30 APRIL & 01 MAI 2024
MILO RAU . HÈCTOR PARRA . TONKÜNSTLERORCHESTER JUSTICE
„Kabwe ist wie eine Metapher, eine allegorische Geschichte, die uns von einem ontologischen Ungleichgewicht erzählt, in dem selbst die Toten nicht mehr zueinander finden.“
MILO RAU
MILO RAU . HÈCTOR PARRA .
TONKÜNSTLERORCHESTER JUSTICE
di 30/04
20.00 Uhr
Großer Saal
Festspielhaus St. Pölten
Intro JUSTICE – Ein Tribunal, eine Oper, eine Kampagne mit Milo Rau, Gästen und Betroffenen
18.45 Uhr, Kleiner Saal
mi 01/05
19.30 Uhr
Großer Saal
Festspielhaus St. Pölten
Einführung mit Bettina Masuch
18.30 Uhr, Kleiner Saal
ÖSTERREICH-PREMIERE FESTSPIELHAUS-KOPRODUKTION
Dauer: ca. 1 Std. 45 min (keine Pause)
Künstlerische Leiterin Festspielhaus St. Pölten: Bettina Masuch
MILO RAU . HÈCTOR PARRA . TONKÜNSTLERORCHESTER JUSTICE
Eine Oper in fünf Akten, gesungen in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln.
REGIE Milo Rau
KOMPOSITION Hèctor Parra
MUSIKALISCHE LEITUNG Titus Engel
LIBRETTO Fiston Mwanza Mujila
BÜHNE Anton Lukas
KOSTÜME Cédrik Mpaka
LICHTDESIGN Jürgen Kolb
DRAMATURGIE Giacomo Bisordi, Clara Pons
VIDEOS Moritz von Dungern
DER CEO Peter Tantsits Tenor
DIE FRAU DES CEO Idunnu Münch Mezzosopran
DER FAHRER Katarina Bradić Mezzosopran
DER PRIESTER Willard White Bassbariton
DER JUNGE PRIESTER Simon Shibambu Bassbariton
DER JUNGE, DER SEINE BEINE VERLOR Serge Kakudji
Countertenor
DIE MUTTER DES TOTEN KINDES / DAS TOTE KIND
Cyrielle Ndjiki Nya Sopran
DIE ANWÄLTIN Lauren Michelle Sopran
DER LIBRETTIST Fiston Mwanza Mujila
OPFER Joseph Kumbela, Pauline Lau Solo
STATIST:INNEN Lukmon Emmanuel Adeshina, Al
Karimou Thiam, Papa Sanor Diop, Rainer Fitz, Christian Madubuike, Salif Ousman, Yves Jambo, Ginette Mazamay Mohra-Eze, Keren Mohra-Eze, Tricia Mohra-Eze, James Mohra-Eze, Lukebuka Nlandu
Programm und Besetzung 4
UNFALLÜBERLEBENDE IN DER VIDEOPROJEKTION
Milambo Kayamba, Théophista Kazadi Kabwe, Charles Mambwe Kasambi, Yowali Binti
CHOR DES GRAND THÉÂTRE DE GENÈVE
Sopran Nicola Hollyman, Iana Iliev Mayako Ito, Victoria Martynenko, Martina Möller-Gosoge, Cristiana Presutti, Anna Samokhina, Iulia Surdu
Alt Elise Bédènes, Audrey Burgener, Magali Duceau, Varduhi Khachatryan, Mi Young Kim, Céline Kot, Vanessa Laterza, Mariana Vassileva-Chaveeva
Tenor Jaime Caicompai, Sanghun Lee, Marin
Yonchev, Terige Sirolli, Georgi Sredkov, Bisser Terziyski, David Webb, Louis Zaitoun
Bass Romaric Braun, Phillip Casperd, Seongho
Han, Rodrigo García, Igor Gnidii, Vladimir Kazakov, Sebastià Peris, Dimitri Tikhonov
CHORLEITUNG Mark Biggins
ORCHESTER Tonkünstler-Orchester
Niederösterreich
E-GITARRE Kojack Kossakamvwe
Premiere 22. Jänner 2024, Grand Théâtre de Genève
Eine Produktion des Grand Théâtre de Genève in Koproduktion mit dem Festspielhaus St. Pölten und der Tangente St. Pölten - Festival für Gegenwartskultur. Mit freundlicher Genehmigung von UNIVERSAL EDITION AG, Wien, www.universaledition.com, in Vertretung von Editions
Durand-Salabert-Eschig, Paris.
