null22eins#17

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FRÜHLING/SOMMER 2017

#17 KÖLNER KULTUREN MAGAZIN | WWW.NULL22EINS-MAGAZIN.DE

FREIEXEMPLAR | EHRENAMTLICH | WERT 5 EURO: EINFACH MAL SPENDEN



Editorial Ich bau mir die Welt, wie sie mir gefällt ... War das Pippi Langstrumpf oder doch irgendeiner der seltsamen älteren Herren, die gerade versuchen, à la Pinky und der Brain, die Weltherrschaft an sich zu reißen? Dass das nicht wirklich funktionieren kann, wissen nicht nur deutsche Menschen mit Geschichtsbewusstsein – und dennoch lassen wir uns davon stressen. Runtergebrochen auf unser eigenes Leben sehen wir vor allem gerade eins: Ja. Läuft nicht. Nein. Deswegen zu eskalieren, ist eigentlich dumm. Doch das reicht nicht! Wir bauen uns eine Welt, wie sie uns allen gefällt! Ja. Es könnte alles so einfach sein ... null22eins #17 ist angekommen im Jahr 2017: ein Jahr voller „Seltsamkeiten“ bisher, aber auch ein Jahr voller Möglichkeiten! Denn es sind wir, die entscheiden! Du bist es, der Lösungen für teilweise sinnlose Probleme finden kann. Ja. Die artishocken stehen eher für den „Lösungsansatz“ ... weniger reden, ab und zu machen – wie wir es bei diesem Magazin auch immer wieder beweisen. Einziges Problem dabei: Der eigene Dunstkreis ist schön, Gewohnheiten gewohnt und alles, was läuft, läuft halt. Wir hätten schon lange etwas Neues erbaut, wenn wir einfach mal zusammen bauen würden. Einer ist wenig. Alle sind viele. Und viele an einem gemeinsamen Problem finden ganz schnell eine einfache Lösung. In diesem Sinne bieten wir euch im Frühjahr/ Sommer 2017 einfach mal ganz viel Positives, wo sonst viel Schatten herrscht. Und sparen uns nebenbei nur subtil, dass wir alle mündige Bürger sind – und zum Beispiel beim Wählengehen Zeichen setzen können. Wir laden hiermit ein, ganz viele tolle Standard-Häuser für unsere eine Welt zu bauen – für unsere gemeinsame Welt. Und wie wir in Köln alle wissen: Das ist zwar auch heute nie wirklich schön, aber gebaut wird trotzdem. Ganz einfach nur für ein Dach für viele Köpfe – aber bitte ohne Populismus, ohne Hass und ohne herbeigeredete Verschwörungen.


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INHALT

INHALT #17

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ALT/NEU /// PLATTE 4.0 Thema in der Stadt

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PROSA /// AUF LAUTLOSEN SCHWINGEN Erfahrungen der Psyche

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LITERATUR /// ZWISCHEN PROSA UND MUSIK Lesebühne „Schlagseite“

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WERKSCHAU /// KUNST AUS DER DOSE Taiberg denken im Künstlerkollektiv

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NETZWERKEN /// GESTALTE DEIN VEEDEL Der Tag des guten Lebens

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KÖLNER ORTE /// STATION MACHEN UND ANPACKEN Die Stammheimer Naturstation

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KÖLN-SZENE /// BÄM! Mehr kreative Frauen braucht die Stadt

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FOTOSTRECKE /// WIR WAREN HIER Momentaufnahmen von Andi Wahle und Lisa Reitinger

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MUSIK /// JENSEITS DES PRAKTISCHEN The Hacking Orchestra


INHALT | IMPRESSUM

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IMPRESSUM

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MUSIK /// BANDS IN KÖLN Into This, Bambus Björn

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NATUR /// BERGWALDPROJEKT Raus aus der Stadt – rein in die Natur

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KÖLN-SZENE /// SEIN EIGENER HERR SEIN Auf Extratour mit Bus und Nostalgie

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WISSENSCHAFT /// SCHEIN ODER SEIN Der Halo‐Effekt

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PORTRAIT /// ICH BIN UMWELTBEWEGT Gut gelauntes Foodsharing

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LEBEN /// INKLUSION INKLUSIVE Unsichtbares sichtbar machen

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MUSEUM /// GNADENLOS ERINNERN NS‐Dokumentationszentrum Köln

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KULTUR /// MAGAZINKULTUR Emma, Frauen – und vieles mehr

NULL22EINS #17

veröffentlicht im April 2017

HERAUSGEBER

artishocke e.V. Mauenheimer Straße 150 • 50733 Köln redaktion@null22eins-magazin.de

V.I.S.D.P

Robert Filgner robert@null22eins-magazin.de

REDAKTION U. REDAKTIONELLE MITARBEIT

Miriam Barzynski, Dakini Böhmer, Robert Filgner, Lea-Marie Lepper, Christina Löw, Jonas Mattusch, Stefanie Pörschke, Andreas Richartz, Jesse Schumacher, Anna Stroh, Christine Willen

LAYOUT

Stefanie Grawe, Alicja Kmita, Stephanie Personnaz, Kirsten Piepenbring, Rosa Richartz, Andi Wahle, Julia Ziolkowski

FOTOS

Alessandro De Matteis, Thomas Morsch, Lisa Reitinger, Viola Sophie, Andi Wahle

ILLUSTRATIONEN

Alicja Kmita, Anja Noack, Stephanie Personnaz, Kirsten Piepenbring, Ion Willaschek

TITEL

Alessandro De Matteis

EDITORIALUND UMSCHLAGGESTALTUNG

Lea-Marie Lepper, Kirsten Piepenbring

DRUCK

D+L Printpartner GmbH Schlavenhorst 10 • 46395 Bocholt www.dul-print.de

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gedruckt


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TEXT /// ROBERT FILGNER ILLUSTRATION /// KIRSTEN PIEPENBRING

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PLatte 4.0 Ein grüner Weg, eine Lichtung in Ehrenfeld samt altem romantischen Mauerwerk und mittendrin eine Tischtennisplatte – das war einmal. Einer der schönsten Blicke auf den Colonius samt Dom im Hintergrund – diese Perspektive ist verschwunden. Es handelte sich um eine kleine Lücke zwischen Leyendecker- und Christianstraße in Ehrenfeld – ein Stück wildes Grün, selbst geschaffen und irgendwie ein natürlicher Ort zum Durchatmen. Außer der Tatsache, dass hier ein wunderschöner Ort für Fotografen verschwunden ist, steht dieser kleine Raum für ein Problem: Wohnungsnot in Großstädten, Balanceakt zwischen Raum mit Dach und Raum für attraktives städtisches Wohnen. Und wohl gemerkt: Wir sprechen hier nicht von großen Wohnungsbauprojekten wie auf dem Clouth-Gelände, bald im Deutzer Hafen oder dem ehemaligen Industrie-Areal der Deutz AG im Mülheimer Süden. Dieser „Lückenschluss“, wie es die Bauherren selbst bezeichnen, macht ratlos. Ein weiterer Ort ist bald geprägt von Bauten unseres so modernen Zeitalters – dem „Plattenbau 4.0“. Etwas gefälliger als die Originale der 1970er und -80er Jahre, aber dennoch nur kantig, einfältig und daran schnell satt gesehen.

Sind wir zu wild-romantisch und gar zu unurban, dass wir um jeden Freiwild-Raum trauern? Oder sind die uninformierten Mühlen der Verwaltung so kalt, dass sie kaum wissen, welche Orte sie „umnutzen“? Mit geschlossenen Augen auf der Suche nach einem weiteren Stück Land zur Versiegelung der Stadt? Der Widerspruch wird größer. Denn Orte zum Genießen und freie Räume draußen vor der Tür stehen für städtische Lebensqualität. Und wenn selbst Kleingartenflächen für neue Plattenbauten weichen sollten, wie schon so manche Diskussion in Köln zeigte, dreht sich das Ganze nur weiter im Kreis. Das Problem wird so schnell nicht kleiner. Die „wilden“ Ecken dagegen schon. INFORMIEREN UND MITDISKUTIEREN /// MODERNE STADT / CLOUTH, COLOGNEO, DEUTZER HAFEN U.V.M. IN FAST JEDEM STADTTEIL ENTSTEHT NEUES AUF ALTEM. UND ÜBERALL KANN MAN SICH IN INITIATIVEN EINBRINGEN ODER BEIM JEWEILIGEN BÜRGERAMT EINFACH DIE EIGENE MEINUNG LOSWERDEN.

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PROSA

Auf lautlosen Schwingen TEXT /// JONAS MATTUSCH ILLUSTRATION /// ANJA NOACK

Dieser Flur scheint in seiner Ausdehnung unendlich zu sein. Ecke links, Ecke rechts, durchnummerierte Zimmer. Ich schlurfe dem bekittelten Schrank hinterher, ein Hüne in Pflegertracht. Seine Kollegin, vielleicht 1,60 groß, wirkt neben der Schrankwand noch viel kleiner, als sie ist. Die beiden nebeneinander haben etwas Slapstickhaftes. „Ich schaue mal, ob der auf Fuffzehn jetzt seine Medikation annimmt“, sagt die Zwergin, um sich von uns beiden abzuwenden und zaghaft an die Türe mit der genannten Nummer zu klopfen. Der Große ist stehen geblieben, ich mit ihm. „Wir müssen hier kurz warten“, sagt er an mich gerichtet. Weitaus weniger zaghaft öffnet sie die Türe. Das Artilleriefeuer einer Stimme lässt den Flur, nein, die gesamte Station erzittern:

Sie schließt die Türe, das Brüllen von ‚dem auf der Fuffzehn‘ hat ein pochendes Gefühl tief im Inneren meines Ohres hinterlassen und ich merke, dass ich unwillkürlich einen großen Schritt rückwärts gemacht habe. Die Kleine blickt hoch zum Schrank, wobei sie entnervt die Augen rollt, ein Telefon aus der Kitteltasche zieht und in die Richtung, aus der wir drei kamen, telefonierend von dannen geht. „… Anweisung … Fixierung ...

intravenös“, spricht sie leise und schnell in das Gerät, bevor sie hinter der nächsten Flurbiegung verschwindet. Ihr zurückgelassener Kollege atmet tief und langsam aus. Seine langen Arme hängen müde herab wie die Äste einer gewaltigen Nordmanntanne. Auf seiner Stirn glitzern kleine Schweißperlen im Neonlicht. Hart erarbeiteter Morgentau. Wir gehen weiter und er zeigt mit ausgestreckter Hand auf eine weitere Tür, dieses Mal eine mit Glasfenster. „Dort drin dürfen Sie rauchen.“ Erst beim zweiten Blick erkenne ich, dass das Fenster nicht aus Milchglas, sondern einfach nur sehr, sehr schmutzig ist. Der Raucherraum gleicht einem gilbüberzogenem Wartebereich. Auf was man wartet, ist mir nicht ganz klar. Das Dröhnen einer Lüftungsanlage erfüllt ihn. Ihr Nutzen erscheint mir allerdings höchst fraglich, denn die Luft des Raums ist dick und zäh wie Nebel an einem kalten Morgen. Feuerzeuge darf man hier nicht besitzen. Meins wurde ordnungsgemäß in einer Kiste mit meinem Namen darauf in einem Wandschrank eingeschlossen. Darum gibt mir der wuchtige Pfleger nun auch direkt eine Einweisung in die Funktionsweise des Zigarettenanzünders: „Hier schauen Sie her, das is im Prinzip genauso wie die Dingerchen im Auto.“ Er macht ausladende Handbewegungen und präsentiert mir einen Kasten von der Größe eines Schuhkartons, dessen Edelstahl bedeckt von einer Patina aus Asche, Teer und fettigen Fingerabdrücken fahl neben der Tür des kleinen Raumes schimmert. Seine Miene hat sich


PROSA

eine vorgedrehte Kippe hinterm Ohr hervor und führe sie zum Mund. Meine Hand zittert währenddessen. Als er aus dem Raum tritt, in dem kurzen Moment, als sein massiger Körper die Türöffnung nicht komplett abschirmt, höre ich einen weiteren Schrei. Nicht ‚der auf der Fuffzehn‘, sondern eine Frauenstimme. Kein Schrei voller Wut. Dieser Schrei klingt wie reine Angst.

