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Die EU hat Mühe mit der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit

dessprachen teilt. Diese enge geopolitische und kulturelle Verflechtung erschwert ein autonomes Verhalten gegenüber der EU. Grossbritannien ist zudem – wie im letzten Abschnitt dargelegt – eine politisch und wirtschaftlich bestens vernetzte Grossmacht. Die Schweiz ist dagegen ein Kleinstaat, zwar wirtschaftlich auch sehr stark, aber ohne ständigen Sitz im UNOSicherheitsrat und ohne Mitgliedschaft in der G-7 und in der G-20.

Beide Staaten sind wirtschaftlich eng mit der EU verflochten. Grossbritannien hat jedoch zusätzlich das Commonwealth of Nations im Rücken. Die Schweiz verfügt dagegen über keine ehemaligen Kolonien, die ihr als natürliche zusätzliche Märkte dienen könnten. Nach dem EU-Austritt hat Grossbritannien mit der Europäischen Union ein Handels- und Kooperationsabkommen vereinbart. Die Schweiz verfügt über ein ähnliches Abkommen mit der EU. Aber es stammt aus dem Jahr 1972. Es müsste modernisiert werden, sollte die Schweiz den bilateralen Weg verlassen wollen. Dieser gewährleistet der Schweiz zurzeit noch einen besseren Zugang zum EU-Binnenmarkt als ihn Grossbritannien neuerdings hat. Denn sie besitzt dank der bilateralen Verträge Integrationsabkommen, die eine auf Rechtsangleichung beruhende, von Handelsbarrieren freie teilweise Teilnahme am europäischen Binnenmarkt ermöglichen. Grossbritannien dagegen hat nur noch ein angereichertes Freihandelsabkommen, das den Abbau oder gänzlichen Wegfall direkter Handelshemmnisse wie Einfuhrbeschränkungen und Zöllen vorsieht (vgl. dazu Epiney, 2021). Indirekte Handelshemmnisse wie unterschiedliche Produktvorschriften und Warennormen bleiben dagegen bestehen. Der Rückzug auf ein – auch modernisiertes – Freihandelsabkommen mit der EU wäre für die Schweiz also bezüglich Handelsbedingungen ein Rückschritt gegenüber den bilateralen Verträgen.

Die EU hat Mühe mit der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit

Die EU ist eine Wertegemeinschaft, wie Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) festhält. Dort steht: «Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschliesslich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese

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Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.»

Seit Jahren gelingt es der EU aber nicht, diese Werte in einigen ihrer Mitgliedstaaten durchzusetzen. Im Vordergrund stehen dabei Polen und Ungarn, obwohl die EU-Werte auch in anderen Mitgliedstaaten Anfechtungen ausgesetzt sind (vgl. die Übersicht bei Europäische Kommission, 2021a). Polen missachtet die Unabhängigkeit der Gerichte durch die Exekutive und die Legislative (vgl. Europäische Kommission, 2021c). Vorläufiger Höhepunkt des Tauziehens der EU mit Polen um die Unabhängigkeit der Justiz war im Oktober 2021 ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts. Darin hiess es: Teile des EU-Vertrags, die Polen zur Befolgung von EU-Recht und Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verpflichten, seien verfassungswidrig (vgl. Veser/Gutschker, 2021). Damit stellt Polen den Vorrang des EU-Rechts und der EU-Gerichte vor nationalem Recht und nationalen Gerichten infrage – ein bis anhin einmaliger Vorgang in der Europäischen Union. Dieser Vorrang stellt das rechtliche Fundament der EU dar. Wenn Mitgliedstaaten nur noch dasjenige EU-Recht und diejenigen Urteile des EuGH befolgen, die ihnen passen, funktionieren die Europäische Union und ihr Kernstück, der Binnenmarkt, nicht mehr.

«Wir können und wir werden es nicht zulassen, dass unsere gemeinsamen Werte aufs Spiel gesetzt werden», sagte die zutiefst besorgte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einer Debatte zum Thema vor dem EU-Parlament (Von der Leyen, 2021). Prompt hat die EU-Kommission im Dezember 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren gemäss Artikel 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gegen Polen eingeleitet (vgl. Europäische Kommission, 2021f). Das ist möglich, wenn nach Auffassung der EU-Exekutive ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den EU-Verträgen verstösst. In der jüngsten Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichtshofs sieht die EU-Kommission einen Verstoss gegen allgemeine Grundsätze der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie gegen die verbindliche Wirkung von Urteilen des EuGH. Verletzt seien insbesondere Artikel 19 EUV, der das Recht auf wirksamen Rechtsschutz in

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der Europäischen Union durch unabhängige Gerichte garantiert, und Artikel 279 AEUV, der die Möglichkeit von einstweiligen Anordnungen durch den EuGH vorsieht.

