden Buchs bereichert. Die überdauernden Qualitäten der beschriebenen Wohnsiedlungen sind nicht nur aus städtebaulich-architektonischer und historisch-kultureller Sicht und damit letztlich aus der unmittelbaren Lebenssituation ihrer Bewohnerinnen und Bewohner von Bedeutung. Eine sozialpolitisch zunehmend wichtige Herausforderung für Zürich, andere Städte, Agglomerationen und Gemeinden der Schweiz wird es sein, zukunftsfähigen Wohnraum für verschiedene Bevölkerungsgruppen zur Verfügung zu stellen. Dies gilt – vor dem Hintergrund knapper werdender Landressourcen und engerer Lebensräume im Kontext zunehmender Urbanisierungsprozesse – weit über die Grenzen hinaus. Margrit Hugentobler, Leitung ETH Wohnforum – ETH CASE

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Siedlungs端bersicht Auswahl

G3

G4

G1

P3

K2

G5 K1

K4

G2 K5 P4

P1

P2

K3

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Kommunal 1900–1919

K1 Zurlinden 1918 / 1919 (Sihlfeld, Kreis 3)

1920 – 1949

K2 Erismannhof 1926 / 1927 (Aussersihl, Kreis 4)

1950 –1959

K3 Manegg 1954 / 1955 (Manegg, Kreis 2)

1960 –1979

K4 Lochergut 1963 –1966 (Aussersihl, Kreis 4)

1980 –2000

K5 Selnau 1993–1995 (City, Kreis 1)

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Genossenschaftlich 1900–1919

G1 Industrie I 1913–1915 (Gewerbeschule, Kreis 5)

1920 – 1949

G2 Zurlindenstrasse 1931/ 1932 (Sihlfeld, Kreis 3)

1950–1959

G3 Waidfussweg, Etappe II 1950/1951 (Wipkingen, Kreis 10)

1960 –1979

G4 Grünau 1975 / 1976 (Altstetten, Kreis 9)

1980–2000

G5 Brahmshof 1989–1991 (Sihlfeld, Kreis 3)

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Privat 1900–1919

P1 Mittelstrasse 1907 (Riesbach, Kreis 8)

1920 –1949

P2 Engepark 1942 (Enge, Kreis 2)

1950–1959

P3 Hochhäuser Heiligfeld 1950 –1952 (Sihlfeld, Kreis 3)

1960 –1979

P4 Wettingerwies 1977/ 1978 (Hochschulen, Kreis 1)

Alle Wohnungsgrundrisse sind im Massstab 1:500 abgebildet.

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Gutes Wohnen hat Bestand — Hausbiografien beschreiben Karrieren dauerhafter Wohnbauten

Das Dauerhafte scheint dem Charakter der modernen Stadt zu widersprechen. Die Stadt in der Spätmoderne ist dynamisch, ständig in Bewegung und in Veränderung. Viele Städte funktionieren getreu dem Motto: Was wir heute bauen, wird morgen abgetragen.1 Mittlerweile werden Gebäude in der Schweiz nach dreissig Jahren abgeschrieben,2 weshalb sollte man vor diesem Hintergrund heute das Dauerhafte, also die Langlebigkeit in der Architektur studieren? Hatten Architekten in den Dreissigerjahren noch beklagt, der Baubestand sei «zu alt, zu wertvoll, zu solide, um grosse Neubaumassnahmen zu erlauben», so ist der heutige Baubestand «zu jung, zu schlecht, zu gross, zu teuer im Unterhalt» 3. Die bebaute Fläche hat sich nach 1945 verdoppelt und die grossen Baubestände aus den Boomjahren der Nachkriegszeit befinden sich in den ersten Erneuerungsphasen und verlangen nach einem neuen Umgang. Ihr Bauschutt kann nicht mehr ohne Schwierigkeiten deponiert werden. Die Haltbarkeit der Bauten ist zurückgegangen, die problematischen Müllmengen steigen und die Kosten des Unterhalts sind finanziell belastend.4 Dieses Problem wird durch eine Politik des Ersatzes durch Neubau nicht zu lösen sein, auch wenn dabei eine ökologische Bauweise angestrebt wird. Noch immer verbraucht die Errichtung von Hochbauten mit vierzig Prozent 5 den Löwenanteil der Ressourcen weltweit: Die Anzahl der Neubauten kann nicht auf dem hohen Niveau gehalten werden 6 – eine kluge Ressourcennutzung für das Bauwesen 10

