Martin Gollmer: Plädoyer für die EU. Warum es sie braucht und die Schweiz ihr beitreten sollte

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Plädoyer EUfür die

Martin Gollmer
Warum es sie braucht und die Schweiz ihr beitreten sollte

Plädoyer für die EU

Warum es sie braucht und die Schweiz ihr beitreten sollte

NZZ Libro

Martin Gollmer

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil 1

1. EU-Freundlichkeit hält sich in Grenzen 17

EU: Mässiges Vertrauen in das europäische Integrationsprojekt, aber optimistisch für dessen Zukunft 17 Schweiz: Ja zur Annäherung an die EU, aber am liebsten nur beschränkt 18

2. Die EU ist in schwacher Form 23 Brexit – ein schwerer Schlag für die EU und nur bedingt ein Modell für die Schweiz 23

Die EU hat Mühe mit der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit 28

Asyl- und Migrationspolitik kommt nicht aus der Krise 32 Staatsverschuldung wird nicht unter Kontrolle gebracht 36 Gemeinsame Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik leidet an mangelnder Gemeinsamkeit 41

Europäische Identität und Öffentlichkeit bestehen nur in Ansätzen 48

Das Demokratiedefizit ist noch immer nicht vollständig ausgeräumt 51

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3. Die EU ist wichtig und notwendig 57

Die EU hat zu 70 Jahren Frieden in Westeuropa beigetragen 58

Die sukzessiven Erweiterungen der EU vergrösserten die europäische Wertegemeinschaft 61

Die EU-Kohäsionspolitik fördert strukturschwache Regionen 68

Der Binnenmarkt dynamisierte den europäischen Integrationsprozess 73

Im Schengen-Raum sind Reisen ohne Kontrollen an den Binnengrenzen möglich 78

Der Euro erleichtert das grenzüberschreitende Bezahlen in der EU 83

Teil 2

4. Die Schweiz sollte der EU beitreten 93

Die Schweiz und die EU – vergleichbare Werte, enge Beziehungen 93

Die Schweiz regelt ihre Beziehungen zur EU mit bilateralen Verträgen 95

Die Schweiz übernimmt EU-Recht, bei dessen Erlass sie nicht mitentscheiden kann 104

Mit dem Nachvollzug von EU-Recht gibt die Schweiz Souveränität ab, mit einem EU-Beitritt würde sie Souveränität zurückgewinnen 106

Ein EU-Beitritt würde der Schweiz zusätzliches Wirtschaftswachstum bringen 111

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5. Die Schweiz würde als EU-Mitglied nicht untergehen 115

Institutionelle Vorkehrungen in der EU schützen die kleinen vor den grossen Mitgliedstaaten, die trotzdem überlegene Machtressourcen besitzen 115

Der Geldbetrag, den die Schweiz als Mitglied an die EU abführen müsste, würde die öffentlichen Finanzen nicht aus dem Lot bringen 121

6. Die Schweiz bliebe selbst nach einem EU-Beitritt die Schweiz 127

Die Neutralität müsste nicht aufgegeben werden 127

Die direkte Demokratie könnte beibehalten werden 135

Der schweizerische Föderalismus würde nicht tangiert –auch die EU gehorcht föderalistischen Prinzipien 139

7. Änderungen wären bei einem EU-Beitritt vonnöten 143

Die politischen Institutionen müssten –längst überfällig – reformiert werden 143

Der Franken müsste wohl zugunsten des Euro aufgegeben werden 147

Im Steuersystem käme es zu spürbaren Anpassungen 150

Bei der Landwirtschaft käme es zum Freihandel mit der EU 152

Fazit und Ausblick 157

Die EU ist unterwegs 158

Die Schweiz tut sich schwer 164

Anmerkungen 168

Literatur- und Quellenverzeichnis 169 Verzeichnis der Grafiken und Tabellen 185 Grafiken 185 Tabellen 185

Abkürzungsverzeichnis 186 Dank und Widmung 189

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«Wenn es die EU nicht gäbe, dann müsste man sie erfinden.»1

Joschka Fischer, ehemaliger deutscher Aussenminister und Politiker der Grünen

«Unsere Heimat ist die Schweiz, aber die Heimat der Schweiz ist Europa.»2

Peter von Matt, emeritierter Professor für neuere deutsche Literatur und Schrift­steller

Einleitung

Die Europäische Union (EU) und die Schweiz haben in den vergangenen Monaten und Jahren mehrere Schlüsselmomente erlebt. Ein solcher Moment war mit Sicherheit der 24. Februar 2022. An diesem Tag startete Russland die brutale, völkerrechtswidrige Invasion des Nachbarstaats Ukraine. Seither liegt die Sicherheitsordnung Europas, die ab 1989 im Nachgang des Zerfalls der Sowjetunion und des Ostblocks geschaffen wurde, in Trümmern.