aufgehellt, eben auf dem Flur wirkte er noch müde und entnervt, jetzt richtig euphorisch. Er findet diesen blöden Kasten wohl richtig toll, denke ich. Er lächelt begeistert und wirkt während seiner Präsentation nicht mehr wie ein erschöpfter Pfleger in der geschlossenen Psychiatrie, sondern eher wie ein Verkäufer im Teleshop. Als sei der metallene Kasten dort in der Ecke ein unglaublich innovativer Küchenhelfer oder ein Fitnessgerät. Ich bin jetzt schon fast davon überzeugt, dass dieses einmalige Produkt mein Leben nachhaltig verbessern wird. „Also hier ist ein Knopf“, fährt er fort. „Den müssen Sie drücken.“ Ich nicke schnell, um ihm zu verstehen zu geben, dass

Um mit der Zigarette das Loch zu erreichen, muss ich mich umständlich bücken. Für jemanden vom Format des Schrankes wäre dieses Ding eine richtige Qual. Ich habe das Gefühl, dabei total lächerlich auszusehen, doch die beiden anderen Personen, die in dem schäbigen 16-Quadratmeter-Räumchen sitzen, beachten mich gar nicht. Sie sind in ein Gespräch vertieft. Knopf gedrückt, der erste Zug schmeckt nach Gully und Tod. Der Rauch strömt an meiner Glottis vorbei und tief in das Innere meines Körpers. Ich setze mich auf die Metallbank gegenüber und lausche. Die beiden anderen unterhalten sich dem Anschein nach über Vögel. Die Lehne

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bei einer schlechten Computeranimation. Ein Gespenst aus dem uncanny valley. „Doch, dat iss janz sischer so!“, sagt sein Sitznachbar bestimmt. Er ist schätzungsweise Mitte 60 und unter seiner Nase hat er einen Schnauzbart. Seine Erscheinung ist die eines Seehundes, der es irgendwann leid war, von den größeren, stärkeren Walrössern getriezt, herumgeschubst und veralbert zu werden und sich daher einen gewaltigen Schnurrbart zugelegt hat. Buschig und voll sollte er aus seinem Gesicht hervorragen, da würden die Walrösser schon die Schnauze halten. Sein ausgeprägter rheinischer Dialekt stört mich irgendwie. Norddeutsch würde doch viel besser zu seinem Erscheinungsbild passen. „Isch sach et dir,

Der blasse Junge schaut den Alten skeptisch an. „G-g-gar kein Geräusch? A-a-aber wenn die mit ihren Flügeln schlagen, d-das muss doch ein Geräusch ge-geben“, wirft das Porzellanpüppchen zweifelnd ein. „Neijen, de

ich weiß, wie ein Knopf funktioniert. „Und hier ist ein Loch. Also ganz einfach: Knopf drücken, Kippe rein ins Loch, ziehen, bis es qualmt, das war es auch schon.“ Er schaut mich erwartungsvoll an. Ich nicke und gebe mir Mühe, dankbar zu lächeln. Am Ende hat mich seine Präsentation dann doch nicht so gepackt. Ich denke, dass der Schrank hier doch besser hin passt als auf QVC. „Vielen Dank“, sage ich und habe irgendwie das Gefühl, ihn dadurch erlöst zu haben. „Okay, Sie haben ja mitbekommen, dass hier gerade viel los ist. Rauchen Sie mal in Ruhe Ihre Zigarette, ich sehe eben nach einem anderen Patienten und bringe Ihnen gleich was zur Beruhigung.“ Ich nicke schon wieder, ziehe

der Bank drückt unangenehm gegen die Stelle unterhalb meiner Schulterblätter und ich rutsche hinab in eine Position, bei der jeder Orthopäde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde. „Ab-ab-aber wie k-kann das denn sein?“, fragt ein vielleicht 20-jähriger Junge stockend und mit sehr leiser Stimme seinen wesentlich älteren Gesprächspartner. Der Junge wirkt zerbrechlich. Er ist eigentlich recht hübsch, denke ich, wäre sein Gesicht nicht auf seltsame Art ohne jede Mimik. Ausdruckslos, wie

sinn still. Da iss nada, nix. De Flüggel maache kinne Jeräusch. Wunderschöne Tiere diese Eulen, herrlisch.“ Er zieht kraftvoll an seinem billigen Zigarillo und beginnt heftig zu husten. Der Qualm hat wohl zerkauten Fischmatsch im Seehundinneren verdichtet und seine Atemorgane versuchen nun, dies mit krampfartigen, kurzen Stößen


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MUSIK

wieder in Ordnung zu bringen. Ich wende meinen Blick voller Ekel ab und drehe mir eine weitere Zigarette. Die beiden rauchen schweigend weiter.

Ich richte meinen Blick wieder auf. Das ungleiche Paar mir gegenüber schaut, kurz Notiz nehmend und ohne die Köpfe zu bewegen, in die hinterste Ecke des kleinen Raumes. Dorthin, wo die Stimme herkam. Da sitzt eine junge Frau und starrt regungslos auf ein Bild an der Wand. Saß sie die ganze Zeit dort, frage ich mich selbst. Eigentlich war ich mir sicher, das Zimmer zur Gänze mit meinen Augen erkundet zu haben. Inklusive der drei Bilder, die hier hängen. Stadtansichten, Bilder, die man schon tausende Male gesehen hat, London, New York, San Francisco. Die Bilder sind schwarz-weiß, nun ja, in diesem Fall eher sepia. Schichten von Nikotin haben sie unter sich begraben. Alles hier ist mit einem schmierigen Film überzogen und abgenutzt. Ich glaube, meine Klamotten haben den Gestank jetzt schon angenommen.

Bei den Bildern wurde nur jeweils ein Detail farbig gelassen. In dem, das die Frau gebannt fixiert, ist es der Doppeldeckerbus, der sich am Piccadilly Circus vorbeischiebt. Viel Rauch hat sein einstmals sattes Rot, sicher leuchtender als das der Haare seiner Betrachterin, verblassen lassen. Der stotternde Junge und der Schnauzbart haben thematisch von Eulen zu Tauben gewechselt und scheinen sich einig darin zu sein, dass deren Flügel ganz schön Krach machen können. Auf mir unerklärliche Weise hat die Rothaarige wohl bemerkt, dass ich nun schon seit vielleicht einer halben Minute ihre Zweisamkeit mit dem Bus betrachte. Langsam wendet sie ihren Blick von London ab und schaut mir direkt ins Gesicht. Ihr Körper folgt der Bewegung ihres Kopfes, erst sehr zögerlich, dann mit einer nahezu schwungvollen Drehung. Sie lächelt verträumt durch ein Meer aus Sommersprossen. Ich stehe kurz auf, um die zweite Kippe per Knopfdruck und Loch zum Glühen zu bringen.

Entrückt, zufrieden und selig verfolgen ihre Augen meine Handlungen. Auf der anderen Seite hat man sich auf das ursprüngliche Thema zurückbesonnen. „Aa-aber, wie machen die Eulen das denn, so ganz g-ge-geräuschlos fliegen? Ih-ih-ich meine a-alles, was sich be-bewegt, macht doch ein Geräusch.“ Und ich bin mir sofort sicher, dass der Junge mit diesem Einwand Recht hat, denn ich beginne mich zu erinnern: Einmal führte mich mein Heimweg nach einer Party durch den Stadtwald. Es war kalt, ich weiß auch gar nicht, warum ich auf dieser Party gewesen war, denn besonders toll war es dort nicht. Eigentlich fühlte ich mich fast schon erleichtert, als das Ordnungsamt dem Ganzen ein Ende setzte. Meine Partyfreunde sind dann noch mit so einem pickligen Typen mit Wursthaaren weitergezogen. Ich seilte mich ab, denn seine endlosen Monologe über Chemtrails, Bilderberger, die Gefahr von Impfungen und ähnlichem Quatsch gingen mir auf die Nerven.


PROSA

unterischt! Watt die dir da verzällt hann“, er streckt den Kopf nach hinten und massiert mit kreisenden Bewegungen seiner Flosse sein Kinn und den Busch unter seiner Nase. „Bei Eulen iss kinne Jeräusch, da kaanste nix messe! Isch hann da mal ne Dokku jesehe.“ Er sagt dies mit einer Bestimmtheit, als hätte er jahrelang nichts anderes getan, als irgendwelchen Vögeln mit einem Schalldruckmessgerät nachzustellen. Ich überlege, ob ich mich einmischen, dem in die Ecke gedrängten Jungen zur Seite stehen soll, aber eine vernünftige Diskussion mit dem SeeJedenfalls verlief ich mich auf dem Rückweg hund erscheint mir als zu optimistische Idee. gnadenlos. Handyakku leer, somit war ich Außerdem merke ich, dass die rothaarige ohne Navi oder Taschenlampe, müde, frie- Frau mich weiterhin unvermittelt angrinst. rend und betrunken. Ich lief bestimmt eine „Hörst du es auch?“, fragt sie mich plötzlich. Stunde orientierungslos umher, bis ich wie- Ich bin verwirrt. „Was hören?“, frage ich zuder an einer Lichtung stand, an der ich zuvor rück. „Meinst du die Lüftung?“ Ich deute auf schon vorbeigekommen war. Ich entschied mich in meiner Verzweiflung, dort auf einer Parkbank die Dämmerung, meine Nüchternheit und bessere Sicht abzuwarten. So saß ich dort, als mich ein rhythmisches Rauschen direkt über meinem Kopf vor Schreck zusammenzucken ließ. Es war ein Uhu, der dicht über mir entlang geflogen war. Von mir unbekümmert flog er weiter, um im Dickicht der Bäume auf der anderen Seite der Lichtung zu verschwinden. Der Uhu schien zu wissen, wo er lang musste. Ich hatte mich verirrt.

„Iss doch driss ejal, wie de Eulen dat mache!“ Seine Stimme ist jetzt eine Spur zu laut. „De Eulen sind janz still, dat iss dat schöne an Eulen!“ Im Dröhnen der Lüftungsanlage hallt für meine Ohren das Rauschen der Uhuschwingen aus dem Stadtwald nach, als säße ich noch dort auf der Bank. „A-a-aber alles, was sich bewegt, macht doch Geräusche, ich meine das müsste man doch au-auch messen können. Im Physikunterricht ...“ Weiter kommt er nicht mit seinen mir sinnvoll erscheinenden Gedanken, der Alte setzt zum Gegenschlag an. „Pah! Pffissik-

den großen Kasten, der klappernd über unseren Köpfen surrt. Eine kranke, eiserne Lunge, die unser aller Rauch mechanisch hin- und herwälzt. Meine Gegenfrage gefällt ihr offensichtlich nicht. „Du hörst es auch nicht!“ Ihr Blick hat sich verfinstert, zwischen der Glut ihrer Sommersprossen glimmen ihre Augen wie zwei Briketts. „Ignorier` die besser“, sagt der Blasse zu mir. In seiner Stimme klingt ernsthafte Sorge, er stottert bei diesem Ratschlag auch nicht. Die Sommersprossige hat nun wieder das Bild fixiert, leiser werdend spricht sie weiter. Ob mit sich selbst oder mit dem Bus vermag

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ich nicht auszumachen: „Er hört es nicht. Er hat eine alte Seele, aber er hört es auch nicht.“ Ich tue, wie mir geheißen, wende meine Augen ab von ihr und beginne eine dritte Kippe zu drehen, als auf einmal der Schrank wieder vor mir steht. Er hält mir eine seiner großen Pranken entgegen, wobei er mit Daumen und Zeigefinger eine Pinzette formt. An deren Spitze ragt eine einzelne kleine Tablette aus ihrer bereits geöffneten Plastikummantelung. „Ihre Medikation, Tavor, ein Milligramm.“ „Oh, ich habe gerade gar nix zu trinken, um die runter zu schlucken“, sage ich. „Da-dadas brauchst d-du nicht, die l-löst sich didirekt im Mund auf“, mischt sich der Junge kennerisch ein. Ich vertraue auf seine Expertise, und tatsächlich, die Tablette zerfällt sofort unter meiner Zunge. Sie wird eins mit meinem Speichel und hinterlässt ein mehliges Gefühl im Mund, wie eine Hostie. ›Der Leib Ruhe. Amen‹. Schon während ich kurz darauf die dritte Kippe nach Teleshop-Manier in Brand stecke, merke ich die Wirkung des Tavor. Ein Kokon aus Zuckerwatte umhüllt mich und die Metallbank unter mir fühlt sich nun an wie die komfortabelste Couch. Mir ist nun alles herzlich egal, der Zigarettenanzünder, die Brikettaugen, die verdammten Eulen und meine Abscheu. Die Scham, dem Jungen beim Eulendiskurs nicht beigestanden zu haben, ist auch verraucht. Die Lüftungsanlage hat sie sorgsam absorbiert und wieder in der Luft verteilt. Alles ist gut. Als ich nach der Kippe den langen Flur in Richtung meines Bettes entlang schreite, schwebe ich zwischen Linoleumboden und den Neonröhren, ich gleite den Gang hinunter.