Weiter lässt Polen punkto Wirksamkeit der Bekämpfung der Korruption auf höchster Ebene bei der EU-Kommission Bedenken aufkommen. Zudem sind gemäss der EU-Exekutive die Medienfreiheit und der Medienpluralismus in Polen gefährdet. Auch stehe die Gewaltenteilung unter erheblichem Druck.

In Ungarn gibt es bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz Entwicklungen, die laut der EU-Kommission zu Bedenken Anlass geben (vgl. Europäische Kommission, 2021b). Es gebe zwar eine Strategie zur Korruptionsbekämpfung, ihr Anwendungsbereich bleibe aber begrenzt. Der Medienpluralismus sei gefährdet. Was das System von Kontrolle und Gegenkontrolle anbelange, so gäben die Transparenz und die Qualität des Gesetzgebungsverfahrens Anlass zur Sorge. Eine Kontrolle der Exekutive funktioniere nicht. Justiz, Medien und Wissenschaft seien praktisch ausgeschaltet, lautet auch das alarmierende Fazit des Ungarnbeobachters Heiko Fürst (vgl. Fürst, 2019, S. 548).

Gegen Polen wurde 2017 (von der EU-Kommission) und gegen Ungarn 2018 (vom EU-Parlament) ein Verfahren gemäss Artikel 7 EUV eingeleitet. Das ist möglich, wenn ein Mitgliedstaat fundamentale Grundsätze der Union verletzt. Ob «eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte» durch einen Mitgliedstaat vorliegt, kann der Europäische Rat, das Beratungs- und Entscheidungsorgan der Staats- und Regierungschefs der EU, aber nur einstimmig minus die Stimme des betroffenen Mitgliedstaats feststellen. Danach können mit qualifizierter Mehrheit bestimmte Rechte des Mitgliedstaats ausgesetzt werden, einschliesslich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im EU-Ministerrat.

Diese Regelung verunmöglichte bisher, Polen und Ungarn zu sanktionieren. Denn es war undenkbar, dass das eine Land das andere verurteilen würde und umgekehrt; sie stützten sich gegenseitig. Die EU-Kommission schlug deshalb 2018 eine Verordnung zum Schutz des Haushalts der Union im Fall von generellen Mängeln bezüglich des Rechtsstaatsprinzips in den

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Mitgliedstaaten vor (vgl. Europäische Kommission, 2018). Der Vorschlag wurde im Dezember 2020 vom Europäischen Rat nach langwierigen Verhandlungen mit den Stimmen Polens und Ungarns angenommen (vgl. Toggenburg, 2021, S. 273 ff.). Die Verordnung ermöglicht es, die Zahlung von Geldern aus dem EU-Haushalt von der Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien abhängig zu machen. Sie hat deshalb den Namen «allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union» erhalten.

Die Verordnung führt aus, worum es bei «Rechtsstaatlichkeit» geht: Rechtmässigkeit, Rechtssicherheit, Verbot der willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt, effizienter Rechtsschutz, unabhängige und unparteiische Gerichte, Gleichheit vor dem Gesetz. Zudem sollen in diesem Zusammenhang die anderen in Artikel 2 EUV festgehaltenen Werte und Grundsätze berücksichtigt werden, also auch Grundrechtsschutz und Demokratie.

Die neue Verordnung hat allerdings einen Haken: Sie kann nur angewendet werden, wenn in einem Mitgliedstaat Verstösse gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit den Haushalt der EU oder ihre finanziellen Interessen «hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen». Ist das der Fall, kann die EU-Kommission dem EU-Ministerrat, der aus den für die Sache zuständigen Ministern der Regierungen der Mitgliedstaaten zusammengesetzt ist, Massnahmen zum Schutz des Haushalts der Union vorschlagen. Der Ministerrat entscheidet dann mit qualifizierter Mehrheit über die Massnahmen. Diese können auch die Streichung von EU-Geldern enthalten. Diese Konditionalitätsregelung gilt deshalb als das wirksamere Druckmittel, um fehlbare Mitgliedstaaten zur Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit zu bewegen, als das Verfahren gemäss Artikel 7 EUV.

Gegen die neue Verordnung legten Polen und Ungarn beim EuGH eine Nichtigkeitsklage ein – unter anderem mit der Begründung, es fehle eine Rechtsgrundlage. Der EuGH lehnte diese Klage im Februar 2022 vollumfänglich ab (vgl. Europäischer Gerichtshof, 2022). Er argumentierte, die Verordnung falle unter die durch die EU verliehene Zuständigkeit, Vorschriften über die Ausführung des Haushalts erlassen zu können. Dieser müsse vor Beeinträchtigungen geschützt werden können, die sich direkt aus Verstössen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergäben. Die

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