Die EU, vielleicht der wichtigste politische und wirtschaftliche Akteur auf dem Kontinent, sah sich herausgefordert. Zuvor oft zerstritten und uneinig, fand sie zu neuer Geschlossenheit. In hohem Tempo verabschie dete sie, zum Teil im Gleichgang mit den USA, mehrere einschneidende Sanktionspakete gegen Russland. Die Mitgliedstaaten begannen eiligst, ihre Militärbudgets aufzustocken. Das nicht sehr EU-enthusiastische Däne mark beschloss in einer Volksabstimmung mit Zweidrittelmehrheit, den Vorbehalt gegen die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union aufzugeben; es will in Zukunft voll teilnehmen. Finn land und Schweden, bisher neutrale EU-Mitgliedstaaten, traten dem Nord atlantischen Verteidigungsbündnis NATO bei. Der Angriff Russlands auf die Ukraine führte dazu, dass diese, Georgien und die Republik Moldau Beitrittsgesuche bei der Europäischen Union deponierten.

Kein Zweifel: Die gemeinsame Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungs politik der EU wird als Folge des Kriegs in der Ukraine ausgebaut und ver stärkt werden. Vielleicht löst sich deswegen auch die Blockade in der EUAsyl- und -Migrationspolitik. Polen, bisher ein Bremser bei der Reform dieser Politik, und andere Mitgliedstaaten nahmen schnell und grosszügig mehrere Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Zuvor war die EU eher durch eine Politik des Abwehrens von Flüchtlingen – etwa aus Afrika und Nahost – aufgefallen. In der Energiepolitik fasste die EU Beschlüsse, um die Bezugsquellen insbesondere von Gas und Öl zu diversifizieren und die

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grosse Abhängigkeit von Russland zu reduzieren. Noch ist nicht absehbar, ob sich der Krieg in der Ukraine auch noch auf anderen Gebieten auf die Europäische Union auswirken wird. Klar ist aber, dass der Krieg die EU und deren Bedeutung in Europa verändern wird.

Auch die neutrale Schweiz reagierte auf den Krieg in der Ukraine. Sie übernahm, nach anfänglichem Zögern, die Sanktionen der Europäischen Union. Das sorgte weltweit für Aufsehen und landesintern für eine lebhafte Diskussion, was die Neutralität erlaube und was nicht. Auf der einen Seite beabsichtigt SVP-Doyen und Ex-Bundesrat Christoph Blocher eine Volks initiative zu lancieren, die eine «integrale» Neutralität der Schweiz in der Bundesverfassung verankern will. Auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die Schweiz solle ihre Neutralität aufgeben. In Windeseile beschloss das Parlament zudem, das Armeebudget aufzustocken. Weiter forderten meh rere Politiker, die militärische Zusammenarbeit mit der NATO auszubauen. Kein Zweifel auch hier: Der Krieg in der Ukraine wird die Aussen-, Sicher heits- und Verteidigungspolitik der Schweiz verändern.

Die Europäische Union hatte schon vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine zwei weitere einschneidende Momente erlebt. So urteilte das pol nische Verfassungsgericht am 7. Oktober 2021, dass Teile des EU-Vertrags, die Polen zur Befolgung von EU-Recht und Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verpflichten, nicht mit der Verfassung des Landes vereinbar seien. Die Richter hielten fest: Der Versuch des EuGH, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstosse gegen die Regel des Vor rangs der Verfassung und dagegen, dass die Souveränität eines Landes im Prozess der europäischen Integration gewahrt bleibe (vgl. Süddeutsche Zei tung, 2021). Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union wagte damit ein Mitgliedstaat, den Vorrang des EU-Rechts und des EuGH vor nationalem Recht und nationalen Gerichten infrage zu stellen. Der für die Union existenzielle Grundsatz, dass die EU-Verträge, das darauf beru hende EU-Recht und deren Auslegung durch den EuGH in allen Mitgliedstaaten gleichermassen gelten, war damit erschüttert.