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LITERATUR

k i s u M d n u a s o r zwisch en P

Poetry Slams, Lyrik-Festivals und Co. sind bekannte Größen in der Literatur-Szene. Die neue Siegburger Lesebühne „Schlagseite“ geht einen eigenen Weg und verbindet Live-Musik mit Literatur. Die Initiatoren setzen dabei auf Echtheit statt Effekthascherei. TEXT /// DAKINI BÖHMER FOTOS /// ALESSANDRO DE MATTEIS


LITERATUR

Sven Heuchert, der 1977 in der rheinischen Provinz geboren wurde und diese auch als Schauplatz für seine „Short Stories“ verwendet, ist Autor und Musikliebhaber. Die Idee, diese beiden Leidenschaften zusammenzuführen und ein eigenes Konzept zu kreieren, kam ihm gemeinsam mit den Gebrüdern Remmel. In deren Verlag „Bernstein“ ließ er auch seinen Kurzgeschichtenband „Asche“ verlegen. Der Plan war simpel: Authentische, erzählende Prosa und Lyrik werden durch Live-Musik ergänzt, beides zusammen ergibt ein Ganzes. „Social-Beat und Literatur abseits der Pfade – das ist es, was uns dabei interessiert. Nabelbeschauende Gegenwartsliteratur wird es bei uns eher nicht zu hören geben“, erklärt Sven Heuchert.

Regelmäßige Veranstaltungen Im November letzten Jahres fand die Premierenveranstaltung statt. Die Autoren Sascha Preiß und Niels Parthey gaben zusammen

mit Heuchert selbst ihre Texte zum Besten. Als Location diente die Verlagsbuchhandlung R2, die im ältesten Haus Siegburgs ihren Platz gefunden hat. Die Inhaber Andreas und Paul Remmel sind beide Mit-Organisatoren der „Schlagseite“. Die Lesebühne war gut besucht, Zuschauer und Autoren waren gleichermaßen angetan und so wurde einstimmig beschlossen, dieses Format regelmäßig auf die Beine zu stellen. Der nächste Termin steht noch nicht genau fest, dafür aber bereits ein Gast: Kai Krause, der zuerst Einblick in seine Dichtkunst geben wird und danach mit seiner Band Kraus & Krüger auch die Musikeinlage übernimmt.

„Schlagseite“ bleibt in der Provinz Um bei der Lesebühne auftreten zu dürfen, muss man kein veröffentlichter Schriftsteller sein, sondern lediglich den Geschmack der Initiatoren treffen. „Wenn ein Text unbedingt den Leser beeindrucken will, wenn er

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sich selbst also zu wichtig nimmt, wenn Stil alles geworden ist. Wenn es zu viele schiefe Bilder, abgelutschte Metaphern, unnötige Vergleiche gibt. Das ist für mich schlechte Literatur – und die ist für uns uninteressant“, sagt Heuchert. Mit wenig Aufwand Emotion erzeugen, lautet die Devise seiner eigenen Kurzgeschichten – und seines Debütromans, der dieses Jahr im Ullstein Verlag erscheint. Die Sprache kommt ohne Ausschmückungen aus, ohne Firlefanz; schnell, hart, prägnant. Und das ist auch der Anspruch, den er an die geladenen Autoren stellt. Offene Klarheit statt den Leser übers Ohr zu hauen. „Authentizität und Ehrlichkeit sollten im Vordergrund stehen, sowohl beim Schreiben als auch beim Vortragen der Texte.“ Die „Schlagseite“ auch in den Kölner Raum auszuweiten, ist nicht geplant. „Köln hat so viele gute Lesebühnen, ich glaube, da braucht es keine weitere. Nein, die Leute sollen ruhig mal in die Provinz kommen.“


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WERKSCHAU

Kunst aus der Dose die Macher eines Getränks „Denken Taiberg“ und ziehen künstlerisch die Aufmerksamkeit auf sich. Die Frechener Taiberg-Erfinder scharen ein regelrechtes Design-Kollektiv um sich. Und das kann sich sehen lassen. Eine Dose als Kunstobjekt? Ja. Warum nicht. Der rheinländische Getränkehersteller Taiberg fällt mit seinem Ansatz etwas aus der Rolle. Denn neben dem ziemlich kreativ zusammengestellten Getränk (aus der Taigawurzel, Granatapfel und Grapefruit), steht das junge Unternehmen für eine weitere Idee: „Mit Design überzeugen“, sagt der Mitgründer Lukas Ohrem. „Und das heißt in unserem Fall, Künstler miteinzubeziehen.“ Gemeinsam mit seinen beiden Brüdern und einem Jugendfreund, der im Marketingbereich arbeitete, wollte Lukas et- als nur ein Getränk machen. Das haben zuwas Neues: ein eigenes Getränk kreieren. letzt auch die Jurymitglieder des German „Gesund und vegan sollte es sein, aber auch Design Award honoriert und die Dose prävitalisierend.“ Fündig wurden sie in der sibi- miert. Mathis Rekowski (www.mathis.tv), rischen Taigawurzel, die auf natürliche Art ein Berliner Illustrator, war für das Dosendie gleiche Wirkung wie Taurin erzielt, dem Design verantwortlich und gehört seitdem Bestandteil, der aus süßen Getränken die zum Taiberg-Kollektiv. Dieses besteht aktu„Energy“-Drinks macht. Seit 2015 sind sie ell außerdem aus dem japanischer Grafikdemit dem Getränk auf dem Markt, zunächst signer Taka (avalanche-design.co), der den in Köln, mittlerweile in Stuttgart, Berlin und Barkühlschränken von Taiberg einen festen Look gab, sowie der Illustratorin Marion weit verbreitet auch in Österreich. Ebenso wichtig wie die natürlichen In- Kamper aus Graz und Daniel Aristizabal haltsstoffe war den Gründern von Beginn an aus Kolumbien, der den Getränkeherstellern ein ansprechendes Design. „Eine Dose bietet für einen Messeauftritt unter die Arme griff dafür die perfekte Präsentationsfläche. Wir – mit einer kunstvollen Installation rund um sind mit unseren Vorstellungen offen auf die Dose. Sie bringen sich mit ihrer Kunst für Künstler zugegangen und arbeiten auch auf Taiberg ein – schaffen so eine eigene Bühne, weiteren Gebieten gerne mit ihnen zusam- einen künstlerischen Rahmen für die Dose men.“ Damit meint Lukas die Marketing- und sind fest in die Idee, Taiberg ein ganz eiKampagnen, die schon jetzt aus Taiberg mehr genes Gesicht zu geben, integriert.


WERKSCHAU

MITTEL ZUM SWAG:

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„GESCHÜTTELT. NICHT BERÜHRT.“

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WIE SPÄT? HALB SMAUL. TEXT /// ROBERT FILGNER FOTOS /// WWW.TAIBERG.COM/#KOLLEKTIV INFO /// WWW.TAIBERG.COM, #DENKTAIBERG

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NETZWERKEN

GESTALTE DEIN VEEDEL Menschenfreundlich statt autofreundlich am „Tag des guten Lebens“

WEITERE INFOS /// DEUTZ.TAGDESGUTENLEBENS.DE WWW.TAGDESGUTENLEBENS.DE WWW.AGORAKOELN.DE

TEXT /// JESSE SCHUMACHER FOTOS /// PASCAL PILGRAM, MANUEL SCHMIDT, MARÉN WIRTHS / AGORA KÖLN


NETZWERKEN

Die Agora Köln möchte an einem Sonntag im Jahr das „gute Leben“ zelebrieren. Doch was bedeutet überhaupt ein „gutes Leben“? Wer im Internet nach einer Definition sucht, wird viele philosophische Ansätze finden, die versuchen, diese Frage zu beantworten. Aber ist die Vorstellung über ein gutes Leben nicht so individuell wie die Lebensgestaltung eines jeden Einzelnen von uns? Die Veranstalter gehen auf jeden Fall davon aus und laden dazu ein, die eigene Vorstellung zu präsentieren und den „Tag des guten Lebens“ im Veedel mitzugestalten. Ob ihr dabei draußen am Tisch gemütlich einen Kaffee schlürft, tanzend durch die Straßen bounced, eure neuesten Cupcake-Kreationen vorstellt oder einfach weitere Nachbarn kennenlernt, ist egal – Hauptsache es geht euch gut dabei! Um wenigstens einen autofreien Sonntag im Jahr in Köln zu ermöglichen, weht jedes Jahr über einem Veedel der Stadt die Fahne der Nachhaltigkeit, gehisst von engagierten Kölnerinnen und Kölnern, die sich in der Bürgerinitiative Agora Köln bündeln. Die Agora Köln ist im gemeinnützigen Institut Cultura 21. e.V. organisiert und sperrt im Zuge des „Tags des guten Lebens“ die Straßen eines Stadtteils, um genug Platz für die Gestaltung durch die Anwohner zu schaffen. Leere Straßen sind erst einmal schön und gut, wirken jedoch ohne Menschen doch eher trist. Frühmorgens erobern daher Kinder spielend die Straßen und freuen sich, dort endlich den Fußball hin und her zu kicken, unbehelligt von Nachbarn. Doch auch die ältere Generation lässt es sich nicht nehmen, an diesem besonderen Tag das Beisammensein mit Kaffee und Kuchen nach draußen zu verlegen. Die perfekte Gelegenheit, auch einmal die Nachbarn kennenzulernen, denen man sonst nur kurz im Hausflur begegnet. Für musikalische Unterhaltung sorgen Bands und DJs, die sich auf den abgesperrten Straßen verteilen. Auch für das leibliche Wohl ist gesorgt, denn an Ständen mit Essen und Trinken mangelt es nicht. Anwohner können ihre Waffelkreationen gegen Spende genauso anbieten, wie Grillspezialitäten. Eben das, was für sie persönlich zum Guten Leben gehört. Alle vom Veranstalter zur Verfügung gestellten Speisen und Getränke sind ökologisch hergestellt und möglichst regionalen Ursprungs. Hier möchte die Bürgerinitiative Vorbild sein. Gemeinnützige und nicht-kommerzielle Vereine und Organisationen sind dazu aufgerufen, sich und ihre Ideen am „Tag des guten Lebens“ vorzustellen. Am 18. Juni 2017 findet der „Tag des guten Lebens“ das erste Mal in Deutz statt, nachdem er die letzten Jahre bereits in Ehrenfeld und Sülz gefeiert wurde. Auch null22eins wird vor Ort sein. Also kommt vorbei und genießt einen Tag im Jahr, an dem ihr gemütlich über die Straßen schlendern könnt, ohne Angst zu haben, überfahren zu werden. Und somit mit offenen Augen ganz andere Dinge in eurer Umgebung kennenlernen könnt.

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KÖLNER ORTE

STATION MACHEN UND ANPACKEN – NATUR PUR IN STAMMHEIM Nachhaltigkeit und Naturschutz werden in der Stammheimer Naturstation großgeschrieben. Direkt an den Schlosspark angrenzend liegt diese kleine Oase für innovative Ökologie. Zu Besuch kommen darf jeder, helfen erst recht. Zu tun gibt es immer etwas. Und wer regelmäßig mitwirkt, nimmt neben dem Spaß und Wissen konkret noch mehr für sich mit: selbst angebautes Obst und Gemüse, Kräuter, Honig und Marmeladen.


KÖLNER ORTE

Naturpädagogisches Angebot Vor etwa fünf Jahren erfuhr Günter Seiffert, gemeinsam mit Manfred Hebborn Hauptorganisator der Naturstation, von dem knapp 17.000 Quadratmeter großen ehemaligen Gebiet der Gärtner der Stadt Köln, das vernachlässigt und stark verwildert war. Kurzerhand beschloss er, dass man mit diesem Ort etwas Wertvolles anfangen sollte. Nachdem er von der Stadt die Nutzung der Fläche genehmigt bekam, begann er, zusammen mit vielen freiwilligen Helfern und den Bürgervereinen Flittard und Stammheim sowie städtischen Imkern, das Gelände instand zu setzen. „Das gesamte Areal war völlig verwahrlost und auch das dazugehörige Haus musste erst einmal renoviert und innen komplett erneuert werden. Finanziert wurde das durch Geldund Sachspenden, die uns erlaubten, relativ zügig zu arbeiten“, erklärt Seiffert.