Programm und Besetzung 5
DAS UNSAGBARE
AUSSPRECHEN
Milo Rau und Fiston Mwanza Mujila im Gespräch mit Clara Pons
Milo Rau, wie hat für Sie das Abenteuer von JUSTICE angefangen? Und für Sie, Fiston Mwanza Mujila, wie ist diese Oper Ihr Libretto und auch Ihre Geschichte geworden?
MR: Nach La Clemenza die Tito in Genf denke ich, dass Aviel Cahn (Anm. d. Red.: Intendant des Grand Théâtre de Genève) gespürt hat, dass ich über etwas Aktuelles und Politisches sprechen möchte. Der erste Vorschlag war, sich mit der Gründung des Roten Kreuzes und der Figur Henri Dunants zu beschäftigen. Das Rote Kreuz, die Mutter aller NGOs, erschien mir aber wenig konkret und ein wenig zu historisch. In Anbetracht des Kongo-Tribunals, an dem ich seit Jahren arbeite, gab es hier einen Fall, der mich wirklich beeindruckt hat und der in seiner Einzigartigkeit etwas Universales hatte. Allerdings konnte ich den Fall des Kabwe-Unfalls nicht alleine angehen. Ich rief also Fiston an, den ich gerade in Berlin nach einer Filmvorführung des Kongo-Tribunals kennengelernt hatte.
FMM: Ich bin jemand, der sehr abergläubisch ist. Als mich Milo für dieses Projekt kontaktierte, sagte ich mir, dass es wohl „Baraka“ (arab. für „Glück“, „Segen“) war. Zum einen, weil ich aus Lubumbashi komme, aus Katanga. Und zweitens, weil Kongolesisch zu sein heutzutage bedeutet, in einem stetigen Trauma zu existieren. Es gibt unglaublich viele Ereignisse und Gewaltkreisläufe, die noch hörbar sind. Es wird keine Erinnerungs-
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Gespräch
arbeit geleistet. Es gibt keine Trauer über die koloniale Gewalt, die Jahrzehnte der Diktatur Mobutus oder die vielen sogenannten Befreiungskriege. Gewalt ist Teil unserer inneren Landschaft. Wir haben sie geerbt, sie hat unsere Kindheit geprägt, und diejenigen meiner Generation sind dabei, sie an ihre Nachkommen weiterzugeben. All diese Zyklen der Gewalt sind finanzieller Natur. Der Wurm ist in der Frucht. Der Kongo wurde für wirtschaftliche Zwecke geschaffen, erfunden und erdacht. Bis heute haben die Befreiungskriege, Rebellionen, der illegale Handel und die exogenen Destabilisierungen ihren Keim im Geld.
Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der die Literatur mit der Realität verschmilzt. Ich bin wahrscheinlich gegen meinen Willen Schriftsteller geworden. Als Milo mir vorschlug, mich dem Team anzuschließen, habe ich das sehr geschätzt. Das Schreiben eines Librettos über den Kongo gab mir die Möglichkeit, mit einer gewissen Authentizität neu zu verhandeln. Ich schreibe Romane und Gedichte, und ich schreibe für das Theater, aber hier musste die Literatur oder Kunst den faktischen Elementen gehorchen: dem Unfall und seinen unerhörten Folgen. Es galt, die richtigen Worte zu finden. Die Herausforderung bestand darin, die Aufrichtigkeit mit Anstand gegenüber den Opfern zu verbinden.
