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1 Einführung in die Seuchengeschichte
from Daniel Furrer: «Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns» - Die Geschichte der Seuchen in der Schweiz
by NZZ Libro
Dass auch in Europa Infektionskrankheiten grausam schnell töten konnten, illustriert das Schicksal des deutschen Schriftstellers und Mediziners Georg Büchner. Dieser suchte nach den Wirren der 1830erRevolution vor den politischen Verfolgungen in seiner Heimat in Zürich Zuflucht. Es gelang ihm, 1836 als Privatdozent für vergleichende Anatomie an der Universität Zürich Arbeit zu erhalten. Anfang Februar 1837 erkrankte er jedoch schwer und rund zwei Wochen später starb er. Als Todesursache gilt Typhus.
Noch schneller wurde der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel von einer Infektionskrankheit hinweggerafft: Im Sommer 1831 hatte er es vermieden, sich in der Stadt Berlin aufzuhalten, weil dort die Cholera grassierte. Im Herbst, als die Choleraepidemie abklang, kehrte Hegel in die Stadt zurück. Am 13. November, an einem Sonntagmorgen, fühlte sich Hegel sehr schlecht; am 14. November 1831 war er tot. Sein «unerwartet schnelles Ableben»6 machte den Schriftsteller Karl August von Varnhagen in Berlin zwar betroffen, aber sein Kummer hielt sich in Grenzen; denn: «[Hegel hatte] keine Ahnung seines herannahenden Todes, und entschlummerte, wie die Anzeige der Witwe sagt, schmerzlos, sanft und selig. Das ist schön, dass er nicht gelitten hat! So war denn sein Tod so glücklich, als der Tod irgend sein kann.»7
Der Tod als ein friedliches Entschlummern war bei dieser Krankheit jedoch die Ausnahme. Das Sterben an Cholera konnte grauenvoll sein: «Die Epidemie der Cholera morbus, welche die mehrsten unserer Stadtbewohner als einen geduldigen Gast, den man nach Willkür platzieren und gehen heissen könnte, betrachteten, zeigte sich bald darauf zu aller Schrecken, als ein furchtbares todverbreitendes Ungeheuer, welches seinen stärksten Gegner in zwei bis drei Stunden mordete, des-
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sen Gesichtszüge in so kurzer Zeit gänzlich verunstaltet wurden: schmerzvolle Krämpfe verzerrten den Mund, die Augen, deren Weisse sich bräunt, sinken plötzlich und stieren unbeweglich wie aus schwarzen Grabeshöhlen, die Gesichtsfarbe wird gelb und die Lippen blau, dass ein solcher Anblick Grauen und Entsetzen erregt.»8
Die schmerzvollen Muskelkrämpfe bei Cholera beschreibt der britische Arzt A. J. Wall 1893 mit den Worten: «In extremen Fällen ist fast die gesamte Muskulatur betroffen – die Waden, die Oberschenkel, die Arme, die Unterarme, die Muskeln des Bauches und des Rückens, die Zwischenrippenmuskeln und die des Halses. Der Patient windet sich vor Schmerzen und kann kaum an sein Bett gefesselt werden, da seine Schreie aus diesem Grund für seine Umgebung sehr quälend sind.»9
Auch nach dem Tod des Erkrankten konnte Cholera Grauen wecken. «Ein gespenstisches Merkmal der Krankheit ist, dass sie heftige postmortale Muskelkontraktionen hervorruft, die die Gliedmassen über einen längeren Zeitraum hinweg zittern und zucken lassen. Infolgedessen schienen die Leichenwagen, die die Körper der an der Krankheit Verstorbenen abholten, vor Leben zu strotzen, was Ängste vor bösartigen Machenschaften und vor einer vorzeitigen Beerdigung auslöste.»10
Werfen wir einen Blick auf eine dritte Infektionskrankheit: die Masern. Wie ansteckend und tödlich diese Krankheit sein konnte, zeigt das äusserst anschauliche Beispiel der Färöer, einer isolierten Inselgruppe zwischen Schottland und Island. Zwischen 1781 und 1846 traten dort keine Masernfälle mehr auf. Auf den Inseln lebten 1846 jedoch 92 Menschen, die in ihrer Jugend an den Masern erkrankt waren und daher immun waren. In diesem Jahr erreichte ein Schiff aus Kopenhagen die Färöer. An Bord befand sich ein Tischler, der kurz vor seiner Abreise in Kopenhagen Kontakt mit Masernkranken hatte. In den ersten Apriltagen des Jahrs 1846 nahm er an einem Volksfest auf der Insel teil und löste damit eine Masernepidemie aus. Es spielte sich Unfassbares ab: Von den rund 8000 Einwohnerinnen und Einwohnern erkrankten 6000. Nur 1500 Personen gelang es, sich durch strenge Isolationsmassnahmen vor der Krankheit zu schützen.