Mittlerweile ist aus dem verwilderten Grundstück ein ordentlich strukturiertes und liebevoll gepflegtes Gebiet geworden, mit angrenzendem Waldstück, Streuobstwiese und kleinem Garten. Auch Bienenstöcke finden dort ihren Platz, genauso wie Insektenhotels und Vogelkästen. Jeden Mittwoch ab 14 Uhr treffen sich die Mitglieder der Interessengemeinschaft, um zu arbeiten und zu planen, jedoch auch, um neue Helfer zu begrüßen und Besucher zu empfangen. Auch bei den Stammheimer Kindergärten und Grundschulen ist die Naturstation in den Jahresplan integriert. „Wir bieten regelmäßig Führungen, Kräuterkunde und Vogelbeobachtung für die Klassen und Gruppen an. Das ist fester Bestandteil unserer Arbeit“, sagt Seiffert. Sogar ein Weidentipi und diverse andere Überraschungen wurden eigens für die kleinen Besucher errichtet, um ihnen das Lernen noch schmackhafter und spannender zu gestalten. An heißen Sommertagen lässt es sich wunderbar im Schatten des großen Walnussbaumes picknicken.

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KÖLNER ORTE

Rarität „Wealthy“ Im Obstgarten des Schlossparks und in der Das Konzept geht auf: Selbst Hand anlegen, Flittarder Rheinaue werden knapp 300 Bäu- um biologisch und ökologisch wertvolle me betreut; besonders stolz ist man auf die Ergebnisse zu erzielen, verbunden mit Nain Europa sehr seltene amerikanische Apfel- turschutz und -kunde. Hinzu kommen gut sorte „Wealthy“, die in den 50er Jahren von besuchte Veranstaltungen, auf welchen auch Bayer-Mitarbeitern hier angepflanzt wurde. der eigens hergestellte Honig verkauft wird Die rotgestreifte Herbstapfelsorte lockt nicht oder große Gemüsebeutel gegen eine kleine nur Besucher an, sondern auch Köche und Spende weitergegeben werden. Hier ist man Saft-Hersteller. Da die Bäume sehr alt sind mit Überzeugung und Freude bei der Sache, und bereits an Kraft verlieren, wurden im hofft allerdings auf noch etwas mehr tatkräfvergangenen Jahr neue angepflanzt, unter- tige Unterstützung. „Es wäre gut, wenn auch stützt durch Baumpaten, die nun bald ihre wieder mehr junge Menschen regelmäßig mit eigenen Früchte probieren dürfen. Günter anpacken würden. Wir haben viel vor und Seiffert freut sich: „Wir haben das Ganze können immer Hilfe gebrauchen“, sagt Seifals eine Art Aktion aufgezogen und es war fert. Zuversichtlich ist der Stationsleiter aber. schön, zu erleben, wie schnell sich Leute fan- „Das wird schon.“ Stillstand ist für ihn inmitden, die begeistert mit angepackt haben und ten dieses Kleinods Natur keine Option. nun ihren ersten eigenen Äpfeln entgegenfiebern. Familien, Kinder – jeder hat mit Lust und Elan gegraben, gepflanzt und geholfen.“ TEXT /// DAKINI BÖHMER FOTOS /// VIOLA SOPHIE WEITERE INFOS /// @FACEBOOK: NATURSTATION STAMMHEIMER SCHLOSSPARK


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KÖLN-SZENE

Auch heute sind zahlreiche Berufe noch Männerdominiert. Dieses Phänomen ist einfach nicht aus unserem Gesellschaftsbild zu verbannen. Im Bereich Design und Journalismus haben sich fünf junge Frauen zusammengeschlossen. Mit ihreR „And She Was Like: BÄM!“-Initiative wollen sie der Debatte neuen Schwung geben.


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WEITERE INFOS /// WWW.ANDSHEWASLIKEBAM.DE WWW.YVONNERUNDIO.DE WWW.FACEBOOK.COM/ANDSHEWASLIKEBÄM

schlossen werden. „BÄM! Talks“ geht bereits in die vierte Runde. Es sind offene Gespräche mit wechselnden Interview-Gästen im „Solution Space“ in der Innenstadt. Hier wird mit geladenen Rednern aus der Kunst- und Kreativszene der Abend verbracht. Man spricht über Netzwerke, Künstlersein oder Vorbilder, ein reger Austausch entsteht. „Wir müssen viel mehr miteinander reden. Und ganz wichtig dabei ist heutzutage auch das Vernetzen“, sagt Luise. „Außerdem muss klargemacht werden, dass Feminismus nicht geschlechterspezifisch ist – Feminismus geht uns alle an.“

Fragen rund um Feminismus und Emanzipation werden immer wieder heiß diskutiert. Während dabei schnell viel gestritten oder gezetert wird, haben Yvonne Rundio, Lisa Pommerenke, Leonie Pfennig, Lisa Long und Luise Pilz das Thema lieber konstruktiv angepackt und eine Initiative gegründet. „And She Was Like: BÄM!“ beschäftigt sich in erster Linie mit der Gleichstellung von Mann und Frau in Beruf und Gesellschaft. „Wichtig dafür ist ganz besonders, dass Frauen sich Und es hat BÄM gemacht untereinander stärken, anstatt zu konkurrie- Abgesehen von den regelmäßigen Diskussiren“, sagt Yvonne. „Sie wollen oft gern alles onsrunden macht die Initiative auch online auf eigene Faust schaffen, dabei kann man auf die Arbeit von Künstlerinnen aus vergemeinsam doch viel mehr erreichen.“ schiedenen Bereichen aufmerksam, unterIm Juli 2015 gab es die Auftaktveranstal- stützt und wirbt. Außerdem sind Ausstelluntung „And She Was Like: Let’s have dinner gen geplant sowie ihre Vereinsgründung und together!“, bei der 20 junge Frauen zum eine lebendigere Internet-Präsenz. Leonie ist Abendessen im freien Kunstraum SSZ Süd zuversichtlich: „Man kann in diesen Zeiten eingeladen wurden, um zusammen über Ge- eine Menge Plattformen nutzen, es gibt viel schlechterrollen, Statistiken und die kreative mehr Möglichkeiten als noch vor ein paar Szene im Rheinland zu diskutieren. Jahren und wir merken, dass das Interesse zunimmt und immer mehr Frauen mit Freude und Elan bei der Sache sind.“ Ohne Männer und mit Wer nun neugierig geworden ist, sollte Mittlerweile hat sich die Interessengemeinschaft etabliert; ein Ort für ihre festen Frauen- bei der nächsten Veranstaltung reinschauen Stammtische wurde auch gefunden: die Alte – abgesehen von Informationen, Inspiration Lederei in Ehrenfeld. „Unsere gemeinsamen und interessanten Gesprächen, gibt es immer Abende sind immer inspirierend und dabei auch eine gehörige Portion Spaß. Das ist auch sehr locker. Ohne Männer entsteht doch eine dem Team von „And She Was Like: BÄM!“ ganz andere Stimmung, viele Frauen trauen zu verdanken. sich, mehr und offener zu sprechen. Das ist immer wieder schön zu erleben“, so Lisa. TEXT /// DAKINI BÖHMER Jedoch gibt es mittlerweile auch VeranFOTOS /// LISA REITINGER staltungen, bei denen Männer nicht ausge-


02.04.2017 Sonntag 20:00

Mahler Chamber Orchestra, Teodor Currentzis

mit Werken von Sebastian Bach und Luciano Berio

08.04.2017 Samstag 20:00

Grigory Sokolov spielt Sonaten von Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven 22.04.2017 Samstag 19:00

Wolfgang Amadeus Mozart Così fan tutte (konzertant)

01.05.2017 Montag 11:00

ACHT BRÜCKEN Freihafen Ein ganzer Tag Musik bei freiem Eintritt

03.05.2017 Mittwoch 20:00

Einstürzende Neubauten »Greatest Hits« (nur noch Restkarten erhältlich)


05.05.2017 Freitag 20:00

Käptn Peng, Inna Modja, Malikah, s t a r g a z e u. a. »Spitting Chamber Music« 20.05.2017 Samstag 20:00

Tom Gaebel & His Orchestra »So Good To Be Me«

25.05.2017 Donnerstag 11:00

Tabadouls Musi CousCous für Kinder ab 6

31.05.2017 Mittwoch 20:00

Schumann Quartett

mit Werken von Wolfgang Amadeus Mozart, Samuel Barber, Ludwig van Beethoven u. a.

koelner-philharmonie.de 0221 280 280 Abos: 0221 204 08 204

Fotos: Guido Erbring, Heike Fischer, Christoph Jorda / Lookphotos, Einstürzende Neubauten, Zippo Zimmermann, Christoph Kassette, Philip Lethen, Kaupo Kikkas

Konzert-Highlights April bis Mai 2017

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FOTOSTRECKE

WIR WAREN HIER


FOTOSTRECKE

WEITERE INFOS /// ANDI WAHLE WWW.ANDIWAHLE.COM

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Mit dem eigenen sozialen Umfeld kommt jeder auf unterschiedliche Art und Weise in Berührung. Andi Wahle hat versucht, seine sozialen Schnittstellen zu systematisieren: „Diese Feuerzeuge sind mein Diebesgut. Ich habe nicht nur deins geklaut, sondern auch die Feuerzeuge deiner Eltern und Freunde. Daneben stelle ich einen Gesamtüberblick einer WhatsApp-Gruppe: Geburt, Leben und Sterben von ‚Izzys Abschied‘.“ Das Willkürliche und Absurde wird zunächst formal strukturiert, das Unvorhersehbare aber inhaltlich zum einzigen Gesetz. Als Reaktion darauf komplettiert er diesen Dreiklang mit einem generativen Gemälde. Sich selbst durch unterschiedliche Verdünnungsgrade neu sortierende Farben wollen eines sagen: Das hier können nur Momentaufnahmen sein.


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FOTOSTRECKE

WEITERE INFOS /// LISA REITINGER LISA-REITINGER@WEB.DE


FOTOSTRECKE

Hinter jedem Kaugummi, jedem Schnipsel, jedem Strich und jeder Kerbe steht ein Mensch, der einmal geklebt, gerissen, gemalt und gekerbt hat. Die Welt wird größer, wenn man die Spuren derer sieht, deren Leben hier zusammentrafen. Lisa Reitinger hat Orte fotografiert, an denen Menschen unbewusst oder bewusst mit einfachsten Mitteln ihre Umwelt gestaltet haben. Aus vielen individuellen Spuren wurde so mit der Zeit ein kollektives Gesamtwerk. Die Bewusstmachung, dass jede dieser Spuren zu einem Individuum gehört, muss jeder für sich selbst auslegen: „Bin ich ein Individuum, das mitgewirkt hat am großen Ganzen, oder ein Individuum, das untergeht im großen Ganzen?“

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MUSIK

JENSEITS DES PRAKTISCHEN

The Hacking Orchestra erforscht die Beschaffenheit von Milchaufschäumer, Kleiderbügel und anderen Gegenständen und deutet diese audiovisuell um.


MUSIK

Das Projekt „The Hacking Orchestra“ hat seinen Ursprung an der Köln International School of Design (KISD): Während einer Diskussion keimte bei den Lehrenden Prof. Nina Juric und Prof. Andreas Muxel, die in den Forschungsbereichen ‚Image & Motion‘ und ‚Interaction Design‘ aktiv sind, der Wunsch nach einem gemeinsamen Lehrprojekt. Es sollte Experiment und angewandte Designpraxis zugleich sein. Eine Gruppe von Studierenden bekam daher die Aufgabe, in einem zeitlich stark beschränkten Rahmen eine Band zu gründen, Tracks zu entwickeln und diese abschließend live auf einer Bühne zu präsentieren. Zentral hierfür war, dass Gegenstände aus ihrem Kontext gelöst, neu entdeckt und audiovisuell interpretiert werden sollten. Hierher rührt auch der Name „The Hacking Orchestra“: Die Gegenstände wurden zweckentfremdet oder eben „gehackt“.