Gleichzeitig war JUSTICE für mich eine Offenbarung – einer Wahrheit, die in meinem Unterbewusstsein ver-
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graben war. Als ich nach der Sprache und den Worten für dieses Libretto suchte, wurde mir bewusst, wie sehr auch ich, wie andere Kongoles:innen, ein kollaterales oder entferntes Opfer dieser langen und düsteren Jahre der politischen Instabilität war. Ich wurde in Lubumbashi geboren. Meine Großeltern und andere Familienmitglieder sind nach Katanga migriert, um in den Minen zu arbeiten. Der Bergbau war während der Kolonialzeit gleichbedeutend mit Entwurzelung, Trennung, Exil und Entvölkerung. JUSTICE, oder zumindest das Schreiben des Librettos, war eine Übung in persönlicher, familiärer und nationaler Trauer. Die Konfrontation mit dem Unfall in Kabwe brachte andere Katastrophen ans Licht. Vielleicht liegt darin sogar der Sinn der Literatur oder jeder Literatur: das Unsagbare auszusprechen.
Milo Rau, wie haben Sie den Fall von Kabwe „ausgewählt“? Das Tribunal von Kongo findet vor allem in der Region Kivu und nicht in Katanga statt, oder?
MR: Mein Weg in den Kongo hat 2008 in Rwanda angefangen, als ich Hate Radio inszeniert habe. Dann verlagerte ich mich, so wie der Konflikt, in den Ostkongo. Dort fand ich einen „Weltkrieg“ vor, eine Situation, in die (fast) alle Länder involviert sind, Deutschland, Kanada, China, die Schweiz, die USA und so weiter. Zu einem bestimmten Moment kam der Fall von Glencore auf.
Viele multinationale Konzerne sind in Kivu, aber Glen-
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core ist in Katanga. Das war zu der Zeit, als es in der Schweiz einen Gesetzesvorschlag zur Rechenschaftspflicht multinationaler Unternehmen gab. Da die Initiative nicht angenommen wurde, wählten wir mit einigen NGOs drei Fälle aus, um zu versuchen, diese Rechenschaftspflicht zu erwirken. Im Fall des Unfalls in Kabwe waren – sind – die Personen sehr charismatisch. Dieser besonders grausame Fall trägt den komprimierten Schmerz und die tragische Universalität, die der Gewalt in unserer Welt eigen ist, in sich. Kabwe ist wie eine Metapher, eine allegorische Geschichte, die uns von einem ontologischen Ungleichgewicht erzählt, in dem selbst die Toten nicht mehr zueinander finden. Wie ist es dazu gekommen? Wie können wir miteinander leben mit diesem Maß an Tragik, wenn der Markt in Kabwe auf dem Altar des Reichtums anderer Länder des globalen Marktes geopfert wird? Als politische Person ist dies ein Fall, in dem sich alles überschneidet: Ein multinationales Verbrechen, das mich herausfordert und das eine multinationale Zusammenarbeit erfordert.
FMM: Um auf das zurückzukommen, was Milo gesagt hat – ich denke, dass alle Tragödien universell sind. Kabwe ist nur ein Beispiel von Hunderten, die ich kenne, denn selbst dieses Video (Anm. d. Red.: von dem Unfall) berührt mich nicht wirklich. Ich habe schon unzählige solcher Videos gesehen. Menschen, die in einer Mine oder bei einem ähnlichen Unfall ums Leben ge-
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kommen sind, gibt es in diesem Land genug. Es ist nur eine von vielen Tragödien. Ihre Inszenierung beleuchtet ein vergessenes, vernachlässigtes Ereignis. Ein vergessener Alltag und ein vergessenes Land. Was derzeit im Kongo geschieht, ist nicht neu. Kinder und Frauen, die in Minen arbeiten, Erdrutsche, all diese Dinge haben sich bereits anderswo, sogar in Europa, abgespielt.
Wir sprechen von der Ausbeutung und ihren sozialen und wirtschaftlichen Folgen, obwohl wir im 21. Jahrhundert sind?
FMM: Émile Zola gehört zu den Romanautoren, die ich in meiner Kindheit begierig gelesen habe. Er befasst sich mit Themen, die mir vertraut sind. Einen Roman von Zola zu lesen, war für mich wie die Lektüre eines kongolesischen Schriftstellers. In der afrikanischen Literatur befasst sich der Sozialroman mit dem Zusammenbruch der traditionellen afrikanischen Gesellschaft. Viele der Kolonialstädte wurden im Zuge der Entdeckung von Bergbauvorkommen errichtet. Das gilt auch für Lubumbashi, meine Heimatstadt. Als sie gegründet wurde, kamen die Menschen von überall her. Seitdem hat sich nichts geändert. Das koloniale Wirtschaftssystem, das in erster Linie auf den Bergbau ausgerichtet war, wird immer noch propagiert.