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Der Kontagionsindex drückt die Zahl der Infizierten auf je 100 sogenannt empfängnisfähige, exponierte Personen aus; immune Personen zählen dabei nicht. Die Statistik dieser Masernepidemie belegt, dass 6262 Bewohner der Färöer empfängnisfähig für die Masern waren und dem Erreger auch ausgesetzt waren; «von diesen 6262 Personen erkrankten 6000, also etwas mehr als 95 Prozent».11
Mit dem Begriff des Kontagionsindex haben wir das weite Feld des Fachvokabulars betreten, das im Zusammenhang mit dem Thema Infektionskrankheiten existiert. Dieses Feld soll hier nicht gepflügt werden. Wir versuchen jedoch in einem gestrafften Überblick ein paar wichtige Entwicklungen zu skizzieren, die im Kontext einer Seuchengeschichte von zentraler Bedeutung sind. Bevor wir dies tun, gilt es auf eine Grenze jeder Seuchengeschichte hinzuweisen: Oft kann auch ein medizinisch geschulter Historiker nicht mit Sicherheit feststellen, welche Krankheiten die Zeitzeugen schildern. Erst im 17. Jahrhundert gelang es etwa dem englischen Arzt Thomas Sydenham während einer grossen Epidemie in London, die Masern als eigenständige Krankheit von Scharlach und anderen fieberhaften ansteckenden Krankheiten abzugrenzen. Und noch länger dauerte es, bis die Masern endgültig als eigenständige Krankheit anerkannt wurden. Dies geschah erst im 19. Jahrhundert. Damals berichtete der Ostschweizer Arzt Elias Haffter in seinen umfangreichen Aufzeichnungen davon, dass im Mai 1849 in einer Schule mit rund 300 Kindern zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler wegen Masern die Schule nicht besuchen konnten.
Wie werden Infektionskrankheiten übertragen? Wie geschieht – fachsprachlich ausgedrückt – die Kontagion? Verantwortlich für die Infektionskrankheit sind Mikroorganismen (Mikroben). Die Übertragungsweise und die Art und Weise des «Eintritts» in den menschlichen Organismus sind vielgestaltig, können aber in vier Kategorien eingeteilt werden. «Die erste Kategorie umfasst Darmkrankheiten, die durch die Exkremente eines Kranken übertragen werden, indem die Erreger in die Nahrung oder ins Trinkwasser eines anderen Menschen und anschliessend in dessen Verdauungstrakt gelangen. Der Unterleibstyphus und
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andere Typhusarten, Ruhr, Diarrhöe und Cholera sind die am weitesten verbreiteten und schwersten dieser Krankheiten und Todesursachen. Zur zweiten Kategorie gehören Krankheiten, die durch die Atemwege und die Luft weitergegeben, deren Erreger also durch Husten, Niesen, aber auch beim Sprechen von Mensch zu Mensch übertragen werden. Dazu zählen Pocken, Diphtherie, Tuberkulose, Masern, Grippe und auch die weniger geläufige, aber tödlichere Spielart der Pest, die Lungenpest. Die dritte Kategorie umfasst Krankheiten, die durch Ge schlechtsverkehr übertragen werden (Syphilis und andere venerische Krankheiten, heute auch Aids), und die vierte Krankheiten, die nicht durch die natürlichen Körperöffnungen in den menschlichen Organismus gelangen, sondern durch die Blutbahn oder das Gewebe übertragen werden. Dies geschieht durch Bisse oder Stiche von Tieren (von Flöhen, Läusen, Zecken, Stechmücken), die die Mikroben von einem Menschen zum anderen oder auch vom Tier – dem Reservoir der Mikroben, etwa den Ratten bei der Pest – auf den Menschen übertragen.»12