Raum für Entdeckungen

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TEXT /// MIRIAM BARZYNSKI FOTOS /// KÖLN INTERNATIONAL SCHOOL OF DESIGN

Gewohnheiten aufbrechen

Innerhalb von zehn Tagen erforschten die Bereits während der Arbeit am Projekt spielte Studierenden, wie man Alltagsgegenstände in die Atmosphäre bei der improvisatorischen einem audiovisuellen Rahmen umfunktioKlangtüftelei eine erhebliche Rolle: Eingenieren kann. Schnell war klar, dass nahezu setzte Scheinwerfer und Overheadprojektoren jeder Gegenstand als Schlaginstrument einwandelten die Stimmung, die wiederum den setzbar ist. So wurde weiter experimentiert, Klangverlauf beeinflusste. Aber auch das abHintergrund-Sounds wurden mit dem Comschließende Aufführen vor Publikum war puter hinzugefügt, zu denen die Gruppe dann essentiell für den Gedanken hinter dem mit Materialen wie z.B. Papier und Besen verProjekt: Die Studierenden spielten bewusst schiedene Spieltechniken ausprobierte. Spanmit den Erwartungen der Zuschauer in Bezug nend während des kreativen Prozesses war, auf die verwendeten Gegenstände. Während wie die unterschiedlichen Stile, Geschmäcker bei der reinen Musik die Klangquelle nicht und musikalischen Fähigkeiten im Team das zwingend zuzuordnen ist, bricht die HinErgebnis beeinflussten und sich die zeitliche zunahme einer visuellen Komponente noch Einschränkung auf Improvisationsfähigkeit deutlicher mit der Gewohnheit der Zuhörer und die unmittelbare Kreativität auswirkte. und -schauer. Denn die Alltagsgegenstände All diese Faktoren formten am Ende das große werden nicht in erster Linie mit musikaliGanze, das klangliche Resultat der Schaffensschen Attributen in Verbindung gebracht. Die dezime ist ein Album aus vier Tracks namens Performance visualisierte so die Wandelbar‚Noisepatterns‘. Doch alleine der Sound war noch keit der Dinge und regte auf diese Weise einen lange nicht genug. Was passierte nun bei der neuen Blick auf unterbewusste ErwartungsErweiterung durch eine visuelle Komponente? muster an. Obwohl der zeitliche Druck nun wegfällt und das Experiment erfolgreich abgeschlossen werden konnte, möchte „The Hacking Orchestra“ weitermachen, den Blick und die Ohren für Gewohntes in anderem Gewand weiter öffnen.

WEITERE INFOS /// WWW.THEHACKINGORCHESTRA.COM


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Musik in KÖLN

Das ist unsere Plattform für Musiker aus und in Köln. Egal, ob ganz frisch im Geschäft, etabliert oder kurz vor dem großen Durchbruch: Die Bands und Künstler leisten ihren kleinen Beitrag und helfen, diese Seite zu produzieren. Interesse? E-Mail an: redaktion@null22eins-magazin.de

PUNK-POP-MONSTER

INTO THIS

Das Debütalbum „Monster We Created“ Synthesizerklänge und vor allem eingängige der Kölner Band Into This zeigt, dass es Melodien. möglich ist, zwischen modernem Radiopop Into This starten in diesem Jahr durch. und klassischem Punkrock ein Zuhause zu Am 8. Juli beispielsweise spielen sie im finden. Fünf Jahre harte Arbeit haben die Rahmen des Open-Air-Festivals Rockaue Musiker um Frontmann Christian Löw in in Bonn auf der Talentstage. Into This sind die Produktion investiert, in denen das Christian Löw (vocals | guitar), Alessa Man„Monster“ bezwungen und zugleich erfolg- gesius (guitar | keys | vocals), Nico Cronau reich am Leben gehalten wurde. So sind (bass) und Christoph Kreer (drums). viel Schweiß und Herzblut in das Projekt geflossen und Into This konnten in diesem Zeitraum ihren eigenen musikalischen Stil schaffen. Mit Erfolg: 2016 nahm das Label 7music die Band unter Vertrag. Seit Februar 2017 ist die Platte im Handel und bietet den Hörern treibende Gitarrenriffs, ausgefallene

WEITERE INFOS /// WWW.FACEBOOK.COM/INTOTHIS WWW.INTO-THIS.COM


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HIP-JAZZ-SINGSANG

BAMBUS BJÖRN Einflüsse und Inspirationsquellen der Band liegen sehr weit gestreut – von Soul, Funk, Jazz bis zu Afrobeat und deutschem Schlager. Der kleinste gemeinsame Nenner zusammen mit MC und Sängerin ergibt dabei eine relativ freie, aber keineswegs experimentelle Mischung aus klassischen HipHop-Grooves, Jazz-Akkorden und souligem Singsang. Auch wenn die Vermischung

musikalischer Stile wie Hip-Hop und Jazz schon lange nichts Neues mehr ist, entwickelt die Band einen eigenen, groovenden und in sich ruhenden Sound. Genießbar im Sitzen genauso wie auf der Tanzfläche.

WEITERE INFOS /// WWW.FACEBOOK.COM/BAMBUSBJOERNCOLOGNE WWW.SOUNDCLOUD.COM/BAMBUS-BJOERN

null22eins – artishocke e.V. Um unser Magazin auch künftig in die Hände zu bekommen, braucht es Unterstützung: Durch Spenden oder eine Mitgliedschaft im Verein für 60 Euro im Jahr. null22eins-magazin.de/spenden Oder über Anzeigen, auch von uns gestaltete: null22eins-magazin.de/werben 300 Euro für eine halbe, 510 Euro für eine ganze Seite oder 810 Euro für eine Doppelseite.


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NATUR

RAUS AUS DER STADT TEXT /// STEFANIE PÖRSCHKE ILLUSTRATION /// ALICJA KMITA

ein Zeltplatz auf bemoostem Gras mitten im Wald zwischen Blaubeerbüschen und dem baumumsäumten Badeteich, ohne Strom, Warmwasser und Handyempfang. So startet die Woche „Bergwaldprojekt“ in Triberg im Schwarzwald.

zu Boden, so dass ich mich bald an die HandDie Gruppe besteht aus drei gut gelaunten Ingenieuren, Studenten, Lehrern und Büro- sägen wage und die Stämme jüngerer Bäume bearbeite: Links ansägen, dann von der anmenschen sowie einigen kräftigen Typen, die auch beruflich „was mit Bäumen“ machen. deren Seite her durchsägen. Wir stehen in einem Mischwald inmitten hüfthoher Blaubeerbüsche und Projektleiter Städter und andere mitten im Wald Andreas demonstriert den Umgang mit den Dieter, walderfahren, pensionierter KranWerkzeugen an einigen jungen Bäumen. Ich kenpfleger und mit 76 Jahren der Gruppenarbeite zusammen mit Steffi, die sonst phar- älteste, schaut mir kritisch zu und mahnt: mazeutische Assistentin in einer Apotheke „Das ganze Sägeblatt nutzen!“ Als der Stamm ist; wir benutzen armlange Astscheren. Nach nachgibt und ich meine erste größere Fichersten Versuchen fallen schnell dickere Äste te mit einem satten FOPP zum Waldboden


NATUR

befördere, nickt er kurz: Gut gemacht. Im Laufe der nächsten Stunden bilden sich große Haufen aus gefällten Bäumen und Schnittgut um uns herum, während sich unsere Gruppe allmählich durch den Wald arbeitet. Hin und wieder rufen Menschen, die ihren Arbeitstag sonst im Büro verbringen: „Ach-tung! Baum fällt!“ Der Wald riecht gut. In den kommenden Tagen sind wir an mehreren „Baustellen“ eingesetzt und unter Anleitung von Andreas räumen wir auf: Wir fällen kranke Bäume, bearbeiten eine weite, völlig zugewachsene Wiese mit Sensen und Freischneidern und rollen die fluffigen Unkrautballen die Böschung hinab. Wir arbeiten an einem Steilhang und auf einer Totholzbresche. An einem Hang, der von altem Holz völlig zugedeckt ist und an dem wir, auf rutschigen Stämmen stehend, die aus den Zwischenräumen hochwachsenden Bäume fällen. Bei einem Einsatz rund um eine alte Blockhütte des THW bauen diejenigen aus dem Holzgewerbe ein Gerüst und decken das morsche Dach ab. Später toben wir uns mit Sensen auf einem zugewucherten Wanderpfad aus. Es ist die helle Freude, den noch feuchten Wildwuchs, die Brennnesseln, Farne und Stauden in weiten, gleichmäßigen Bewegungen niederzumähen und sich langsam durchs Dickicht zu arbeiten.

Hinter der gemeinsamen Arbeit Zurück im Lager nach getaner Arbeit verläuft sich die Gruppe – zum Sprung in den kleinen Badesee, zum Nickerchen ins Zelt oder auf der Suche nach einem ruhigen Platz, während man darauf wartet, dass die Dusche frei wird. Die ist eine Kabine aus Kunststoff neben unserer Zeltwiese, mit buntgestreiftem Vorhang als Sichtschutz. Drinnen steht ein weißlackierter Holzofen, der über eine Klappe von außen angefacht wird und das Wasser aufheizt, so dass man tatsächlich heiß duschen kann. Auf dem Dach ein altes Ofenrohr, aus

dem der Rauch in den Abendhimmel steigt. Dann gibt es Essen: Im Mannschaftszelt sind die langen Biertische eingedeckt. In allen Bergwaldprojekten wird rein vegetarisch gekocht, was für einige Teilnehmer eine echte Herausforderung ist: „Erst schuftet man den ganzen Tag im Wald und dann gibt‘s nichtmal ein ordentliches Stück Fleisch.“ Arne, der spröde Koch aus Hamburg, trägt die großen Töpfe herein und stellt kurz die heutige Mahlzeit vor: Wildreis mit Zucchini-Auberginencurry, dazu Pflücksalat mit Bärwurz von der Wiese und zum Abschluss: Schokomousse mit Chili. Yvonne, eine der beiden Veganerinnen erklärt uns, wie sie ihren Freund von fleischfreier Ernährung überzeugt hat und dass er inzwischen echt gerne das biologisch abbaubare Duschgel nutzt, das sie ihm gekauft hat. Die drei Ingenieure wechseln vielsagende Blicke miteinander. Ob mit Fleisch oder ohne: Das Essen ist fantastisch, abends abwechslungsreich und gut gewürzt, morgens mit frisch angerührtem Müsli und Käse am Stück. Die Milch kommt aus Flaschen und das Bier aus der Region. Vermutlich ist das Bergwaldprojekt die einzige Organisation, die sowohl von StihlKettensägen als auch von Rapunzel-Biokost gesponsert wird. Noch nie habe ich erlebt, dass so viele Menschen für eine Woche zusammenkommen und dabei so wenig Abfall produzieren. Da nur wenige Lebensmittel aus dem Supermarkt verwendet werden, gibt es fast keinen Verpackungsmüll.

Ruhe am Abend – und erkenntnisse Elektrisches Licht gibt es nicht und geschafft vom Tag ist man auch. Ermattet sitzen wir ums Feuer herum, trinken kaltes Bier aus dem Brunnen und schauen in die Glut. Sabine, Personalerin und Marathonläuferin vom Bodensee, erzählt von einem „Vertrauenswochenende“, an dessen Ende sie angeblich

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barfuß über glühende Kohlen gehen konnte. Sven aus Berlin zeltet als freiwilliger Tester für einen Schlafsackhersteller jeden Januar in den Alpen und der Tischler Heiko gibt Anekdoten aus seinen Wildniskursen zum Besten. Der stille Lars betreibt MMA, Mixed Martial Arts, Vollkontaktkampfsport in Käfigen vor großem Publikum. Andrea ist Orgelspielerin und wird als nächstes in verschiedenen Kirchen am Tegernsee arbeiten. Man tauscht Wissen über Fernwanderwege aus und über die regionalen Verschiedenheiten bei einer Mitgliedschaft im Deutschen Alpenverein. Krasse Dialekte prallen aufeinander, von Flensburg bis zum Bodensee ist alles dabei und lustig sind die Missverständnisse, die entstehen: Die Schwäbin Marie zum Beispiel nimmt den Teppich mit ins Freibad. Die Holzleute fachsimpeln über die große Forstmesse Interforst, über Dinge wie Wert-Astung, Auerhuhnbiotope und die artenreiche Borstengraswiese. Die Baumkletterer schwärmen von der letzten Baumklettermeisterschaft in Celle, von neuen Techniken, Seilen, Knoten und von schnittfesten Hosen. Beim Blick auf die Bierflasche fällt jemandem auf, dass die Zapfen auf den Rothaus-Bierflaschen gar keine Tannen-, sondern Fichtenzapfen sind. Die Entrüstung ist groß. Bis morgens um 4 halten wir das Feuer am Brennen, danach ein kurzer Schlaf im Zelt, bevor der Weckruf ertönt: Andreas schreitet die Zelte ab und ruft in einer Art Singsang sein „Sechs Uhr. Guten Morgen. Aufstehen. Diesen Sonnenaufgang sollte man nicht verpassen. Aufstehen!“ Gemeinsames Zähneputzen auf der Wiese, ein schnelles Frühstück mit starkem Kaffee unter freiem Himmel, dann geht’s wieder an die Arbeit. AKTUELLE PROJEKTE UND INFOS/// WWW.BERGWALDPROJEKT.DE


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KÖLN-SZENE


KÖLN-SZENE

Das wirklich andere BusreiseUnternehmen „Auf EXTRATOUR“ – ein Sympathischer Ansatz in Ehrenfeld.