MR: Ich glaube, dass sich nur einige Teile der Welt weiterentwickelt haben. In anderen Teilen der Welt be-
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finden wir uns noch im 19. oder vielleicht im frühen 20. Jahrhundert. Wenn ich nach Kolwezi gehe, ist es wie bei Zola, wie Fiston sagt, es ist ein echtes Industrieproletariat. Europa hat die Industrie genutzt, um sich weiterzuentwickeln. Aber erst durch die Kolonien konnte es sich von der Ausbeutung befreien und seine Industrien anderswohin exportieren. Denn die Wahrheit über den Reichtum von Genf ist offensichtlich die Armut des Kongo. Die Armut der Schweiz an Mineralien findet ihre Antwort in den reichen Böden des Kongo. Das 19., das 20. und das 21. Jahrhundert, das Mittelalter und die Zukunft – all das existiert zur gleichen Zeit. Man muss die Synchronizität dieser Zeiten finden. Deshalb finde ich die Musik von Hèctor Parra interessant, mit all ihren modernistischen, postmodernistischen, kongolesischen und europäischen Komplexitäten, diesem etwas verrückten Synkretismus der Welten, von denen wir sprechen.
FMM: Die Menschen leben in Paralleluniversen: Sie stehen mit beiden Beinen in der europäischen Moderne, leben aber gleichzeitig in einer afrikanischen Zeitlichkeit. Selbst in den großen Städten gibt es eine verstärkte Präsenz und ein Wiederaufleben von überlieferten Bräuchen und Praktiken – oft, um undenkbare Phänomene oder Ereignisse zu erklären. Es war naheliegend, aus den afrikanischen und
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„L‘eau ne coule plus au robinet Nous sommes à court d‘électricité La bière coûte des yeux à la tête les enfants doivent se rendre à l‘ecole
Leur bouche réclame de la mangeaille retroussons les manches, mon frère besognons jusqu‘à se casser l‘épine dorsale le travail c‘est notre père le travail c‘est notre mère travaillons mon frère après tout, nous sommes des hommes“
„Das Wasser fließt nicht mehr aus dem Hahn Uns mangelt es an Strom
Das Bier kostet von den Augen bis zum Kopf die Kinder müssen in die Schule gehen Ihr Mund verlangt nach Futter lass uns die Ärmel hochkrempeln, Bruder lass uns schuften, bis das Rückgrat bricht die Arbeit ist unser Vater die Arbeit ist unsere Mutter lass uns arbeiten, mein Bruder schließlich sind wir Männer“
FISTON MWANZA MUJILA (LE TRAVAIL / DIE ARBEIT)
zeitgenössischen „Mythologien“ zu schöpfen, um es mit Barthes zu sagen. Die Welt ist transnational und transtemporal geworden.
Sie integrieren also diese neuen Formen der populären, modernen, afrikanischen Erinnerung in die Struktur des Stücks selbst?
MR: Ja, ich glaube, das Schöne an der Art und Weise, wie wir gearbeitet haben, ist, dass wir eine Oper geschaffen haben, in der es einen ständigen Parallelismus gibt: Man kann gleichzeitig einen postmodernen mythologischen Gesang mit großem Orchester, eine Geschichte von Fiston, ein Bild von einem Ort und noch etwas Viertes haben. Man stellt alles zusammen und sagt: „Das ist mir egal!“: Es gibt keine unterscheidbaren Formen mehr! Hier liegt auch die Herausforderung: Wie navigiert man zwischen all diesen Dingen, die aus kulturellen und politischen Gründen getrennt sind?
Wie ich bereits gesagt habe, hat diese Musik für mich eine modernistische Seite, ich muss an Alban Berg denken, aber sie beinhaltet Dinge, die im Modernismus nicht vorhanden waren. Denn der Modernismus war zu sehr auf das Sujet, auf die Thematik beschränkt.