muss auch beim vorhandenen Baubestand und seiner langfristigen Nutzung ansetzen.7 Gleichzeitig bestimmen die gesellschaftlichen Entwicklungen die wirkenden Kräfte im Wohnungsbau mit. Der fortschreitende gesellschaftliche Wandel bringt eine zunehmende Ausdifferenzierung der Lebensstile und sozialen Milieus mit sich: Die Formen des Zusammenlebens verändern sich,8 im Bereich des Wohnens wandeln sich die Bedürfnisse und Anforderungen.9 Nach drei Jahrzehnten Bevölkerungsrückgang verzeichnen die meisten Schweizer Städte erneut ein demografisches Wachstum, denn das Wohnen in der Stadt hat bei mittleren und höheren Einkommensschichten an Attraktivität gewonnen. Die Städte bemühen sich, Wohnungen mit hohem Komfort, einer angenehmen Nähe zum Arbeitsplatz und zur städtischen Infrastruktur sowie ein vielfältiges kulturelles Angebot bereitzustellen.10 Für einen reflektierten und zukunftsorientierten Wohnungsbau in den Städten stellt dies eine grosse Herausforderung dar, da die Wohnungsmärkte in den Städten, in der Schweiz insbesondere in Zürich und Genf, ohnehin schon überhitzt sind. Um Wohnqualität langfristig zu sichern, wird es daher zur zentralen Aufgabe des Wohnungsbaus, nach dauerhaften baulichen Lösungen zu suchen, die diesen individuell und gesellschaftlich variierenden Wohnansprüchen in Zukunft gerecht werden können.11 Dies wird nur möglich, wenn dem Grundsatz der Nachhaltigkeit entsprochen wird, was bedeutet, eine Verträglichkeit in der ökologischen, wirtschaftlichen,


kulturellen und sozialen Dimension anzustreben, die auf Langfristigkeit angelegt ist. 12 Die Erhaltung und die Weitergabe von Ressourcen, von Grundlagen sowie Errungenschaften an die nachfolgende Generation ist ein ernst zu nehmendes Leitziel dieser Haltung. Daher ist es wichtig, neue Erkenntnisse zu den Aspekten des Dauerhaften in der Architektur zu gewinnen. Im Wohnungsbau wirken im Gegensatz zu anderer Architektur höchste Beharrungskräfte. Die Verankerung in einer regional tradierten Systematik sowie die Abhängigkeit von der Akzeptanz der Nutzerinnen und Nutzer, die wiederum von Konventionen und Werten geprägt sind, ist hoch.13 Das vorliegende Buch untersucht die Dauerhaftigkeit im Wohnungsbau, indem es Zürcher Wohnbauten porträtiert, die sich über die Jahre hinweg als Orte des guten Wohnens bewährt haben. Die Hausbiografien analysieren die ursprünglichen Absichten und architektonischen sowie organisatorischen Konzepte der Wohnsiedlungen seit ihrer Entstehung. Vom «guten Wohnen» sprechen wir hier, weil sie bis heute aufgrund spezifischer Qualitäten und dem Handeln von Verwaltungen, der Bewohnerschaft und der Öffentlichkeit geschätzt werden. Die vorgestellten Siedlungen stehen alle für ein Wohnmodell, einen Typ beziehungsweise für eine Vorstellung vom guten Wohnen, wie sie sich zur Zeit ihrer Errichtung entwickelt hat: der Blockrandbau mit Hof in den Zwanzigerjahren, das frühe Hochhaus in den Fünfzigern oder die Grosssiedlung der Sechziger- und Siebzigerjahre. Die Hypothese zur Untersuchung lautet, dass gerade genossenschaftliche oder kommunale Bauträger grosses Interesse an Langfristigkeit der Investition und Dauerhaftigkeit der Wohnbauten besitzen, da sie stets unter Einsatz von beschränkten Mitteln ein Höchstmass an bezahlbarer Qualität auf eine lange