Ein sogenannter Defining Moment war für die Europäische Union auch der Austritt Grossbritanniens. Diesen hatten am 23. Juni 2016 in einer Volksabstimmung 52 Prozent der stimmberechtigten Britinnen und

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Briten befürwortet. Vollzogen wurde der Brexit nach langwierigen Ver handlungen am 31. Januar 2020. Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union trat damit ein Mitgliedstaat aus der Gemeinschaft aus. Das Sprichwort «Einmal in der EU, immer in der EU» ist widerlegt. Gegner der Europäischen Union freuten sich und sahen schon den Anfang vom Ende der EU kommen. Befürworter befürchteten mindestens eine Schwächung der Europäischen Union auf der politischen und wirt schaftlichen Weltbühne.

Auch für die Schweiz gab es schon vor dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine ein Schlüsselereignis – und zwar am 26. Mai 2021. An diesem Tag entschied die schweizerische Regierung, der Bundesrat, die seit sie ben Jahren laufenden, zähen Verhandlungen mit der EU über ein institu tionelles Rahmenabkommen zu den bilateralen Verträgen ergebnislos abzubrechen. Der nach dem knappen Volks-Nein von 1992 zum Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) seit 2002 begangene bilate rale Weg schien damit von einem Tag auf den anderen versperrt. Denn die EU hatte zuvor wiederholt klargemacht, dass es ohne Rahmenabkommen keine Aktualisierung bestehender bilateraler Verträge und keine neuen bilateralen Abkommen gebe. Der Bilateralismus mit der EU wurde von vielen als der Königsweg in der schweizerischen Europapolitik betrachtet. Er bot der Schweiz einen von Handelsbarrieren freien Zugang zu einem Teil des EU-Binnenmarkts, ohne dass sie Mitglied werden musste. Die national-konservative, EU-kritische Schweizerische Volkspartei (SVP) freute sich über den Verhandlungsabbruch. Die meisten anderen Parteien waren konsterniert.

Wie immer man die Tragweite dieser Ereignisse für die Europäische Union und die Schweiz einschätzt, klar ist, dass sich die Geister an der europäischen Integrationspolitik und an der schweizerischen Europapoli tik scheiden. Was die EU betrifft, so sehen die einen in ihr ein epochales Werk, das Westeuropa mittels einer weitgehenden wirtschaftlichen Integration eine nun schon 70 Jahre lange Periode von Frieden und Prosperität beschert hat. Die anderen sehen in der EU ein fehlgeleitetes Projekt der europäischen Eliten, die versuchen, unter Missachtung der existierenden kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Unterschiede in Europa von

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oben herab einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Staaten zu realisieren.

Auch die Frage der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU spaltet die Menschen. Die einen wollen, dass sich die Schweiz an der euro päischen Integration beteiligt und ihren Beitrag zu diesem einzigartigen Einigungs- und Aufbauprojekt leistet. Doch schon über das Ausmass dieser Beteiligung gehen die Meinungen auseinander. Vielen genügen dazu bila terale Verträge. Diese erlauben der Schweiz, in Teilbereichen am EU-Bin nenmarkt und an seinen flankierenden Politiken zu partizipieren, ver pflichten sie aber zur Übernahme des entsprechenden EU-Rechts. Bei dessen Erlass kann die Schweiz nicht mitentscheiden; dafür bleibt sie weit gehend eigenständig. Nur wenige wollen den Beitritt zur Europäischen Union. Dieser böte der Schweiz die volle Beteiligung am EU-Binnenmarkt, an den flankierenden Politiken, an der Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Euro, an der Justiz-, Innen-, Migrations- und Asylpolitik sowie an der gemeinsamen Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Gleichzeitig erhielte die Schweiz ein Mitentscheidungsrecht in allen EU-Organen. Als EU-Mitglied müsste die Schweiz ihre Souveränität mit den anderen Mit gliedstaaten der Europäischen Union teilen.

Andere möchten, dass die Schweiz gänzlich unabhängig bleibt. Sie fürchten, dass eine Annäherung an die EU oder gar ein Beitritt den Charak ter und die Identität des Landes zerstören würde.