Die Synthese zwischen dem Grand Théâtre de Genève, sprich der Oper von Genf und dem musikalischen Genre der Oper, und der Thematik, den Zeitzeugenberichten, der Musik, den Bildern: Hier und jetzt ist der Ort der Auseinandersetzung mit der Minenproblematik,
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nicht beim Kongo-Tribunal, bei NGOs oder im kleinen Theater mit Dominique Ziegler. Es findet hier statt, im Grand Théâtre de Genève, die Bewegung, die Verschmelzung, die Aneignung aller interessante Seiten. Die Legitimität des Ansatzes ist für mich offensichtlich.
FMM: Es gibt eine Tendenz, eine gewisse afrikanische Tradition einer westlichen Moderne gegenüberzustellen, und das ist letztlich eine koloniale Praxis. Afrika wird als Kontinent der Mündlichkeit verstanden, während Europa als Raum der Schriftlichkeit gesehen wird. Mir scheint, dass es zwischen diesen Welten mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt. Die Oper könnte ein perfektes Beispiel sein: In der angestammten afrikanischen Gesellschaft gab es Formen der Oper im Zuge von Ritualen. In meinen Augen ist Gerechtigkeit nicht nur eine Manifestation der Wahrheit, sondern auch ein Ritus. Riten haben die Aufgabe, ein verlorenes Gleichgewicht wiederherzustellen. Das gesprochene Wort (das der Emanation der Stimme der Opfer entspringt) ist keine leere Rede. Was die Protagonist:innen oder die Opfer sagen und was auf der Bühne widerhallt, ist eine ontologische Substanz. Wir befinden uns nicht auf der Bühne, auch wenn wir physisch dort sind. Denn wir befinden uns im wahren Leben. Die Stimme der Opfer ist von entscheidender Bedeutung. Ebenso wichtig ist, was die Musiker:innen sagen und singen. Sie spielen nicht, sondern beobachten oder vollführen ein Ritual. Man denkt, die Oper sei elitär, aber in JUSTICE ist
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man nah an einer Zeremonie der Trauer, der Reinigung oder der Wiedergutmachung.
Sie haben von einem Requiem gesprochen. Kann also von einer Messe zur Hommage an die Toten die Rede sein?
FMM: Oh, das ist zu christlich! In der Kultur Afrikas –beim Volk der Luba beispielsweise durch Kasala (Anm. d. Red.: zeremonielle Gedichte) – ist es wirklich keine Hommage, man zeichnet den Weg des Verstorbenen nach und gleichzeitig den der Familie – die Ehen, die Todesfälle, die Abschiede, Krankheiten und Geburten. Man berichtet von den Heldentaten, rühmt die Verdienste. Es ist wie eine Inthronisierung in eine Herrschaft, in einen höheren Stand, denn wenn die Menschen sterben, hören sie auf, Menschen zu sein und werden zu Geistern.
Wenn Sie diese Lieder schreiben, wie auch die im Libretto vorhandenen, lassen Sie sich dann von diesen Totenritualen inspirieren? Oder von den Ritualen in den Bergwerken?
FMM: Es sind Gesänge aus dem Bergwerk, und die meisten Themen haben mit Fruchtbarkeit und Tod zu tun. Ich habe viel darüber geschrieben, der Bergbau inspiriert mich! Ich war schon vor meiner Geburt Teil davon. Ein Arbeiter, der in die Mine hinabsteigt, könnte
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singen: „Wenn wir heute sterben, werden unsere Mütter schönere Kinder gebären als uns, die in den Minen arbeiten werden.“ („Si nous mourons aujourd‘hui, nos mamans vont accoucher d‘enfants plus beaux que nous qui travaillerons dans les mines.“) Wenn ich heute bei einem Erdrutsch sterbe, wird meine Mutter noch mit 90 Jahren Kinder gebären, die wie ich weiterhin in der Mine arbeiten werden. Es gibt dieses Bild einer übermäßigen Mutterschaft und eines ewigen Kreislaufs, dem man nicht entkommen kann. Der Bruch wäre, ins Dorf zurückzukehren, um diesen unheilvollen Kreislauf zu durchtrennen und wirklich trauern zu können.
