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Vorwort

«Wir verdrängen den Tod. Wir leben, als ob wir unsterblich wären, obgleich wir ihm immer wieder begegnen.»1 Friedrich Dürrenmatt

«Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr»2 – mit diesen Worten beteten Menschen in der Frühen Neuzeit im Gebiet der heutigen Schweiz um göttlichen Beistand gegen die Geisseln ihrer Zeit. Die Reihenfolge – Pest, Hunger und Krieg – ist kein Zufall und steht für die Grösse der Bedrohung: Die Pest – bis heute Inbegriff einer hochansteckenden und tödlichen Infektionskrankheit – stand an erster Stelle; die Angst vor einer schweren Hungersnot an zweiter und die verheerenden Auswirkung von Kriegen standen an dritter Stelle.

Wann wütete die letzte hochansteckende Infektionskrankheit in der Schweiz? Die Antwort auf diese Frage fällt leicht, denn seit zwei Jahren beherrscht die Coronapandemie unseren Alltag. Das zitierte Gebet erwähnt jedoch die Pest, die im Mittelalter von 1347 bis 1353 erbarmungslos in ganz Europa wütete.3 Diese mittelalterliche Pestpandemie hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben und wird gerne als Schwarzer Tod oder Grosse Pest bezeichnet. Es wird noch zu zeigen sein, dass der Schwarze Tod in der Schweiz wahrscheinlich nicht im Mittelalter am meisten Opfer forderte, sondern im 17. Jahrhundert. Diese Pestzüge wie überhaupt Pandemien mit hoher Sterblichkeit wurden von Zeitgenossen deshalb als das «grosse Sterbend»4 bezeichnet.

Wann gab es in der Schweiz die letzte Hungersnot? Die Antwort auf diese Frage fällt den meisten schon schwerer. Dabei haben die Medien, die historische Jubiläen lieben, im Jahr 2017 unter dem Eti-

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kett «Jahr ohne Sommer» an die letzte grosse Hungerkrise von 1816/17 erinnert. Diese wurde durch den Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien im April 1815 mitverursacht. In vielen Teilen Europas und insbesondere in der Schweiz herrschten 1816 ungewöhnliche Wetterphänomene vor: «In der Schweiz schneite es beinahe jede Woche bis in die Täler, das Getreide und die Trauben wurden nicht reif, und die Kartoffeln mussten im Herbst aus dem Schnee ausgegraben werden.»5 Insgesamt war der Sommer 1816 zu kalt und zu nass. Ernten fielen aus und die Versorgung mit Lebensmitteln war nicht mehr gewährleistet. Hunger und Krankheiten grassierten. Dabei ist unklar, wie viele Menschen in der Schweiz verhungerten. Nicht nur gab es beträchtliche regionale Unterschiede, auch die Todesursache ist oft nicht einfach zu bestimmen; denn Menschen, die hungern, haben auch ein geschwächtes Immunsystem und sterben rascher an Krankheiten. Letztlich lassen sich Phänomene der Vergangenheit nicht monokausal erklären.

Wann gab es in der Schweiz den letzten Krieg? Wenn im Zusammenhang mit der Schweizer Geschichte gern von einem Sonderfall gesprochen wird, so trifft er hier zu: Welches andere Land kann schon von sich behaupten, sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg kein Kriegsschauplatz gewesen zu sein? Doch wer von Kriegen weitgehend verschont blieb, konnte trotzdem von einer Pandemie betroffen sein. Zu Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Schweiz ein Opfer der Grippepandemie. Diese sogenannte Spanische Grippe traf das Land besonders hart: Rund die Hälfte aller Einwohnerinnen und Einwohner erkrankte und Schätzungen zufolge verloren 25 000 Menschen ihr Leben.

Die Spanische Grippe bildet den Endpunkt der vorliegenden Darstellung, die Pestpandemie des Mittelalters den Anfangspunkt. Der Versuch wird also gemacht, eine Seuchengeschichte von über einem halben Jahrtausend zu schreiben. Die Coronapandemie wird hier nicht behandelt, weil sie, als dieses Buch geschrieben wurde, in vollem Gang war und eine abschliessende Darstellung deshalb noch nicht möglich ist. Zudem bietet es sich an, diese Coronapandemie als Zäsur zu betrachten: Aus dem Blickwinkel der Infektionskrankheiten markiert

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die Spanische Grippe den Beginn des 20. Jahrhunderts, die Coronapandemie hingegen dessen Ende.

Räumlich beschränkt sich die vorliegende Darstellung ebenfalls: Im Mittelpunkt des Interesses steht das Gebiet der heutigen Schweiz. Dabei versteht es sich von selbst, dass gerade eine Seuchengeschichte nicht vor nationalen Grenzen Halt macht. So sind diese während der Coronapandemie aus Angst vor Ansteckungen überall in Europa wiederauferstanden.

Nationalgeschichte im Sinn einer Fokussierung auf einen begrenzten Raum ist aber auch nötig, um einen akzeptablen Differenzierungsgrad zu erhalten. Zu schnell bleibt man sonst bei Allgemeinplätzen stehen. Zugleich ist auch Bescheidenheit angesagt: Bei der vorliegenden Darstellung handelt es sich um den ersten Versuch, eine Seuchengeschichte der Schweiz zu schreiben. Da die verschiedenen Infektionskrankheiten in der Schweizer Medizingeschichte höchst unterschiedlich behandelt wurden und eigene Quellenstudien nur in einem sehr begrenzten Rahmen möglich waren, handelt es sich beim vorliegenden Buch um eine Einführung. Wenn sie allerdings dazu anregt, die Gegenwart, die noch immer von der Coronapandemie geprägt ist, im grösseren Kontext zu sehen, so ist ein wesentliches Ziel erreicht. In diesem Zusammenhang sind auch die Exkurse am Ende jedes Kapitels zu verstehen: Es handelt sich dabei um kurze Ausführungen, die im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart angesiedelt sind.

Zum Schluss noch ein Wort des Danks. In der Wissenschaft steht man immer auf den Schultern von Vorgängerinnen und Vorgängern. Ganz besonders gilt dies für die Geschichtswissenschaft. Ohne die Vorarbeiten anderer hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können. In der vorliegenden Darstellung sind jedoch nur die direkten Zitate ausgewiesen, um den Umfang des Anmerkungsapparats kurz zu halten.

Dank gebührt auch dem Verlag NZZ Libro, der sich mit grossem Engagement meiner Seuchengeschichte angenommen hat. Ganz besonders danke ich der Lektorin Katharina Wehrli sowie Sonja Bertschi und Jonas Dischl, die das Manuskript sorgfältigst gelesen und zahlreiche Verbesserungsvorschläge eingebracht haben.

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Es ist zu einem Allgemeinplatz geworden, dass Computer einem das Leben – und das Schreiben im Besonderen – erleichtern. In den letzten Jahren musste der Autor jedoch die Erfahrung machen, dass die ständigen Updates der Software zahlreiche Fehler erzeugten und seriöses Arbeiten oft unnötig erschwerten. Als die Covid-Pandemie in der Schweiz ausbrach, hatte auch Swisscovery, die nationale Plattform der Schweizer Bibliotheken, ihren ersten Auftritt. Leider ist sie bis heute nicht durch eine bessere Lösung ersetzt. Das liegt vielleicht daran, dass dieses Suchportal hält, was es verspricht: Es ist ein Portal der Suche – nicht des Findens.

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