Die Europäische Union und die Beziehungen der Schweiz zu ihr inte ressieren und beschäftigen die Menschen, wie Umfragen zeigen. Die Dis kussion darüber in der EU und besonders in der Schweiz ist jedoch von Zerrbildern geprägt. Was die Schweiz betrifft, braucht sie mehr Ambition und Mut in der Europapolitik. Denn auch nach dem Abbruch der Verhand lungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zu den bilateralen Verträgen kommen Regierung und die meisten Parteien nicht aus einge fahrenen Gleisen heraus: Der Bilateralismus mit der EU soll weitergeführt werden.

Das vorliegende Buch räumt mit den Zerrbildern zur EU auf und vermittelt der Schweiz eine ambitionierte und mutige europapolitische Perspektive.

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Es ist eine Schrift wider die Dämonisierung und das Schlechtreden der Europäischen Union. Dabei blendet es die Defizite der EU-Institutionen und -Politiken nicht aus, stellt diese aber differenziert dar. Gleichzeitig ist dieses Buch ein Plädoyer für den EU-Beitritt der Schweiz, ohne jedoch in Schönfärberei zu verfallen. Ziel ist es, die praktisch eingeschlafene Diskus sion über einen EU-Beitritt der Schweiz wieder in Gang zu bringen.

Teil 1 des Buchs wirft – ausgehend von den Einstellungen der Europäe rinnen und Europäer sowie der Schweizerinnen und Schweizer zur Euro päischen Union (1. Kapitel) – einen Blick auf Misserfolge und Schwächen der EU (2. Kapitel). Dazu gehören der Brexit, die Mühen mit der Durch setzung der Rechtsstaatlichkeit, die Blockade in der Asyl- und Migrations politik sowie die hohe Staatsverschuldung in vielen Mitgliedstaaten. Erörtert werden in diesem Kapitel auch die Kakofonie in der gemeinsa men Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, das Fehlen einer euro päischen Identität sowie das fortbestehende Demokratiedefizit. Gezeigt werden im Buch aber ebenso Erfolge und Stärken der europäischen Integration (3. Kapitel). Dazu zählen die Schaffung von Frieden in Westeuropa, die sukzessive Erweiterung der europäischen Wertegemeinschaft, die Hilfe für strukturschwache Regionen, der Binnenmarkt mit dem freien Perso nen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, die Reisefreiheit im sogenannten Schengen-Raum sowie die gemeinsame Währung Euro. Begründet wird, weshalb die EU für die Mitgliedstaaten sowie für deren Bevölkerung und Wirtschaft in der Summe wichtig und notwendig bleibt.

Teil 2 legt dar, dass die Schweiz der Europäischen Union beitreten sollte, weil sie in EU-Belangen, die auch die Eidgenossenschaft betreffen, mitentscheiden könnte und Vorteile für die Wirtschaft resultieren würden (4. Kapitel). Aufgezeigt wird, dass sich die Schweiz im Konzert der EU-Mit gliedstaaten behaupten könnte, obwohl sie ein Kleinstaat ist (5. Kapitel). Wichtige, identitätsstiftende Merkmale wie Neutralität, direkte Demokra tie oder föderaler Staatsaufbau könnten bei einem EU-Beitritt beibehalten werden (6. Kapitel). Eine EU-Mitgliedschaft würde aber auch gewichtige Änderungen notwendig machen – am ehesten in den Bereichen Politik, Währung, Steuern und Landwirtschaft (7. Kapitel).

Fazit und Ausblick beschliessen das Buch.

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Teil 1

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1. EU-Freundlichkeit hält sich in Grenzen

Das europäische Integrationsprojekt ist auch 70 Jahre nach seiner Lancie rung umstritten und zieht immer wieder Kritik auf sich – in der EU wie in der Schweiz. Das drückt sich auch in der Einstellung der Europäerinnen und Europäer sowie der Schweizerinnen und Schweizer zur EU aus, wie Umfragen zeigen. Die Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten ist dabei gegen über der Europäischen Union deutlich positiver eingestellt als die Einwoh nerinnen und Einwohner der Schweiz. Dennoch ist der Support für die Europäische Union auch in den Mitgliedstaaten nicht überwältigend. Die Schweizer Bevölkerung findet die EU zwar wichtig, will aber trotzdem am liebsten auf Distanz zu ihr bleiben. Bilaterale Verträge würden genügen, um das Verhältnis zur Europäischen Union zu regeln.