Auch wenn man sich in der Welt der Darstellung intrinsisch in einer Doppelung des Realen befindet, gibt es in JUSTICE im Vergleich zu einer eher fiktionalen Arbeit einen Willen und eine Verpflichtung zur Zeugenschaft, zum Wort, zur Wahrheit. Wie sehen Sie diese Authentizität?
MR: Die Frage, die mich immer wieder antreibt, ist, wie Institutionen die Realität integrieren und auf diese antworten können. Natürlich gibt es im Genre der Oper ein anderes Publikum und eine andere Rhetorik als auf einer Theaterbühne oder auch im Kino. Es gibt hier viel weniger Probleme, die Realität einfließen zulassen, weil es ein sehr konstruiertes Genre ist. Die Oper „historisiert“, das heißt, sie versetzt die erzählten Geschichten
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in eine Welt, die zu einer anderen Zeitlichkeit gehört als die, die ich kenne. Weil gesungen wird (auf lyrische Weise), weil es diese bestimmte Art gibt, Sprache und Emotionen zu verwenden und auf der Bühne zu stehen.
Meine Aufgabe als Regisseur ist es, einen Weg zu finden, die realen Personen (wie Fiston oder Serge) mit den Charakteren, die gesungen werden, zu kombinieren. Hier versuche ich herauszufinden, wie ich diese verschiedenen Welten kombinieren kann, warum manche Sätze gesungen werden, weil die Emotionen es erfordern und warum andere gesungen werden, obwohl sie keine Emotionen beinhalten.
In Musicals, wie zum Beispiel in Dancer in the Dark, gibt es diese Dichotomie der Welten, wo die gesungene Welt im Vergleich zur tristen und wortkargen Welt der Realität verzaubert ist. Auf diese Weise wird die Musik in meiner Welt eingesetzt. In der Oper muss ein Regisseur wie ich, der an die Wahrhaftigkeit gebunden ist, die Aufrichtigkeit des Gesangs noch finden.
Das Gespräch (hier Auszüge) führte die Dramaturgin Clara Pons in französischer Sprache. Bearbeitung und Übersetzung von Laura Kisser.
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Gespräch
HÈCTOR PARRA
Hèctor Parra (*1976 in Barcelona) ist Komponist. Seit 2002 wohnhaft in Paris, prägt seine Begeisterung für bildende Kunst, Literatur, Evolutionsbiologie und theoretische Physik seine musikalische Produktion maßgeblich. In seinen zahlreichen szenischen und multidisziplinären Projekten arbeitete er mit Schriftsteller:innen wie Marie NDiaye, Pierre Lemaitre oder Klaus Händl, mit Regisseur:innen wie Milo Rau, Calixto Bieito oder Mariame Clément, mit bildenden Künstler:innen wie Matthew Ritchie oder Jaume Plensa und Wissenschaftler:innen wie Lisa Randall oder Jean-Pierre Luminet zusammen. Im Verlauf seiner künstlerischen Karriere komponierte er mehr als 100 Werke, die von renommierten Institutionen wie der Pariser Philharmonie, dem Wiener Konzerthaus, dem Pariser Louvre oder dem Guggenheim-Museum in New York in Auftrag gegeben und weltweit von Orchestern wie dem SWR Symphonieorchester Stuttgart oder dem Spanischen Nationalorchester uraufgeführt wurden. Seine bisher acht Opern wurden in diversen europäischen Städten (u. a. Paris, Barcelona und Genf) sowie in New York auf die Bühne gebracht. Parra war von 2013 bis 2017 Professor für Komposition des Ircam-Instituts und ist Mitglied der Académie de France in Rom. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie den Ernst-von-Siemens-Kompositionspreis (2011) und den Nationalpreis für Kultur von Katalonien im Jahr 2017.