Nutzungsperiode hin anstrebten und diese Haltung nicht geändert haben. Die Beispiele, die dieser Band versammelt, zeigen Zürcher Wohnbauten, da es hier eine lange Tradition des genossenschaftlichen Wohnens gibt, und die Stadt selbst bis heute immer wieder als Bauherrin auftrat, um sozial verträglichen Wohnungsbau von hoher Qualität zu errichten. Die Erkenntnisse aus den Zürcher Hausbiografien sind nichtsdestotrotz ebenso für andere Kontexte relevant, geht es doch um die Darstellung von Qualitätskonzepten des Wohnens in ihrer langjährigen Entwicklung. Für heutige Überlegungen und Diskussionen zum guten Wohnen sollen diese Beispiele zeigen, wie sich welches Konzept und welche Siedlung bewährt hat und welche Potenziale und Schwierigkeiten sie aufweisen. Gleichzeitig erzählen sie ein Stück der reichen Wohnund Architekturgeschichte Zürichs im letzten Jahrhundert. Die Hausbiografien sind dabei keine klassischen chronologisch erzählten Geschichten von Häusern. Sie sind vielmehr Narrationen, die aus einer Vielzahl an Quellen aus Archiven und Interviews entstanden sind. Im Besonderen fragen sie nach dem Raumgefüge und seinen spezifischen Eigenheiten, nach seiner Nutzung und Bedeutung.14 Die ausgewählten Siedlungen wurden im Rahmen des dreijährigen Forschungsprojekts am ETH Wohnforum – ETH CASE «Zur Karriere des Dauerhaften. Hausbiografien wertgeschätzter Wohnbauten aus den Jahren 1900 bis zur Gegenwart», das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziell gefördert und von der Liegenschaftenverwaltung der Stadt Zürich mitunterstützt wurde, untersucht. Das Interesse lag dabei auf dem Wandel der unterschiedlichen Qualitätskonzepte. Was war das ursprüngliche Konzept? Was wurde gebaut? Wann wurde baulich verändert? Welche Unterhalts- und Sanierungsstrategien wurden 11


bzw. werden verfolgt? Wie beurteil(t)en die Bewohnerinnen und Bewohner das Wohnen in ihrer Siedlung? Welches Bild und welche Bedeutung besitzt die Siedlung in der Öffentlichkeit – und wie wirkt dies auf Siedlung und Bewohnerschaft zurück? Eine der Ausgangshypothesen lautete, dass sich eine Siedlung dann langfristig bewähren kann, wenn sowohl materielle Eigenschaften als auch die Praktiken des Umgangs, das sind die vielfältigen professionellen sowie alltäglichen Handlungen im Wahrnehmen, im Wohnen, beim Unterhalten und Verwalten mit ihr, zusammenwirken. Solidität, Anpassbarkeit des Materiellen sowie eine geeignete Unterhaltsstrategie und Vermietungs- bzw. Verwaltungspraxis tragen massgeblich zum guten Wohnen bei.15 Generell wird davon ausgegangen, gut und dauerhaft könne nur das Teure sein, hohe Erstellungskosten und finanzielle Aufwände, die durch Materialwahl und beispielsweise den Einsatz von handwerklicher Qualität entstehen, können nur von potenten Investoren an guten Lagen getragen werden. Beispiele dieser Art Bauten finden sich denn auch in allen Städten; meistens stammen sie aus der Gründerzeit und befinden sich an vorzüglicher Lage. Dies galt es hier zu hinterfragen. Im Mittelpunkt des Interesses stehen nicht unbedingt spektakuläre Gebäude; wir gehen davon aus, dass wertgeschätzte Wohnbauten, die in ihrer Zeit mit unterschiedlich hohem Mitteleinsatz erstellt wurden, neue Aufschlüsse über die Dauerhaftigkeit und die sie konstituierenden Qualitäten geben können. Daher liegt der Fokus der Arbeit insbesondere auf der «Alltagsarchitektur» im Wohnungsbau, dem anonym rezipierten städtischen Hausbestand.16 Wohnungsbau ist geprägt von den Anforderungen der Brauchbarkeit über lange Jahre, über zwei Generationen hinweg, 12