EU: Mässiges Vertrauen in das europäische Integrationsprojekt, aber optimistisch für dessen Zukunft Gemäss der Eurobarometer-Umfrage vom Winter 2021/22 hat nur knapp die Hälfte der Europäerinnen und Europäer – 47 Prozent – Vertrauen in die EU (vgl. Europäische Kommission, 2022a, S. 9 ff.). Immerhin ist das einer der höchsten Werte seit 2008. Das grösste Vertrauen geniesst die EU in Portugal (69 Prozent), das geringste etwas überraschend in Frankreich (32 Prozent). Der Wert für Deutschland beträgt 48 Prozent, jener für Öster reich 42 Prozent. Im EU-Durchschnitt vertrauen 44 Prozent der Europäi schen Union nicht.

Interessant: Das Vertrauen in die Europäische Union ist nach wie vor deutlich grösser als in die Regierungen ihrer Mitgliedstaaten. Dieses beträgt im EU-Durchschnitt 35 Prozent. Für das Vertrauen in die nationa len Parlamente weist die Eurobarometer-Umfrage im Mittel der EU-Mit gliedstaaten einen Wert von 36 Prozent aus.

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44 Prozent der Europäerinnen und Europäer – wiederum nur eine rela tive Mehrheit – geben in der Eurobarometer-Umfrage an, ein positives Bild von der EU zu haben. 38 Prozent haben weder ein positives noch ein nega tives Bild. Der Anteil der Befragten, bei denen die EU ein negatives Bild hervorruft, beträgt im Durchschnitt der Mitgliedstaaten 17 Prozent. Den mit Abstand höchsten Anteil der Bevölkerung mit einem positiven Bild der Europäischen Union weist Irland auf (71 Prozent), den kleinsten Anteil Griechenland (32 Prozent). In Deutschland haben 49 Prozent der Einwoh nerinnen und Einwohner ein positives Bild von der EU, in Österreich 34 Prozent. 41 Prozent der Bevölkerung hat in Österreich weder ein positi ves noch ein negatives Bild der Europäischen Union.

Die Zukunft der EU sehen die Europäerinnen und Europäer dagegen ziemlich optimistisch. Im Winter 2021/22 gaben in der EurobarometerUmfrage 62 Prozent an, an das europäische Integrationsprojekt zu glau ben. Das ist der zweithöchste Wert seit Herbst 2009. Dass die Europäische Union nach dem Austritt Grossbritanniens auseinanderbrechen könnte, denkt also eine absolute Mehrheit der EU-Bevölkerung nicht. Gut jeder dritte Befragte sieht die Zukunft der Europäischen Union pessimistisch. Am optimistischsten sind die Bewohnerinnen und Bewohner Irlands (88 Pro zent). In Griechenland sind dagegen nur 45 Prozent der Befragten optimis tisch bezüglich der Zukunft der EU. In Deutschland beläuft sich die Zahl der Optimisten auf 63 Prozent, in Österreich auf 58 Prozent.

Die Haltung der Europäerinnen und Europäer zur EU kann so zusam mengefasst werden: Das europäische Integrationsprojekt wird bestehen bleiben, auch wenn es nicht übermässig geliebt wird.

Schweiz: Ja zur Annäherung an die EU, aber am liebsten nur beschränkt Laut einer Umfrage des Forschungsinstituts gfs.bern für die Credit Suisse und das Europa Forum Luzern im Jahr 2020 empfinden drei von vier Schweizerinnen und Schweizern die politischen und wirtschaftlichen Ent wicklungen in der EU für sich persönlich als eher wichtig oder sogar sehr wichtig (vgl. gfs.bern, 2020, S. 11 f.). Was in der EU passiert und wie es ihr geht, lässt also die grosse Mehrheit der Schweizer Bevölkerung nicht kalt.

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In einer Umfrage von gfs.bern für die Credit Suisse, die 2021 nach dem Abbruch der Verhandlungen mit der EU über ein institutionelles Rahmen abkommen zu den bilateralen Verträgen durchgeführt wurde, bezeichnen

33 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer die Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union als eine ihrer fünf grössten Sorgen (vgl. gfs.bern, 2021, S. 6 ff.). Mehr Sorgen bereiten den Befragten 2021 nur die Coronavirus-Pandemie (40 Prozent), Umweltschutz und Klimawandel sowie die Altersvorsorge (je 39 Prozent).