BIOGRAFIEN
MILO RAU
Milo Rau (*1977 in Bern) ist Regisseur, Autor und Dozent. Er studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Berlin und Zürich u. a. bei Pierre Bourdieu und Tzvetan Todorov. In seiner künstlerischen Arbeit verarbeitet Rau häufig politische Diskurse in diversen theatralen Ausdrucksformen, die sich von Theaterstücken, Opern und Musiktheater über Filme und Bücher bis hin zu Aktionen erstrecken. Eines seiner ambitioniertesten politischen Theaterprojekte ist dabei das Kongo-Tribunal, für das er 60 Zeug:innen und Expert:innen im kongolesischen Bürgerkriegsgebiet versammelte. Im Jahr 2007 gründete er die Produktionsfirma IIPM – International Institute of Political Murder. Seine Produktionen werden regelmäßig auf internationalen Festivals gezeigt, darunter das Berliner Theatertreffen, das Festival d ̦Avignon, die Biennale von Venedig und die Wiener Festwochen. Rau wurde im Jahr 2017 bei der Umfrage zum Theaterregisseur des Jahres von Die Deutsche Bühne ausgezeichnet und erhielt seitdem für seine Arbeiten zahlreiche Preise, zuletzt den Peter-Weiss-Preis 2017, den 3sat-Preis 2017 sowie 2018 den Europäischen Theaterpreis für sein Lebenswerk und 2020 die renommierte Poetikdozentur in Münster. Nachdem Milo Rau von 2018 bis zur Saison 2024 künstlerischer Leiter des NT Gent war, ist er seit dem 1. Juli 2023 Künstlerischer Leiter der Wiener Festwochen.
BIOGRAFIEN
FISTON MWANZA MUJILA
Fiston Mwanza Mujila (*1981 in Lubumbashi) ist Schriftsteller, Dichter und Dozent. Seine literarische Arbeit erstreckt sich über Prosa, Lyrik und Theaterstücke. Der Autor veröffentlicht auf französischer und deutscher Sprache und lebt in Graz, wo er an der Universität Afrikanische Literatur unterrichtet und als Literaturbeauftragter des Forum Stadtpark agiert. Sein Debütroman, Tram 83, wurde vielfach ausgezeichnet, in 13 Sprachen übersetzt und auch mehrfach für das Theater adaptiert. Seine Theaterstücke in deutscher Sprache wurden in zahlreichen deutschsprachigen Theatern aufgeführt, u. a. im Akademietheater in Wien, im Theater Aachen und im Deutschen Theater Berlin. 2023 feierte sein Stück Après les Alpes Premiere, das der Autor für einen Doppelabend mit Jelineks In den Alpen im Wiener Volkstheater schuf. Nachdem Mujila im Jahr 2009 Grazer Stadtschreiber war, erhielt er zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Peter-Rosegger-Literaturpreis 2017 und den Prix Les Afriques im Jahr 2021. Zuletzt wurde Mujila mit dem Preis der Deutschen Literaturhäuser 2024 ausgezeichnet.
BIOGRAFIEN
TONKÜNSTLER-ORCHESTER NIEDERÖSTERREICH
Das Tonkünstler-Orchester mit seinen Residenzen im Festspielhaus St. Pölten, im Musikverein Wien und in Grafenegg ist einer der größten und wichtigsten musikalischen Botschafter Österreichs. Den Kernbereich der künstlerischen Arbeit bildet das traditionelle Orchesterrepertoire von der Klassik über die Romantik bis zur Musik des 20. Jahrhunderts. Musikerpersönlichkeiten wie Walter Weller, Heinz Wallberg, Miltiades Caridis, Fabio Luisi, Kristjan Järvi und Andrés Orozco-Estrada waren Chefdirigenten des Orchesters. Seit der Saison 2015/2016 wird es von Yutaka Sado geleitet, Fabien Gabel folgt ihm 2025 nach.
TITUS ENGEL
Titus Engel (*1975 in Berlin) ist als Dirigent sowohl für seine historischen Interpretationen, als auch für seine anspruchsvollen zeitgenössischen Projekte bekannt. Gastdirigate von u. a. Wagners Lohengrin, Bergs Wozzeck, Strauss Salome, Nielsens Maskerade und Haas Bluthaus führten ihn an diverse große europäische Opernhäuser, in Basel brachte er 2016 mit Lydia Steier eine vielbeachtete Produktion von Stockhausens Donnerstag auf die Bühne. Ab der Saison 2024 fungiert Titus Engel als Chefdirigent der Basel Sinfonietta.