schrieb der Schweizer Architekt Michael Alder, der von der verschiedenen Nutzung spricht: «Wenn man ein Haus baut, ist der Auftraggeber der erste Bewohner; vielleicht nach 20 Jahren leben andere Leute darin. Wenn ich ein Haus entwerfe, gehe ich heute von Räumen aus, die ich nicht genauer bestimme; sie können verschieden genutzt werden, und was sie sind, entscheidet sich durch das, was die Bewohner mit ihnen machen.» 17 Grundlagenwissen über die Langlebigkeit von materiell konstruktiven Komponenten im Bau ist bereits vorhanden.18 Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit dem gebauten Raum fehlen dagegen fundierte Studien. Es ist wenig darüber bekannt, wie Bewohnerinnen und Bewohner ein Haus im Laufe seines Lebenszyklus nutzen und beurteilen, und wenige wissen, wie die Eigentümer mit lange bestehenden Liegenschaften umgehen. Dies obwohl bekannt ist, dass der Umgang mit den Gebäuden zu deren Langlebigkeit entscheidend beiträgt. 19 Sich davon ein Bild zu machen, ist für Architektinnen und Architekten meist schwer. Sie verlassen das fertiggestellte, noch unbenutzte Gebäude, bevor die ersten Bewohner einziehen und kehren meist nicht mehr zurück. Um Kenntnis davon zu haben, ob Wohnbauten gut funktionieren, gilt es sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen. Das Gespräch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern ist wichtig, denn sie wissen am besten Bescheid darüber, ob ein Haus langfristig wohntauglich ist – oder nicht. Ebenso verfügen die Verwaltung und die Hauseigentümerschaft über wichtige Kenntnisse bezüglich des Potenzials zur Dauerhaftigkeit eines Wohnhauses, sie sind die Experten, wenn es um die Unterhaltung und Pflege geht. Sie alle gestalten die Geschichte vom guten Wohnen mit. Ihr Wissen und Handeln ist über die Zeit hinweg in das


Haus eingeschrieben. Um neue Erkenntnisse über Qualitäten und Schwierigkeiten lange bestehender Wohnbauten zu gewinnen, erweitert der Hausbiografie-Ansatz die zumeist konstruktiv-technisch orientierte Forschungsperspektive im Wohnungsbau um eine kulturhistorische Perspektive. Für diese fundierte Zusammenschau führte ein Team von Architekten, Kultur- und Geschichtswissenschaftlern diese Studie durch. Dieser am ETH Wohnforum entwickelte fächerübergreifende Forschungszugang ermöglichte es, die zahlreichen Eigenschaften und Bedingungen der unterschiedlichen Qualitätskonzepte zu beschreiben, die an der über Generationen hinweg andauernden Wertschätzung von Wohnbauten beteiligt sind. Über Dauerhaftigkeit nachzudenken heisst demzufolge, aus der Gegenwart heraus Rückschau zu halten, ohne im Vergangenen verhaftet zu bleiben. Dauerhaftigkeit ist auch kein Wert per se, sondern muss reflektiert werden. Sonst entsteht entweder unkritische Zerstörung oder unkritische Erhaltung,20 denn Dauerhaftigkeit kann auch zum Hindernis in der Stadtentwicklung und -verdichtung werden.21 Von der Dauerhaftigkeit

Waren im 19. Jahrhundert noch die vitruvianischen Kategorien von Schönheit, Angemessenheit und Solidität präsent und damit die langen und langsamen Prozesse des Entstehens, des Gebrauchs und des Verschwindens von Gebäuden, so wurde im 20. Jahrhundert der Anspruch auf Dauer der Artefakte durch die Idee zeitloser Ästhetik ersetzt, die Teil der Hoffnung auf Reform aller Lebensbereiche durch gute Gestaltung war. Für Gebäude wurde der schnelle Ersatz verlangt, im Wortlaut der Futuristen hiess das: «Jeder Generation ihr Haus.» 22 Die Ideale der Moderne in den Zwanziger- und Dreissigerjahren von