Man kann diese Mikroorganismen wie folgt unterteilen: • Bakterien: Das sind winzige, aber im Mikroskop gut sichtbare
Mikroorganismen, die sich in mehrere Gruppen unterteilen lassen. In genügend grosser Anzahl kann ein bestimmtes Bakterium eine bestimmte Krankheit (wie Ruhr, Pest, Typhus usw.) hervorrufen. Der Kranke scheidet in der Regel den noch immer krankmachenden Erreger aus, ob durch seine Auswurfstoffe oder beim
Niesen oder auf eine andere Art. • Viren: Sie sind wesentlich kleiner als Bakterien und konnten erst mithilfe des Elektronenmikroskops sichtbar gemacht werden (etwa ab 1938). Neuerdings lassen sie sich auch bei einer speziellen Präparation durch ein sogenanntes Lichtmikroskop beobachten. «Viren verhalten sich so, als wären sie winzige lebende Organismen, als wären sie Bakterien, denen alles genommen wurde, bis auf einen schieren Kern von Nukleinsäure in einer Proteinhülle oder -kapsel.»13 Viren haben, anders als Bakterien, keinen eigenen
Stoffwechsel, sie schliessen sich an den ihrer Wirtszellen an; sie können sich innerhalb oder ausserhalb der Wirtszellen aufhalten.
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Antibiotika können sie nicht ausser Gefecht setzen. Masern,
Poliomyelitis, Röteln oder Hepatitis werden von Viren hervorgerufen. «Die erste menschliche Krankheit, deren Natur als virusbedingt erkannt wurde, war das Gelbfieber.»14 • Pilze: Seit der Antike werden Pilze zu den Pflanzen gerechnet, wobei nur sehr kleine Pilze Krankheiten beim Menschen hervorrufen. Pilze sind als Krankheitserreger schon länger bekannt als die Bakterien: Systematisch erforscht werden sie als Krankheitserreger seit den 1830er-Jahren. Der Jurist Agostino Maria Bassi, der ein grosses Interesse für biologische Fragen hatte, erbrachte den Nachweis, dass die Krankheit der Seidenraupen, die man in
Italien «calcino» und in Frankreich als «muscardine» bezeichnete, auf einen Befall mit Pilzen zurückzuführen ist.15 In der Humanmedizin gilt das Jahr 1839 als Geburtsjahr der medizinischen
Mykologie. Neben ihrer Rolle als Krankheitserreger gewannen
Pilze im 20. Jahrhundert eine herausragende Bedeutung als Antibiotika in der Medizin. Ein Beispiel für eine Pilzerkrankung beim
Menschen ist der Kopfgrind. Im Juni 2021 veröffentlichte das amerikanische Wissenschaftsmagazin Scientific American eine be sorgniserregende Darstellung zum Pilz Candida auris, der erstmals 1990 auftauchte und im Zusammenhang mit Covid-19 für zahllose Tote verantwortlich sein soll.16 • Parasiten: Infektionskrankheiten können zudem auch durch Parasiten übertragen werden. Aus der Perspektive der Seuchengeschichte ist Malaria als Infektionskrankheit von grösster Bedeutung. Die Krankheit wird im Menschen durch einen Parasiten erzeugt, der der Gattung Plasmodium angehört und von weiblichen Stechmücken der Gattung Anopheles übertragen wird.
Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit waren auch Wurmkrankheiten weitverbreitet. Da sie aber in der Regel nicht massenhaft vorkommen und plötzlich auftreten, werden sie nicht zu den Seuchen gezählt. Diese Aufzählung der Ursachen für ansteckende Krankheiten verbirgt die Kluft, die uns von unseren Vorfahren trennt: Krankheit und
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Tod waren eine Alltagsrealität; insbesondere Infektionskrankheiten prägten das Leben jedes und jeder Einzelnen. Der Schweizer Historiker Albert Hauser beschreibt dies sehr anschaulich für das 19. Jahrhundert: «Das Leben war kurz und von vielerlei Krankheiten, Seuchen und Unfällen täglich aufs Neue bedroht. Die Lebenserwartung bei der Geburt betrug 1801 lediglich 38,5 Jahre. Gegen Ende des Jahrhunderts (1876–1880) war die Ziffer auf 50,6 Jahre gestiegen, und 1910 betrug sie 62,7 Jahre. [Im Jahr 1989] betragen die Ziffern für Frauen 80 und für Männer 74 Jahre. Auf 1000 Einwohner starben 1836 bis 1840 25,4, 1906 bis 1910 16,9 Menschen. Heute [1989] sind es 9,2. Der Tod kam früh, unerwartet, er machte nicht viel Federlesens. Die Sterbedauer war kurz. So liegen beispielsweise bei der im 19. Jahrhundert heftig auftretenden Cholera zwei bis fünf Tage zwischen Ansteckung und Ausbruch. In weiteren zwei bis fünf Tagen war mit dem Ableben zu rechnen. Selbst bei jenen Krankheiten, wo es etwas länger dauerte, bei Typhus, Pocken und Ruhr, wo eher in Wochen als bloss Tagen zu rechnen war, trat der Tod im Vergleich zu heute viel schneller ein. Wir leben länger und sterben langsamer. Unsere Vorfahren starben früh und schnell.»17
Mit Blick auf die globalen Dimensionen von Infektionskrankheiten sprach der französische Historiker Emmanuel LeRoy Ladurie von einem «holocauste microbien».18 Damit charakterisierte er die gewaltigen Folgen von Mikroorganismen für die Neue Welt: In Amerika starb die indigene Bevölkerung zu Zehntausenden an Infektionskrankheiten wie Pocken oder Masern, ganze Ethnien wurden so ausgelöscht. Ein entscheidender Grund für die enormen Todeszahlen war, dass der amerikanische Kontinent vor der Eroberung durch die Europäer in Bezug auf Mikroorganismen eine abgeschottete Welt darstellte und den «europäischen Mikroben» nichts oder nur sehr wenig entgegensetzen konnte.
Der Begriff der Seuche wird in der vorliegenden Darstellung bewusst verwendet, da er «stärker» ist als die Bezeichnung Infektionskrankheit. Der Medizinhistoriker Kay Peter Jankrift definiert den Begriff folgendermassen: «Als Seuche wird nach medizinischer Defini-
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tion die plötzliche Erkrankung zahlreicher Menschen an einer Infektionskrankheit bezeichnet. Abhängig von der zeitlichen Gebundenheit und geographischen Ausdehnung einer Seuche wird unterschieden in Endemie, Epidemie und Pandemie. Während der Begriff der Endemie ständig präsente Erkrankungen in einem begrenzten geographischen Gebiet fasst, handelt es sich bei der Epidemie um ein deutlich gehäuftes, zeitlich und örtlich begrenztes Auftreten von infektiösen Erkrankungen. Als Pandemie wird schliesslich die Ausbreitung einer Infektionskrankheit über grossflächige geographische Gebiete wie Länder und Kontinente bezeichnet.»19
Seuchengeschichten haben eine lange Tradition: Georg Sticker schrieb seine wegweisenden Abhandlungen zur Seuchengeschichte und Seuchenlehre 1908 und der Medizinhistoriker Stefan Winkle publizierte seine umfassende Geschichte der Seuchen 1997 (seitengleiche Neuauflage 2005). Die vorliegende Darstellung reiht sich hier ein, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Sie hat einen bescheidenen Umfang und beschränkt sich auf das Gebiet der heutigen Eidgenossenschaft. Ein Gesamtüberblick über die wichtigsten Seuchen in der Schweiz ist bisher noch nie versucht worden – vielleicht mit gutem Grund: Die wissenschaftliche Behandlung der einzelnen Seuchen zeigt sich auf höchst unterschiedlichem Niveau und es existiert bis heute nicht einmal eine wissenschaftliche Sammlung wichtiger Schlüsseldokumente zur Geschichte einzelner Infektionskrankheiten.