BIOGRAFIEN
ALFA ROMEO UND DIE ELEKTRISCHE GIULIETTA
Stück und Inszenierung von Kollektiv Wunderbaum
URAUFFÜHRUNG
Eine Koproduktion zwischen dem Kollektiv Wunderbaum, der Tangente St. Pölten –Festival für Gegenwartskultur und dem Landestheater Niederösterreich
Ab Sa 11.05.24
www.tangente-st-poelten.at
www.landestheater.net
Bildtitel
JULI 2024
OPEN-AIR: TONKÜNSTLER
www.flashface.com
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DOMPLATZ
& FRIENDS © Josef Bollwein
China Moses/Myles Sanko & Best-of Bernstein
TEAM FESTSPIELHAUS
Elke Cumpelik Büroleitung Geschäftsführung, Thomas Gludovatz, Andreas Gremel Geschäftsführer, Bettina Masuch Künstlerische Leiterin
KÜNSTLERISCHES PRODUKTIONSBÜRO
Christina Aksoy, Constanze Eiselt Leitung, Musikkuratorin, Prokuristin, Caroline Herfert, Sophie Pachner, Katharina Schober-Dufek Stv. Leitung
KULTURVERMITTLUNG & OUTREACH
Marlies Eder, Gabrielle Erd Leitung, Leonie Humitsch, Margit Mössmer Stv. Leitung, Thomas Svistunov
MARKETING & VERKAUF
Julia Bieder Datenbankmanagement, Julia Dorninger Redaktion & Publikationen, Lilly Feichtinger Praktikantin Marketing, Caroline Herfert Social Media, Sophie Kronberger Online Marketing, Lisa Lampeitl Werbung, Kooperations- & Medienmanagement, Laura Kisser Redaktion & Publikationen, Derya Polat Chefkassierin, Andreas Prieling Stv. Leitung & Presse, Ulli Roth Gruppen & Key Accounts, Gülcan Simsek Leitung
TECHNIK & HAUS
Herbert Baireder Stv. Technische Leitung, Beleuchtungsinspektor, Ahmet Bayazit Hausorganisation, Vermietungen, Erhard Biegler
Bühnentechnik, Elif Budak Reinigung, Andreas Dröscher Technische Leitung, Lotte Forstner Chefbilleteurin, Florian Hackel Stv. Bühnenmeister, Christian Hahnl-Bichler Tonmeister, Ilona Hiesberger Pflanzenbetreuung, Gerlinde Högel Portierin, Monika Holzgruber Reinigung, Matous Horinek Bühnentechnik, Eren Karabulut Haus- & Betriebstechnik, Münevver Karabulut Reinigung, Ayben Karadag
Portierin, Oliver Klenkhart Bühnentechnik, Michaela Kogler-Troll
Portierin, Bernd Neuwirth Cheftonmeister, Katarzyna Rausch
Portierin, Martin Schmidt Beleuchtungstechnik, Robert Sommer Stv. Beleuchtungsinspektor, Samantha Suppinger Bühnentechnik, Aynur Tuna Reinigung, Jürgen Westermayr Bühnenmeister
IMPRESSUM
Herausgeber, Verleger und Medieninhaber
Niederösterreichische Kulturszene Betriebs GmbH, Kulturbezirk 2, 3100 St. Pölten, T: +43 (0) 2742/90 80 80, www.festspielhaus.at. Für den Inhalt verantwortlich Thomas Gludovatz, Andreas Gremel. Künstlerische Leiterin Bettina Masuch. Musikkuratorin Constanze Eiselt. Redaktion Laura Kisser, Julia Dorninger. Fotos GTG/Carole
Parodi (Cover sowie sämtliche Produktionsfotos JUSTICE), Amandine Lauriol (S. 25), Bea Borgers (S. 26), Anna Drvnik (S. 27), Francois Fleury (S. 29, links), Michael Slobodian (S. 29, rechts). Druck Walla GmbH. Produziert in Wien. Termin-, Programm- und Besetzungsänderungen vorbehalten. Fotografieren, Ton- und Videoaufzeichnungen nicht gestattet. Preis des Programmheftes Euro 2,90
Team & Impressum 34