der autogerechten, aufgelockerten Stadt, der Funktionstrennung und der industrialisierten Bauproduktion wurden in der Nachkriegszeit weitergeführt. Ein Leitbild wurde allerdings gründlich aus der Diskussion verbannt: der Ewigkeitsanspruch. Objekte, die trotzdem überdauerten, wurden zu Baudenkmälern mit der neuen Funktion, «Festpunkte der Erinnerung im Meer des Flüchtigen» 23 zu sein. Für den Architekten Aldo Rossi, ein wichtiger und den Diskurs prägender Theoretiker für die Sechzigerjahre,24 findet die Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit ihren «dauerhafteren Ausdruck in den Baudenkmälern einer Stadt. Als primäre Elemente der Stadtarchitektur sind sie Zeichen des Kollektiv willens und stellen als solche Fixpunkte in der städtebaulichen Dynamik dar.» 25 Rossi stellt fest, dass die Dynamik einer Stadt «eher zur Weiterentwicklung als zur Erhaltung tendiert; dass die Baudenkmäler aber im Zuge dieser Entwicklung […] erhalten bleiben und sich sogar stimulierend auf die Entwicklung auswirken.» 26 Er entwickelt eine Theorie der Permanenz, die Baudenkmäler zum Gegenstand hat: zum Beispiel der Palazzo della Ragione aus Padua, der «eine sichtbare Gestalt der Vergangenheit» hat, jedoch seine Funktion änderte und «dadurch lebendig geblieben» ist. Permanenz definiert Rossi als eine überdauernde Form der Vergangenheit im positiven Sinn, weil sie eben diese Vergangenheit noch heute erfahrbar mache. Sie unterscheide sich so von «Isoliertem und Deplaciertem» 27. Die Wohnbauten dagegen beschreibt Rossi als dauernd in Veränderung befindliche Zeichen des Alltagslebens und als Ausdruck städtebaulicher Dynamik.28 Er nahm den Wohnungsbau von seiner «Theorie der Permanenz» aus und befand, dass die «Konservierung» von Wohngebieten etwa einem dynamischen Entwicklungsprozess einer Stadt widerspreche. 29 13








Indikatoren für Dauerhaftigkeit

Erstellungskonzept (Perspektive Eigentümerin)

Gebrauchsgeschichte und Wertschätzung (Perspektive Eigentümerin)

Gebrauchsgeschichte und Wertschätzung (Perspektive Bewohnerschaft)

Öffentliche Wahrnehmung


Umgebung

Anlage bis zur

Haus

und Umfeld

Grundstücksgrenze

und Wohnung

sehr geräumig

bedürfnisorientiert

nahe des Arbeitsortes

hoher Ausbaustandard

solide Bausubstanz

besondere Ausstattung bescheidene Mietzinse

genossenschaftlich

attraktiver Standort

Langzeitplanung

laufende Instandhaltung

neuartige Sanierungskonzepte neue ursprüngliche Farbigkeit

Bauen für spezifische Bedürfnisse

pflegeleichte Materialien

bewährte Struktur

Transformation und Akzentuierung von Qualitäten Altbauatmosphäre mit Neubaukomfort