SEIN ­EIGENER HERR SEIN

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mens vorzudringen. Nicht zuletzt ist das ein Vorkommnis mit angenehmem Fossil-Geschmack auf meinem Weg zu einer Story, die Pankoke und Backes seit drei Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht zu befahren pflegen. Den Ausläufern linker politischer Jugendkulturen der 1960er entstammen beide. Jochen studierte in den 1970er Jahren Sozialarbeit in Berlin, Willfried in Köln. Dort war das Pflaster nicht minder politisch heiß auf dem Weg in die 1980er. Häuserkampf ums Stollwerk und in der Weißhausstraße, die aus der Fachhochschule für soziale Arbeit hervorgegangene SSK: Das war der Alltag für junge Leute, die den braunen NachkriegsSud endgültig hinter sich lassen und dabei offensiv, aktiv, pragmatisch sein wollten.

Ihre Büroräume erinnern an einen Mix aus Bastian Balthasar Bux‘ Entrée zu seiner riesigen Bibliothek und den unaufgeräumten Schreibtischen arbeitsamer Autoren des frühen 20. Jahrhunderts. Ein bisschen Atelier von Giacometti ist auch dabei. Umso eindringlicher, den letzten journalistischen Blick auf ein Stück verschwindender VeedelsGeschichte zu werfen, die vermutlich letzten professionellen Bilder eines sympathischen Chaos in einer einzigartigen Unternehmenskultur machen zu dürfen. Wir befinden uns in einem Unternehmen in Ehrenfeld. Einem, das seit 30 Jahren in den Räumlichkeiten am Einfach alternativ Ehrenfeldgürtel residiert und dessen Tage Aber es musste auch rangeschafft werden. in diesem Domizil gezählt sind. Der Umzug So kamen Jochen und Willfried mit zwei nach nebenan steht unmittelbar bevor. Mitstreitern Mitte der 1980er auf die Idee, Jochen Pankoke und Wilfried Backes ein alternatives Busreiseunternehmen zu sind beispielhafte Gastgeber. Die Chefs ih- gründen, eines zum Anfassen, wo die Leute res Zwei-Mann-Busreise-Unternehmens Auf vom Fahrer nicht nur transportiert, sondern EXTRAtour bedeuten mir, einfach einzutre- persönlich betreut werden, wo Beziehung ten, als ich am Morgen unserer Verabredung sein kann und darf während gemeinsam an die Fensterscheibe zu ihrem Büro klopfe. verbrachter Zeit. Wo die Fahrer auch mal Die Tür ist auf, keine Empfangsdame hin- die Buchung im Büro entgegennehmen dert mich daran, in das Herz des Unterneh- und die Reisen zusammen ausbaldowern


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KÖLN-SZENE

wie ein Verlagsprogramm für die kommende Saison. So fing das damals an. Einfach menschenwürdig arbeiten, flache Hierarchien, „Softskills“, so nennt sich das heute. Als die Begriffe dazu noch nicht mal erfunden waren, bedeutete diese Prämisse für die Jung-Unternehmer vorausgehende Selbstverständlichkeit. Die Firma funktionierte von Beginn an über die Persönlichkeit ihrer Inhaber. Und nur so konnte und kann sie bis heute die herauf kommenden Stürme in der Branche überleben. Als DeinBus 2011 erfolgreich gegen das steinalte, von der Bundesbahn jahrzehntelang alleinherrschaftlich genutzte Fernlinienmonopol klagte und der darauf folgende Kampf um die zu befördernde Kundschaft die Preise nach unten trieb, als diese Entwicklung schließlich einen Branchen-Riesen mit über 80 Prozent Marktanteil zurückließ und als nicht zuletzt das Internet als Buchungsplattform den persönlichen Kontakt auf dem Weg zu einer Individual- oder Gruppenreise immer weiter dezimierte: Das war die härteste Zeitenwende auf dem Markt. Das Ergebnis ist bekannt, Flix-Bus hat gesiegt, schluckt konsequent die anderen Fernlinienanbieter. Aber Auf EXTRAtour ist dabei nicht auf der Strecke geblieben.

„Wir sind ein Tante Emma Laden der wieder mehr Luxus und weniger Abenteuer. Branche. Und ob es das bei der rasanten Ent- Überdies sind große Europa-Touren anderer wicklung in zehn Jahren noch geben wird?“ Anbieter nicht konkurrierbar. Aber ein Blick Jochen ist sowohl realistisch als auch zuver- auf das reichhaltige und sehr persönlich zusichtlich. Zu speziell ist das Angebot, um sammengestellte Angebot lohnt in Zeiten Trübsal zu blasen. Und es war immer schon kartellähnlicher Zustände auf dem Fernharte Arbeit, das Rad am Laufen zu halten. busmarkt mehr denn je. Fahrten nach SüdDas ist es heute nicht minder. Kein Zurück- england oder Irland sind zum preiswerten lehnen im Ohrensessel einer zusehends her- Klassiker geworden, Tagestouren z.B. nach aneilenden Pensionierung ist in Sicht. Wobei Amsterdam oder auf die Documenta nach den selbständigen Vätern früh klar war, dass Kassel sind sensationell günstig. Das Fest war schön. Das letzte Mal im andie eigenen Kinder das Unternehmen nicht gestammten Domizil. Ein wehmütiger Punkt: weiterführen werden. Nach über 30 Jahren EXTRAtour wird das Haus am Ehrenfeldgürtel 112 als nicht länger Tante Emma oder Luxus? Indes hat sich der Geist der frühen Tage bis erhaltenswert erachtet und ein Umzug in die heute gehalten: Wenn z.B. – wie unlängst ge- unmittelbare Nachbarschaft unumgänglich. schehen – ein Bus als Pressekonferenzraum Die Abrissbirne wartet, Neubau macht mehr für das antifaschistische Aktionsbündnis Geld, also muss man bald raus. Aber das ist Köln gegen Rechts kostenlos zur Verfügung eine andere Kölner Veedels-Geschichte. Keigestellt wird, um gegen den im Maritim ne schöne, aber auch eine, die Auf EXTRAtour überleben wird. geplanten Aufmarsch der AfD zu agitieren. Letzten Sommer war ihr 30-jähriges Jubiläum. Viele Leute kamen an den Ehrenfeldgürtel 112. Der Großteil der Kundschaft ist den beiden namentlich bekannt. Es ist eine TEXT /// ANDREAS RICHARTZ treue Gemeinde, die über die Jahre entstand. FOTOS /// ANDI WAHLE Früher waren noch mehr Familien dabei. Doch die Kinder sind groß geworden. Und WEITERE INFOS /// die nachwachsende Generation will heute WWW.EXTRATOUR-KOELN.DE


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WISSENSCHAFT

Schein oder Sein TEXT /// LEA-MARIE LEPPER ILLUSTRATION /// ION WILLASCHEK


WISSENSCHAFT

Der Halo-Effekt beschreibt ein Wahrnehmungsdefizit des Menschen, welches dazu führt, dass wir schönere Menschen auch als bessere Menschen wahrnehmen. Der Begriff wurde durch die Studie „What is Beautiful is Good“ der Wissenschaftlerinnen Karen Dion, Ellen Berscheid und Elaine Walster geprägt. Sie legten Testpersonen Fotos vor, anhand derer diese den Charakter der abgebildeten Menschen beurteilen sollten. Hierbei entdeckten sie, dass wir attraktiveren Menschen, egal welchen Geschlechts, mehr positive Fähigkeiten und Charaktereigenschaften zuschreiben als anderen. Wir halten sie für sowohl körperlich als auch psychisch gesünder, glücklicher, netter, selbstsicherer, durchsetzungsfähiger und kompetenter. Aufgrund der aufwühlenden Ergebnisse ihrer Studie, machten es sich die Wissenschaftlerinnen zur Aufgabe, den HaloEffekt weiter zu untersuchen. Sie testeten ihre Ergebnisse in der Praxis und fanden heraus, dass wir schöne Menschen tatsächlich in allen Lebenslagen bevorzugen. Nicht, weil wir sie übervorteilen wollen, sondern weil wir ihnen mehr zutrauen als anderen.

„Halo“-Schein als Spiegel wahrer Schönheit? Dass wir eine höhere Meinung von schönen Menschen haben, schlägt sich überall nieder. Karen Dion hat im Laufe der Studie Erzieherinnen Fallbeispiele von Kindern vorgelegt, die diese bewerten sollten. All diese fiktiven Kinder hatten in einem Schneeball einen Stein versteckt und damit ein anderes Kind verletzt. Waren die Kinder auf den beigelegten Fotos hübsch, galt ihr Vergehen als einmalige Entgleisung, waren sie weniger attraktiv, wurde ihnen eine kriminelle Laufbahn vorausgesagt. Wie abzusehen, zieht sich dieses Schema durch das gesamte Leben. Schöne Schüler bekommen bessere Noten bei gleicher Leistung (Zebrowitz), schönen Menschen wird bei Autopannen schneller geholfen, bei Spielen und Wettkämpfen gönnen wir den Schönen mehr (Murray, Driskell). Diese Entwicklung geht so weit, dass Menschen mit ansprechendem Aussehen bessere Chancen haben, aufgrund ihres Bewerbungsfotos einen Job zu bekommen. Vor allem aber verdienen die Bevorteilten bei gleicher Tätigkeit etwa fünf Prozent mehr als der Durchschnitt und werden schneller befördert (Hamermesh, Biddle + Frieze, Olson, Russel + Webster, Driskell). So gesehen, leben wir in einer von Schönheit bestimmten Klassengesellschaft und unterstützen diese Entwicklung, indem wir unbewusst das Vorurteil von schön und gut immer weiter tragen. Das Wissen um diese Studien sollte uns daher die Möglichkeit eröffnen, selbst zu entscheiden, wer wir sind und wie wir auf andere blicken wollen. Denn als denkende Wesen sind wir glücklicherweise in der Lage, uns von einengenden Idealen zu befreien, wenn wir diese erkennen.

DER IN DIESEM ARTIKEL VERWENDETE BEGRIFF VON „SCHÖNHEIT“ WIRD DURCH EMPIRISCHE STUDIEN FESTGELEGT. DIESE LAUFEN MEISTENS NACH DEM GLEICHEN SCHEMA AB: TESTPERSONEN WERDEN BILDER VON VERSCHIEDENEN MENSCHEN GEZEIGT, DIE DIESE AUF EINER SKALA VON EINS BIS FÜNF NACH IHRER ATTRAKTIVITÄT BEURTEILEN SOLLEN. SO WERDEN BESONDERS „SCHÖNE“ ODER „HÄSSLICHE“ GESICHTER ERMITTELT. ZU ZEITEN DER „HALO“-UNTERSUCHUNG WURDEN DIESE BEFRAGUNGEN NOCH IN EINKAUFSZENTREN ODER MIT STUDIERENDEN VORGENOMMEN. HEUTE LAUFEN SIE HAUPTSÄCHLICH ÜBER INTERNET-UMFRAGEN ODER BERUFEN SICH AUF BEREITS BEKANNTE, MEIST WELTWEITE UNTERSUCHUNGEN. „WHAT IS BEAUTIFUL IS GOOD“ VERFASST VON: KAREN DION, ELLEN BERSCHEID, ELAINE WEBSTER // ZUERST ERSCHIENEN IN: JOURNAL OF PERSONALITY AND SOCIAL PSYCHOLOGY, VOL. 24, NO. 3, 1972 „LOOKING SMART AND LOOKING GOOD: FACIAL CUES TO INTELLIGENCE AND THEIR ORIGINS“ VERFASST VON: LESLIE A. ZEBROWITZ, JUDITH A. HALL, NORA A. MURPHY, GILLIAN RHODES // ZUERST ERSCHIENEN IN: PERSONALITY AND SOCIAL PSYCHOLOGY BULLETIN, VOL. 28, NO. 2, 2002 „BEAUTY AS STATUS“ VERFASST VON: MURRAY WEBSTER, JAMES E. DRISKELL // ZUERST ERSCHIENEN IN: AMERICAN JOURNAL OF SOCIOLOGY, VOL. 83, NO. 1, 1983 „BEAUTY AND THE LABOR MARKET“ VERFASST VON: DANIEL S. HAMERMESH, JEFF E. BIDDLE // ZUERST ERSCHIENEN IN: THE AMERICAN ECONOMIC REVIEW, VOL. 84, NO. 5, 1994 „ATTRACTIVENESS AND INCOME FOR MEN AND WOMEN IN MANAGEMENT“ VERFASST VON: IRENE H. FRIEZE, JOSEPHINE E. OLSON, JUNE RUSSEL // ZUERST ERSCHIENEN IN: JOURNAL OF APPLIED SOCIAL PSYCHOLOGY, VOL. 1, NO. 13, 1991