Keine Seuchengeschichte kommt darum herum, auf eine epochale Zäsur hinzuweisen: den Paradigmenwechsel, den das Wissen über den Weg der Ansteckung mit der Bakteriologie erlebte. Unter dem Begriff «Paradigmenwechsel» versteht der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn veränderte Formen der Beobachtung, der Apparaturen oder der Begriffe in einer einzelnen Wissenschaft. Im Endeffekt verändern sich die Rahmenbedingungen einer Wissenschaftsrichtung grundlegend und resultieren in neuen Theorienmodellen.
Der Weg der Bakteriologie zu einer Leitwissenschaft ist eng mit den Persönlichkeiten von Robert Koch und Louis Pasteur verknüpft. Betrachten wir einige wichtige Stationen des Siegeszugs der Bakte-
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riologie. Am 24. März 1882 machte Robert Koch an einer Sitzung der Physiologischen Gesellschaft die Entdeckung des Tuberkulosebakteriums bekannt. Erstmals konnte ein lebender Mikroorganismus als Erreger einer menschlichen Krankheit zweifelsfrei nachgewiesen werden.
Der amerikanische Medizinhistoriker Charles-Edward Winslow streicht die herausragende Bedeutung von Kochs Erkenntnissen heraus: «Vor der Präsentation dieser Arbeit war nichts definitiv über die Ätiologie der Tuberkulose bekannt; nach ihrer Präsentation war das ganze Bild klar. In einer Denkschrift, die siebzehn Seiten in Kochs gesammelten Werken einnimmt, findet sich kein einziger Fehler, ausser der Interpretation bestimmter Strukturen in der Zelle als Sporen.»23
Robert Koch rückte im Zusammenhang mit der Erforschung des Choleraerregers auch die Gefährlichkeit von Exkrementen ins richtige Licht. 1883/84 kam er in Kalkutta den Ursachen für Cholera auf die Spur: Koch brachte Choleraausbrüche mit der Trinkwasserversorgung in Zusammenhang und berichtete an seine Vorgesetzten in Berlin: «Besonders häufig werden derartig lokalisierte kleine Epidemien in den Umgebungen der so genannten [Trinkwasser]Tanks beobachtet. Zur Erläuterung muss erwähnt werden, dass die über ganz Bengalen [Bangladesch] in unzähliger Menge verbreiteten Tanks kleine von Hütten umgebene Teiche und Sümpfe sind, welche den Anwohnern ihren sämtlichen Wasserbedarf liefern und zu den verschiedensten Zwecken, wie Baden, Waschen der Kleidungsstücke, Reinigen der Hausgeräte und auch zur Entnahme des Trinkwassers benutzt werden.»20
In diesen Trinkwassertanks konnten die deutschen Wissenschaftler tatsächlich Cholerabakterien nachweisen. Diese waren durch das Waschen von Kleidungsstücken eines Cholerakranken am Teich ins Trinkwasser gelangt. Damit gelang es Koch erstmals, die Ursachen einer Trinkwasserepidemie klar aufzuzeigen und den Nachweis zu erbringen, dass die Ausbreitung der Cholera mit Gewässern zusammenhängt. In die Heimat zurückgekehrt, verkündete er 1884: «Kein gesunder Mann kann an Cholera erkranken, wenn er nicht zuvor die Komma-Mikrobe21 geschluckt hat, und dieser Keim kann
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sich nur aus seinesgleichen entwickeln, aus keiner anderen Mikrobe, am allerwenigsten aus nichts. Wachsen und sich vermehren kann sie aber nur in den Eingeweiden eines Menschen oder in stark verunreinigtem Wasser, wie dem von Indien.»22 Damit war nachgewiesen, dass Fäkalien gefährliche Krankheitserreger enthalten konnten und der sorglose Umgang damit zur Verbreitung von Krankheiten führen konnte.