exklusive Vermietung für Familien

variable Vermietungspraxis zeitspezifische Vermietung

Zugehörigkeitsempfinden

tiefe Mietzinse

geräumig

innere Verschränktheit Verbundenheit mit dem Quartier

Zirkulationsmöglichkeiten

besonderer Innenhof: Kinderraum – Resonanzkörper

sorgfältiger Umgang

städtebauliche Relevanz gestalterische Qualitäten

stille Referenz

Wertschätzung des Altbaus


Der Pionierbau — Die Kolonie Industrie I (1915) Ortsbegehung

Rön

verschwinden. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. Es ist ruhig hier, wenn nicht immer wieder von den nahe gelegenen Rö Eisenbahngleisen der Lärm der Züge nt ge np la herübergetragen würde. tz Vom Gehsteig aus können vorbeispazierende Passanten nicht direkt an die Hausmauer der Industrie I herantreten. Zwischen Haus und Trottoir liegt ein einige Meter breiter Vorgarten mit Kiesbelag, der von einer niedrigen Mauer und einem brusthohen, überwachsenen Metallgerüst begrenzt wird. Nur bei den vier Eingangsbereichen des Hauses ist die Absperrung unterbrochen. Ausser am Morgen, Situation Abb. 1 wenn die Sonne an die Hauswand scheint und bunte Bettdecken zu sehen Die Kolonie Industrie I ist keine auffällige sind, die zum Lüften herausgehängt wurden, Erscheinung. Es kann leicht geschehen, dass gibt das Gebäude nichts von seinen Bewohman an ihr vorübergeht, ohne sie zu bemer- nerinnen und Bewohnern preis. Es erscheint ken. Denn die Raumsituation bewegt einen anonym – und doch nicht abweisend. Dafür eher zum Weitergehen als zum Stehenblei- sorgen die einladenden Eingangstüren aus ben: Die Röntgenstrasse, an der das Haus massivem Holz und die ansprechende, frisch liegt, führt in einer langen Krümmung quer gestrichene Fassade. Die Fassade ist in fein durch das rechtwinklige Strassenraster des abgestimmter, ockergelber Farbe gehalten, Blockrandgevierts und zieht einen auf ihrer das Sockelgeschoss um Nuancen dunkler stetigen Bahn mit sich. Das Gebäude der als die Obergeschosse. Über den mittleren Industrie I nimmt diese Dynamik auf. Seine beiden Hauseingängen und an den GebäudeLängsflucht ist konkav geschwungen und folgt ecken sind hellgraue Putzvignetten aufgetrader Biegung der Strasse. Im Sommer ist ein gen worden, die mit ihrer einfachen S-Form Spaziergang auf der Röntgenstrasse wie ein wie nachträglich aufgeklebte Zuckerbilder Gehen durch eine grüne hohle Gasse. Das aussehen. Darüber ragen markante Dreiecksdichte Blätterdach der Bäume lässt die obe- giebel mit kleinen Bogenfenstern hinaus, die ren Stockwerke der Häuser aus dem Blickfeld zum Dachgeschoss gehören. Dieses ist durch tgen

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das hervortretende Ziegeldach deutlich von den unteren vier Geschossen abgesetzt und liegt auf ihnen wie ein behäbiger, freundlicher Hut. Das Gebäude der Industrie I endet am Röntgenplatz. Hier fliesst die Röntgenstrasse in eine weite Platzfläche über, auf die weitere Quartierstrassen sternförmig zulaufen. Rund um den Platz stehen Wohnbauten, die in ihrer Erscheinung der Industrie I ähneln, ausser dass ihre einst farbigen Fassaden matt und schmutzig geworden sind. Ihre Längsseiten laufen den wegführenden Strassenfluchten entlang und die angeschnittenen Ecken bilden die Arena des Röntgenplatzes. Der Platz selbst ist autofrei und schafft für die Fussgänger eine sichere Verbindungsebene zwischen den einzelnen Teilen des Quartiers. Seine Fläche befindet sich auf gleich hohem Niveau wie das Trottoir und bildet so zwischen den Wohnhäusern und dem Platz eine fliessende Verbindung, die die Boden- und Fassadenflächen als zusammengehöriges Raumensemble erscheinen lässt. Auf dem Röntgenplatz kommen täglich Leute aus dem Quartier zusammen: Jugendliche ebenso wie ältere Menschen lassen sich für einen Schwatz auf einer der zahlreichen Bänke nieder und die Kinder treffen sich zum Spielen. Direkt am Platz gibt es auch einen kleinen Lebensmittelladen für den täglichen Bedarf. Weitere Ladenlokale befinden sich rechts der Röntgenstrasse, Richtung Langstrasse, wo eine heterogene Hofrandstruktur mit drei- bis viergeschossigen Häusern beginnt. Die Industrie I hat ihre Nordseite dem Platz zugewendet, wo zwei weitere Hauseingänge liegen. Derjenige gegen das angrenzende Gebäude des Blockrandgevierts verfügt über ein klotziges, steinernes Eingangsportal mit Dreiecksgiebel, als ob er überdeutlich das Ende der Industrie I markieren müsste. Zwi-