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PORTRAIT

„Ich bin umweltbewegt“

Christian Horsters ist ein umtriebiger Mensch. In einem Café erzählt er zur Begrüßung von seinem neuesten Einsatz als Lebensmittelretter. Dieser gut gelaunte Mann macht übrigens ab und zu auch Musik. Gerade kommt Christian Horsters – wacher Blick, weißer Lockenkopf, leuchtend rote Jacke – von einer alteingesessenen Bäckerei in der Ehrenstraße. Er will sie überzeugen, übriggebliebenes Brot an Food­ sharing zu spenden. Der Inhaber behauptet, abends kaum Ware übrig zu haben. Doch Horsters wollte sich selbst ein Bild machen und harrte bis Ladenschluss vor der Bäckerei aus. Sein Fazit: „Dort wäre noch viel zu holen. Aber natürlich wollen nur Wenige eingestehen, wie viel bei ihnen liegen bleibt.“ Horsters möchte verhindern, dass Lebensmittel auf dem Müll landen und engagiert sich dazu in Köln als selbsternannter „Backwarenexperte“. Frühmorgens um 4 Uhr fährt er auf seinem Fahrrad samt Anhänger vom Agnesviertel in den Kölner Norden, um recht­zeitig zur Stelle zu sein, wenn bei einer Großbäckerei die Lieferwagen mit den Retouren vom Vor-

tag eintreffen. „Die kommen in Wellen, in Nullkommanix stehen da 200 Körbe auf dem Hof.“ Dann ist er mittendrin, sortiert in der Dunkelheit mit flinken Händen Brot, Brötchen und Kuchen und lädt seinen Anhänger voll, bevor die Containerpresse den größten Teil zermalmt.

Die BrotfairTeiler Um möglichst viele Menschen mit seiner Abholaktion zu erreichen, wandte sich Horsters an die Thomaskirche im Agnesviertel. „Die Pfarrerin Eva Esche ist fast in die Luft gegangen, als sie hörte, das ganze Zeug gibt’s umsonst“, erzählt er. Der „BrotfairTeiler“ in der Thomaskirche war geboren. Der engagierte Mann möchte vor allem Menschen erreichen, die nicht viel Geld haben, und einen Raum bieten für Austausch und den gemeinsamen Genuss: „Unser Sortiment ist ja viel größer als das einer einzelnen Bäckerei. Das sind Men-


PORTRAIT

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gen, das sind Werte, das sind leckere Sachen die ich da kriege; die ich bekomme, die ich gebe. Dieses Schmerzlindernde der Musik.“ – das ist ein Traum“, schwärmt er. Die Auftritte sind für Horsters auch ein Genügend Zeit für sein Engagement hat er, seitdem er 2010 mit einem Youtube-Video Ventil, um Abstand zu gewinnen zu den als „DJ der guten Laune“ international be- Missständen, mit denen er sich tagtäglich Ständig in Bewegeung für die Umwelt kannt wurde. „Das Video hat mich aus dem konfrontiert sieht: die Zerstörung der Um- Heute versucht er, möglichst weitreichend zu bürgerlichen Leben katapultiert und mir welt, Verschwendung von Ressourcen. Auf- agieren. „Ich bin ja nicht nur Essensretter, ich die Möglichkeit gegeben, mich um meine gebracht hält er den kleinen weißen Behälter bin umweltbewegt“, sagt er. Foodsharing sei Umweltthemen zu kümmern.“ Das Video, in die Luft, der neben seiner Kaffeetasse lag: dabei nur eine Facette, doch Horsters möchte in dem man Horsters hinter einem DJ-Pult „Wenn ich sehe, wie ein Gastronom mit Ni- sich gegen die Verschwendung von Ressoursieht, wie er ekstatisch zappelnd Musik auf- veau Plastikdöppchen für Kaffeesahne hat, cen in allen Bereichen einsetzen: „Und wenn legt, wurde innerhalb weniger Wochen mil- dann mache ich Alarm, da mache ich ein ich den Flugverkehr revolutionieren könnte, lionenfach angeklickt. Plötzlich sprachen ihn Fass auf.“ Gedankenloser Konsum ist ihm ein dann mach ich auch das.“ Es geht ihm um Menschen auf der Straße an, er erhielt Anfra- Graus. Dass so viele Menschen gegen Massen- Bewusstseinsbildung, darum, für einen umgen von Musikagenturen, hatte Auftritte in tierhaltung sind und trotzdem Billigfleisch weltgerechten Konsum zu werben. Dazu hält Talkshows. „Als junger Mann wäre ich unter kaufen, den Schritt vom Gedanken zum er inzwischen auch Vorträge – den ersten die Räder gekommen. Aber ich war ja 55, als Handeln nicht gehen, ist ihm unbegreiflich. beim Erntedankfest in der Thomaskirche. Sein Engagement fordert seine ganze Auf- Für das Frühjahr hat ihn der Umweltbeaufdas losging. Ich bin wahnsinnig froh, dass es merksamkeit, verlangt ihm viel ab. „Meine tragte der Stadt Werther eingeladen, auf einer in dem Alter passiert ist.“ Frau sagt oft, dass ich zu emsig bin, dass ich Veranstaltung zu sprechen. zu viel gebe.“ Manchmal, frühmorgens auf Sein eigenes Viertel behält Horsters bei Alles zur rechten Zeit Er hängte seinen Job als Kaufmann bei einer dem Hof der Großbäckerei übermannen ihn all dem stets im Blick. „Mich bekümmert Textilfirma an den Haken und tourte durch das Ausmaß und die Realität der Verschwen- das Schicksal der ganzen Welt“, gesteht er, die Welt, spielte auf Festivals und in großen dung. Wenn er neben der Containerpresse „aber ich versuche, möglichst lokal etwas zu Diskotheken; zuletzt lud ihne eine Bank nach mit aller Kraft versucht, möglichst viel Brot ändern. So wie Ende 2016, als ihm ein ObSydney ein, um dort vor einem Publikum ge- vor der Vernichtung zu retten und doch nur dachloser auffiel, der seit einiger Zeit im Agcasteter, tanzender Senioren ein Werbevideo einen Bruchteil schaffen kann. „Das ist so nesviertel auf der Straße schlief. Er suchte für Altersvorsorge aufzunehmen. Der DJ der krank, wie das auf der Welt abläuft, wie in das Gespräch mit dem Mann und startete guten Laune will die Menschen bei seinen einer Familie, in der sich der eine kugelrund einen Spendenaufruf. In kurzer Zeit kam Auftritten emotional mitnehmen, für den frisst, während der andere hungert.“ Hors- genug Geld zusammen, um dem Mann über Zeitraum eines Sets eine Verbindung entste- ters stehen plötzlich Tränen in den Augen. die Weihnachtszeit einen Hotelaufenthalt zu hen lassen: „Technisch kann ich ja nicht DJ, „Ich weiß, ich darf das nicht zu nah an mich ermöglichen. Horsters‘ wachem Blick entgeht ich kann atmosphärisch DJ.“ Oft geht er auf ranlassen. Aber die Leute würden alle nur nichts. Aber wichtiger noch: Er versteht sich auch darauf, zu handeln. der Bühne selbst völlig aus sich heraus. Seine heulen, wenn sie das sehen würden.“ Horsters wuchs in, wie er sagt „ziemlich Augen leuchten, wenn er erzählt, wie er sich während eines Sets auf der Gamescom zwi- furchtbaren Verhältnissen“ auf. Geboren schen den Scheinwerfern hoch über der Büh- wurde er in Neuss, bald zog die Familie nach TEXT /// STEFANIE PÖRSCHKE ne wiederfand. Wie er auf das Gerüst geklet- Orsoy am Niederrhein, wo sein Vater eine FOTOS /// ALESSANDRO DE MATTEIS tert sei, ohne das geplant zu haben, einfach Kneipe führte. Die Eltern waren zerstritten, weil ihn die Stimmung vollends mitgerissen oft war auch Alkohol im Spiel. „Ich war imWEITERE INFOS /// hatte. Wenn man ihn nach dem Ursprung mer ein Revoluzzer, immer ein QuerschieWWW.SIMPLY-DJ.DE dieser überschäumenden Energie fragt, zö- ßer“, erinnert er sich. „Früher hatte ich nie WWW.THOMASKIRCHE-KOELN.DE gert er: „ … Vielleicht ist es das Defizit, das das Setting, das zu leben, ich hab das im KleiWWW.FOODSHARING.DE ich mit mir herumschleppe: die Zuneigung, nen praktiziert, aber völlig gebremst“.


LEBEN

Inklusion inklusive?

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Inklusion? Ja! – Aber wie? Durch die UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 ist Inklusion als Menschenrecht verankert. Rein theoretisch sollten also alle Menschen – mit und ohne Behinderung – an allen Lebensbereichen gleichberechtigt teilhaben können. Praktisch sieht es meist noch anders aus.

Antonia von Reden weiß aus eigener Erfah- sind wirklich rücksichtsvoller, wenn ich den rung, dass man als Mensch mit Behinderung Button trage“, sagt Antonia. „Oft bekomme sowohl mit physischen Hürden als auch ich Unterstützung angeboten, ohne darum mit Barrieren in den Köpfen von anderen bitten zu müssen.“ Nicht umsonst orientiert sich der Button zu kämpfen hat. Sie hat seit einem Unfall vor ein paar Jahren eine erworbene Hirn- in Farbgebung und Gestaltung an dem Blinschädigung und ist dadurch – laut Ausweis denzeichen und knüpft somit an eine bereits bekannte Signalwirkung an. – schwerbehindert. Allerdings sieht man ihr das nicht direkt an. „Wenn man mich so sieht“, erzählt sie, Inklusion leben „könnte man denken, ich wäre betrunken. Entwickelt hat sie „Inklusion inklusive“ als Dass ich beim Laufen schwanke, liegt aber Diplomprojekt an der Kölner Designhochdaran, dass mein Gleichgewichtssinn nicht schule ecosign, wo sie 2013, rund vier Jahre mehr richtig funktioniert.“ Zusätzlich ist nach ihrem Unfall, ihren Abschluss als GraAntonias Sehfähigkeit eingeschränkt, sie ist fikerin gemacht hat – trotz der Einschränauf einem Ohr taub und beim Reden dauert kungen, die ihre Behinderung ihr auferlegt. es manchmal, bis ihr die richtigen Worte „Ich wollte auch mein neues, mein zweites einfallen. In vielen Bereichen ist sie insge- Leben selbstbestimmt leben“, erzählt sie. samt langsamer als Menschen ohne Behin- „Und das ging eben nur mit dem Schritt nach derung. vorne.“ Antonia von Reden möchte viel mehr Aufmerksamkeit auf das Thema Inklusion Button mit Signalwirkung Weil ihre Hirnschädigung eine sogenannte lenken, besonders auf die praktische Umerworbene – und nicht angeborene – Behin- setzung, die immer noch große Lücken derung ist, kennt Antonia beide Seiten. Sie und Fragezeichen aufweist. Dass das nicht versteht, wie es Menschen mit und ohne Be- allein durch eine Person mit einem Button hinderung geht, und sagt selbst: „Wenn man geändert werden kann, ist ihr natürlich auch keine Beeinträchtigung hat, macht man sich klar. Deshalb vernetzt sie sich mit anderen oft keine Gedanken, wie es auf der anderen Menschen und Organisationen, die sich für gelebte Inklusion einsetzen, wie zum BeiSeite sein könnte.“ Genau da setzt sie mit ihrer Kampagne spiel das Projekt „be able“ oder die Stiftung „Inklusion inklusive“ und dem zugehörigen Bethel. „Inklusion ist kein Expertenthema“, Button an. „Die Aktion soll eine Hilfestel- sagt sie. „Im Gegenteil – Inklusion gelingt lung für Leute mit und ohne Behinderung nur, wenn sich möglichst viele Menschen, sein“, erklärt sie. Die Menschen, die eine auch Nicht-Experten, daran beteiligen.“ Als nächstes großes Ziel möchte sie einen (unsichtbare) Behinderung haben, senden durch den Button ein nonverbales Signal aus, gemeinnützigen Verein für „Inklusion inkludass sie unter Umständen Hilfe oder zumin- sive“ gründen. Um das Vereinsprofil weiter zu dest Verständnis von ihrer Umwelt gebrau- schärfen, nimmt sie gerne Input an und freut chen können. Und die Menschen ohne Be- sich außerdem über Mitstreiter. Schließlich hinderung verstehen eben genau das. „Viele geht Inklusion alle Menschen an.