Es ist durchaus angebracht, im Zusammenhang mit der Bakteriologie von einer Wissenschaftsrevolution zu sprechen, denn erst in diesem Moment setzte sich das Wissen durch, dass Mikroorganismen Ursache schwerer Krankheiten waren. Der bedeutende Schweizer Medizinhistoriker Erwin H. Ackerknecht ordnet diese epochale Zäsur folgendermassen ein: «Trotz der Tatsache, dass in dem Gesamtgefüge der Wissenschaften die Entwicklung der Bakteriologie nur eine der vielen grossen biologischen Entdeckungen war, war es zweifellos vom strikt medizinischen Standpunkt aus das wichtigste Ereignis des ereignisreichen 19. Jahrhunderts und vielleicht aller Zeiten.»24
Bis zum Siegeszug dieser neuen Erkenntnisse war das ganze Gebiet der Hygiene von der Auffassung beherrscht, dass faulige Dünste – sogenannte Miasmen – die eigentlich schädlichen und lebensbedrohlichen Elemente seien, gegen die man beim Kampf gegen ansteckende Krankheiten anzugehen hätte. Gut erkennbar wird die Miasmustheorie bei fiebrigen Erkrankungen. Bei einem Fieber, das in Quellen im 18./19. Jahrhundert als Gallenfieber bezeichnet wurde, suchte man die Ursachen in der schlechten Luft: «Diese faulen Gallenfieber sind solche Fieber, welche von einer verdorbenen Materie herrühren, die durch die warmen Mittag- oder Föhn- und Abend- oder Regenwinde aus der ausdünstenden Erden aufgehoben, mit der Luft vermischt, an vielen Orten in öftere, und dicke Nebel, so gleichsam wie ein Schwamm das Wasser an sich zieht, verhüllt, und von den Menschen samt der Luft durch den Atem in den Mund gezogen, und mit dem Speichel hinein geschluckt wird.»25
Gallenfieber war nur eine Bezeichnung unter vielen: Faulfieber oder biliöses bzw. putrides Fieber sind andere Bezeichnungen, die in
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den Quellen für fiebrige Erkrankungen auftauchen. Die Zuordnung zu heutigen Krankheiten ist keineswegs einfach und manchmal auch unmöglich. Im oben beschriebenen Falls dürfte es sich um den Typhus abdominalis gehandelt haben.
Nicht nur die Zuordnung einer historischen Krankheit ist schwierig. Schwierig ist auch die Quantifizierung: Wie hoch war der Tribut, den Infektionskrankheiten in der Schweiz forderten? Wenn in der folgenden Darstellung auf diese Frage eine Antwort gegeben wird, so sind zwei wichtige Hinweise anzubringen: Es fehlen bis weit ins 20. Jahrhundert in der Regel exakte Zahlen. Die erste Volkszählung in der Schweiz fand nach dem Einmarsch französischer Truppen, in der Epoche der Helvetik (1798–1803), statt. Doch auch bei der Spanischen Grippe (1918) blieb das genaue Ausmass der Erkrankungen in der Schweiz unklar, denn eine Meldepflicht wurde erst am 11. Oktober 1918 eingeführt. Mehr noch: Den Fachleuten war auch unklar, womit sie es zu tun hatten. Viren als Krankheitserreger waren damals noch weitgehend unbekannt. Doch auch ohne genaue Zahlen und trotz teilweise unsicherer Bestimmung ist festzuhalten, dass Infektionskrankheiten die Geschichte und das Leben der Menschen in unserem Land seit vielen Jahrhunderten geprägt haben.
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Arnold Böcklin, Die Pest, 1898 (Kunstmuseum Basel).
«Dieses durch seine starken Licht- und Farb-Kontraste sowie die gewagte Perspektive beeindruckende Gemälde hat der Schweizer Künstler Arnold Böcklin im Jahre 1898 gemalt […]. Böcklin selbst war damals bereits 71 Jahre alt und durch schwere Krankheiten gezeichnet. Die Pest war sein letztes Werk, welches zudem unvollendet blieb. […] Böcklins Pest von 1898 ist weder eine Historie noch ein durch aktuelle politische oder pandemische Ereignisse geprägtes Gemälde. Im Rückgriff auf eine zwar damals nicht mehr akut gefährdende, aber im kollektiven Gedächtnis noch immer als höchst vernichtend präsente Krankheit inszeniert Böcklin den Schwarzen Tod als Symbol der grundsätzlichen Bedrohung menschlicher Existenz.»26