schen den beiden Hauseingängen befindet sich ein geschlossenes hohes Metallgittertor zum Innenhof. Zwar zieht sich der Trottoirraum schwellenlos in den breiten Tordurchgang hinein und das Tor ist tagsüber oft nicht verriegelt, doch markiert das grosse Gitter deutlich Privatheit. Auf dem Hartbetonbelag, der sich als breite Strasse in den Hofraum hineinzieht, liegt ein Skateboard. Weiter in den Hofraum zu fahren, ist nicht möglich, denn der Belag endet an der in Grüntönen bemalten Wand. Sie gehört zu einem eingeschossigen Innenhofgebäude, das den Hofbereich der Industrie I deutlich von den Hofteilen der anderen zum Blockrandbau gehörigen Wohnbauten abtrennt. Im Gegensatz zur Strassenseite erscheint die Hofseite der Industrie I lebendig und bunt und sie gewährt nun auch Einblick, wie ihre Bewohnerinnen und Bewohner leben. Als erstes fallen einem die vier voluminösen Balkontürme auf – vor der Hauswand stapeln sich vier Stockwerke hoch Balkone, die einer Betonscheibe angehängt sind. Sie sehen wie Flugzeugtreppen aus, die an die Hoffassade herangeschoben wurden. Auf Dachhöhe sind zwischen den Giebeln der Treppenhäuser anstelle der Balkone kleine Dachterrassen eingelassen. Die Balkone sind gross bemessen, sodass die gelbe Hausfassade fast hinter ihnen verschwindet: Mit ihren Dacheinschnitten, Gauben, Vordächern und Fenstervarianten ist sie viel verspielter gestaltet als die Seite zur Strasse hin. Die Balkone wirken trotz ihrer Grösse leicht, denn die Platten sind bei dreien der Türme geschossweise gegeneinander versetzt aufeinandergestapelt und die dem Hof zugewandten Balkonbrüstungen sind jeweils aus schwarzen, filigranen Eisenstäben gefertigt. Mit Gartenmöbeln, grossen Grünpflanzen, Sonnenschirmen und 55






Dank Wir danken folgenden Personen und Institutionen für Ihre Unterstützung des Forschungsprojekts und der nun vorliegenden Publikation: Dietmar Eberle, Susanne Gysi, Alexander Henz, Lydia Trüb, Nora de Baan, Claudia Mühlebach, Beat Salzmann, Dieter Jenny, Urs Baumann, Lotti Crüzer, FriedrichWilhelm Graf, Piero Glina, dem Departement Architektur der ETH Zürich, der Liegenschaftenverwaltung der Stadt Zürich, der Hochhaus und Immobilien AG Zürich, der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals Zürich, der Gemeinnützigen Baugenossenschaft Röntgenhof Zürich, dem Amt für Städtebau der Stadt Zürich, den Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, allen Bewohnerinnen und Bewohnern der vier untersuchten Siedlungen sowie allen, die zum guten Gelingen des Buches beigetragen haben. Die Wohnbauträger unterstützten diese Publikation durch das Gewähren der Einsichtnahme in die Archive und die Bereitstellung der benötigten Daten, Materialien und Informationen. Zahlreiche weitere Bildgeber stellten Bildmaterial zur Verfügung. Wir danken für die gute Zusammenarbeit. Für die freundliche Unterstützung bei der Drucklegung danken wir der Ernst Göhner Stiftung, der Paul Schiller Stiftung, der Hochhaus und Immobilien AG Zürich, der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals Zürich, dem Amt für Städtebau der Stadt Zürich, der Gemeinnützigen Baugenossenschaft Röntgenhof Zürich.

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Impressum Herausgeber

Marie Antoinette Glaser und ETH Wohnforum – ETH CASE Centre for Research on Architecture, Society & the Built Environment Konzept, Bearbeitung, Redaktion

Fotografien

Eigens für diesen Band fotografierte Peter Hauser die vier Siedlungen im Jahr 2013 Foto Umschlag

Ingeborg Heise, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich (112/10)

Marie Antoinette Glaser, ETH Wohnforum – ETH CASE Abbildungsredaktion

Eveline Althaus Recherche Abbildungsrechte

Samuel Aebersold

© 2013 by Niggli Verlag, Sulgen, www.niggli.ch, sowie den Herausgebern, Autoren und Fotografen.

Lektorat, Korrektorat

Kerstin Forster Gestaltung und Satz

unfolded (Piero Glina und Friedrich-Wilhelm Graf), Zürich Lithografie und Druck

Die Autoren und der Verlag haben sich bemüht, alle Inhaber von Urheberrechten ausfindig zu machen. Sollten dabei Fehler unterlaufen sein, werden diese bei entsprechender Benachrichtigung in den nachfolgenden Auflagen korrigiert und ergänzt.

Heer Druck AG, Sulgen ISBN 978-3-7212-0867-2 Buchbinderei

Schumacher AG, Schmitten Papier

Daunendruck Natural, 120 g/m2 Schriften

Bau, Typ 1451

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