MUSIK

TEXT /// CHRISTINA LÖW FOTOS /// THOMAS MORSCH WEITERE INFOS /// WWW.INKLUSION-INKLUSIVE.INFO WWW.FACEBOOK.COM/INKLUSION.INFO

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MUSEUM

Gnadenlos erinnern TEXT /// ANDREAS RICHARTZ

Das NS-Dokumentationszentrum Köln – Ein Museum mit unentbehrlichem Konzept. Gerade heute, gerade jetzt.


MUSIK

Manchmal machen Leute in ihrer Stadt Sachen, die die Stadt nicht will. Manchmal gehen solche Sachen einfach in der täglichen Orkanlautstärke des Mediengebrülls unter. Oder sie landen vor dem Richter und erinnern die bürgerlichen Grenzüberschreiter an ihre Befugnislosigkeit. Und ganz selten freut sich die Stadt im Nachhinein über die Sachen, die Leute unbefugt machen und auf die sie selbst trotz Befugnis niemals gekommen wäre. Im März 1979 machten der Kölner Bürgerrechtler Kurt Holl und der Fotograf Gernot Huber eine solche Sache. Sie ließen sich nachts unbefugt in die alten Keller der ehemaligen Gestapodienststelle am Appellhofplatz 23–25 einschließen, rückten die Regale von den Wänden und schossen legendäre Fotos. Zu sehen bekam kurz darauf eine staunende Öffentlichkeit die noch immer vorhandenen Inschriften politischer Gefangener, die dort wochen- und gar monatelang inhaftiert und gefoltert worden waren. Die Stadt Köln, die die Räume inzwischen der Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt hatte, war sich offenbar des historischen Gedenk-Potentials, auf dem ihre Bürokraten herumsaßen, nicht bewusst. Das änderte sich erst, als das riesengroße Medienecho, welches die Aktion von Holl und Huber hervorrief, keinen Geringeren als Altbundeskanzler Willy Brandt auf den Plan rief. Der intervenierte unüberhörbar in Richtung des damaligen Oberstadtdirektors Kurt Rossa. Plötzlich war man in Rat und Verwaltung deutlich beschlussfreudig: Die damalige Stadtkonservatorin Hiltrud Kier erhielt den Auftrag, die Gestapo-Zellen und Tausende von Inschriften in den alten Kellergemäuern restaurieren und konservieren zu lassen. Danach wurde entschieden, in Zusammenarbeit mit dem historischen Archiv eine Ge-

denkstätte einzurichten, die am 4. Dezember 1981 der Kölner Bürgerschaft übergeben wurde. 1987 beschloss der Rat schließlich, das NS-Dokumentationszentrums in den Räumlichkeiten des sogenannten EL-DE-Hauses (typographisch abgeleitet von der lautsprachlichen Variante der Initialen seines Erbauers Leopold Dahmen) am Appellhofplatz aufzubauen. 1997 löste sich diese Forschungsstelle vom historischen Archiv und wurde an andere städtische Museen angegliedert. Der Rest ist Geschichte. Heute ist das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln mit seiner im Kern 1997 erarbeiteten ständigen Dauerausstellung und fünf bis sechs jährlichen Sonderausstellungen aus Köln nicht mehr wegzudenken. Das engagierte Team um Direktor Werner Jung konzipiert außerdem museumspädagogische Konzepte und betreut eigene Forschungsprojekte. Gerade hier, in einem Gebäude mit derart scheußlicher Vergangenheit, gebietet es das rheinländische Selbstverständnis, eine Museumspädagogik ständig weiterzuentwickeln, die nachfolgenden Generationen einen sinnlich erfahrbaren Eindruck über die Dynamiken von Herrschaft, Zwang und Gehorsam veranschaulicht. Ein Auftrag, der eindringlicher nicht formuliert sein könnte. Die aktuelle Sonderausstellung „Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941–1944“ (eine Ausstellung der „Stiftung Topographie des Terrors“ und der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“) läuft noch bis zum 25. Juni 2017. WEITERE INFOS /// WWW.NSDOK.DE

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KULTUR MAI 1978

Die Bewegung gegen geschlechtsspezifische Missstände in der Gesellschaft ist als „Emanzipation der Frau“ bekannt. Sie begann 1971 und ist heute genauso nötig wie damals. Die Pionierarbeit für die Emanzipation ist noch nicht abgeschlossen, wird es vielleicht nie sein. Ein Sprachrohr dieser Bewegung ist das Magazin EMMA. Es macht seit 40 Jahren Mut für wichtige gesellschaftspolitische Veränderungen.

TEXT /// CHRISTINE WILLEN QUELLE /// JUBILÄUMSAUSGABE EMMA 1/2017, 330


KULTUR

40 Jahre Tabubruch Am 26. Januar 1977 erschien die erste Emma-Ausgabe, die von der Öffentlichkeit bereits mit Spannung erwartet wurde. Das Thema Emanzipation der Frau und dann auch noch als Basiskonzept für ein neues Magazin wurde als Provokation wahrgenommen und dementsprechend medial verfolgt. Die Gründerin des Magazins, Alice Schwarzer, nutzte die öffentliche Empörung für ihr Vorhaben aus: Es startete mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren, hinzu kamen noch 100.000 Nachdrucke aufgrund des großen öffentlichen Interesses. Das Brechen von Tabus war somit von Anfang an ein Anliegen der Emma-Redaktion. „Emma war in den 40 Jahren bei vielen Themen, die inzwischen selbstverständlich scheinen, Schrittmacherin und sie bleibt es. Oft hat Emma als erste das Schweigen gebrochen, hat Jahre, ja Jahrzehnte vor den anderen berichtet – und dadurch letztendlich auch die übrigen Medien genötigt, die Tabus zum Thema zu machen“, so Alice Schwarzer. Missstände aufdecken, Tabus brechen, an Menschen rütteln und die Politik zum Handeln auffordern, diese Attribute zeichnen das gesellschaftspolitische Magazin aus.

Feministischer Widerstand ist überlebenswichtig Zu den aktuellen politischen Entwicklungen äußert sich Alice Schwarzer folgendermaßen: „Spätestens nach dem „Gegen-Putsch“ von Erdoğan in der Türkei und der Trump-Wahl in Amerika dürfte nun wieder klar sein: Feministischer Widerstand ist (über-)lebenswichtig. Nicht nur für die Länder, in denen Frauen gänzlich rechtlos sind bis zur Unsichtbarkeit, sondern auch in unseren relativ privilegierten Breiten. Denn der Fortschritt ist keineswegs gesichert. Bereits gewonnenes Terrain muss täglich neu verteidigt werden. Und auch die Voraussetzungen für Gleichberechtigung auf Augenhöhe – soziale Gerechtigkeit und ökonomische Unabhängigkeit – müssen ins Zentrum des politischen Willens rücken.“

märz 1977 Im März 1977 berichtet EMMA erstmals und kritisch über Genitalverstümmelung bei Frauen, was in manchen Kulturkreisen praktiziert wird. In Deutschland ist es erst seit dem 1. September 2013 ein Straftatbestand.

Juli 1984 Im Juli 1984 titelt EMMA mit dem Schlagwort „Lesbenehe?“. Es wird über ein Frauenpaar berichtet, das von einem Hamburger Pfarrer getraut wurde. Es dauert bis zum 1. August 2001 bis die Homo-Ehe als „Lebenspartnerschaftsgesetz“ in Kraft tritt.

Januar 1994 Im Januar 1994 titelt EMMA mit einem rabenschwarzen Kater und protestiert damit gegen Massentierhaltung und Tierversuche, was immer wieder gesellschaftspolitisches Thema ist und bis heute kontrovers diskutiert wird.

Oktober 1996 Ab Oktober 1996 startet EMMA eine Kampagne zum Thema Brustkrebs und setzt sich über einen langen Zeitraum für die Vorsorgeuntersuchungen und die Forschung auf diesem Gebiet ein, bis im Jahr 2009 ein BrustkrebsScreening flächendeckend in Deutschland angeboten wird.

März 1999 NOVEMBER 1982

JULI 1984

Ab März 1999 macht EMMA den „Girls‘Day“ in Deutschland salonfähig, wo Mädchen schnuppermäßig Berufe entdecken können, die immer noch von Männern dominiert werden. Diese Idee kommt ursprünglich aus den USA und findet seit 2001 auch in Deutschland jeweils im April des Jahres statt – mittlerweile unterstützt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie den Deutschen Gewerkschaftsbund.

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KULTUR

NOVEMBER 1977

Soziale Gerechtigkeit und ökonomische Unabhängigkeit sind zwei wesentliche Antreiber der Emma-Redaktion: „Für uns Emmas ist das Emma-Machen ein permanentes Abenteuer. Heft für Heft 116 Seiten – und die totale Freiheit, zu denken und zu schreiben, was die Redaktion relevant findet. Kein Konzern, kein Kalkül, keine Anzeigengeber, die reinreden. Einzig und allein die Lust am Zeitschriftenmachen, der Spaß an der Kommunikation mit den LeserInnen und der Gesellschaft sowie die Hoffnung auf Aufklärung und eine auch für Frauen gerechtere Welt“, so Alice Schwarzer im Editorial der Jubiläumsausgabe. Denn 90 Prozent der Einnahmen stammen vom Verkauf des Heftes an die Leser.

Unabhängig – selbst von Anzeigen Der Anzeigenmarkt scheint, wenn überhaupt, eine Nebenrolle zu spielen und dieser Umstand ist in der Medienlandschaft sehr selten: „Ich will den Mund nicht zu voll nehmen – doch mir scheint, Emma könnte heute die einzige Publikumszeitschrift auf der Welt sein, die noch so funktioniert“, so Alice Schwarzer. Es wäre zumindest eine schöne Vorstellung, wenn in Zukunft weitere Verlage und Redaktionen diesen Idealen wieder näher kämen. Wie schwer das in Zeiten hart umkämpfter Marktanteile ist, ist zwar klar. Hinter journalistischer Arbeit steckt aber eigentlich auch immer eine gesellschaftliche Verantwortung. Das wird heute leider nur selten beherzigt. Doch so viel ist sicher: Das Engagement der Emma-Redaktion ist in dieser professionellen Form seit 40 Jahren ziemlich einzigartig. Es macht Mut, unabhängig aller Herausforderungen weiterzumachen, denn das Abenteuer der „Emmanzipation“ ist auf gesellschaftspolitischer wie auch auf medienpolitischer Ebene noch lange nicht abgeschlossen.

ALLE AUSGABEN DER EMMA VON 1977 BIS 2015 IM ONLINE-ARCHIV ZUM STÖBERN UNTER: WWW.EMMA.DE/EMMA-ARCHIV

JANUAR/FEBRUAR 1994

SEPTEMBER/OKTOBER 1996

MÄRZ/APRIL 2017


MUSIK

Knicken

Kölner WohnWelten im Fokus: Sowohl in Farbgebung, Formenschatz und „leichter“ Baukastenweise glänzen ganze neue VIertel und sogenannte Lückenschlüsse in purer „Schönheit“. Ein bisschen Beton hier, eine glatte, tote Nacktfassade dort – und schon blüht das Leben in einer Großstadt ganz neu auf. und nicht zu vergessen, dass wir heute nachhaltig bauen. Also so, dass auch in einem Jahr noch alle alles ganz toll finden ... Ohje.

kleben

Schneiden

Das hier ist euer ganz eigenes Glück in diesem Zusammenhang: Dazu einfach nur Editorial- und Rückseite Ausschneiden und alles zusammenKleben. Dann müsst ihr nur noch mit ganz vielen anderen zusammen auf die nächste Freifläche gehen – und Zack: Noch ein paar Legofiguren dazu und willkommen in eurer neuen und lebendigen Stadt. Viel Spaß!

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