Die EU mag in der Schweiz sehr interessieren, beliebt ist sie aber nicht. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung steht dem europäischen Integra tionsprojekt nämlich reserviert gegenüber. Gemäss einer auf dem Statistik portal Statista zu findenden Umfrage aus dem Jahr 2017 – also vier Jahre vor dem Höhepunkt des Hickhacks mit der Europäischen Union um ein institutionelles Rahmenabkommen zu den bilateralen Verträgen – bezeich nen sich nur 38 Prozent der Befragten als EU-freundlich (vgl. Statista, 2017). 22 Prozent geben sich EU-skeptisch, und eine relative Mehrheit von 40 Prozent antwortet, ihre Haltung gegenüber der Europäischen Union sei ambivalent.

Auch Vertrauen geniesst die EU nicht viel in der Schweiz. Auf die Frage nach dem Vertrauen in ausgewählte Staaten, Staatenbünde und internatio nale Organisationen antworteten 2021 in einer Umfrage von gfs.bern nur 22 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer, sie hätten grosses bis sehr grosses Vertrauen in die Europäische Union (vgl. gfs.bern, 2021, S. 20). Wenig bis kein Vertrauen haben dagegen 49 Prozent. Ähnlich gering ist das Vertrauen der Schweizer Bevölkerung in die lateinischsprachigen Nachbar staaten Frankreich und Italien (siehe Grafik 1). Deutlich mehr Vertrauen als diese und die EU geniessen dagegen die deutschsprachigen Nachbar länder Österreich und Deutschland sowie die Vereinten Nationen (UNO).

Das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union ist zurzeit durch eine Vielzahl bilateraler Verträge geregelt. Diese Abkommen halten mehr als drei Viertel der Schweizer Stimmberechtigten für eher wichtig respek tive sehr wichtig (vgl. gfs.bern, 2020, S. 12 f.). Nachdem der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU über ein institutionelles Rahmenabkommen zu diesen Verträgen im Mai 2021 abgebrochen hat, scheint aber die Zukunft

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20 Quelle: gfs.bern, 2021 1 1 2 4 3 5 5 6 6 12 17 17 16 16 14 19 20 24 32 39 27 34 31 32 23 18 18 13 12 10 11 9 13 6 8 5 9 8 18 10 7 4 3 3 2 2 2 3 Italien Frankreich EU UNO Deutschland Österreich 2 3 Mitte 5 6 kein Vertrauengrosses Vertrauen weiss nicht/keine Antwort in % Stimmberechtigte (n = 1330) «Nennen Sie mir bitte auch gleich das Vertrauen in folgende Staaten, Staatenbünde und Organisationen und ihre Politik der Schweiz gegenüber.» Vertrauen in ausgewählte Staaten, Staatenbünde und Organisationen Grafik 1

des bilateralen Wegs zumindest vorerst ungewiss. Wie soll es in dieser Situ ation mit der Europäischen Union weitergehen?

Eine klare Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer wünscht, das der Bundesrat am bilateralen Weg festhält und erneut mit der EU über ein institutionelles Rahmenabkommen verhandelt (siehe Grafik 2). 74 Prozent der Befragten setzen diese Option auf den ersten, zweiten oder dritten Rang ihrer Präferenzen zum zukünftigen Verhältnis der Schweiz mit der Europäischen Union (vgl. gfs.bern, 2021, S. 13 f.). Ebenfalls eine deutliche Zustimmung erntet die Variante, die existierenden bilateralen Verträge ohne Weiterentwicklung zu erhalten. Überraschend viel Zuspruch – 52 Pro zent – erhält sodann der Vorschlag, dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beizutreten. Das schweizerische Stimmvolk hatte diesen Beitritt 1992 in einer denkwürdigen Abstimmung knapp abgelehnt. Der EWR ist der gemeinsame Binnenmarkt der 27 EU-Staaten mit den drei Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) Norwegen, Island und Liech tenstein. Nur wenig Unterstützung findet in der Schweizer Bevölkerung dagegen ein EU-Beitritt. Gerade mal 20 Prozent der Befragten zählen ihn zu ihren wichtigsten Präferenzen.

Annäherung ja – das aber am liebsten nur beschränkt. So lässt sich die Haltung der Schweizerinnen und Schweizer zur EU beschreiben. Dabei dürfte nicht nur das mangelnde Vertrauen in das europäische Integrations projekt eine Rolle spielen. Wichtig sein dürfte vielmehr auch die Unkennt nis der Europäischen Union und – damit sehr wahrscheinlich zusammen hängend – ihr schlechtes Image bei vielen Menschen in der Schweiz: Sie nehmen die EU als undemokratisches Bürokratiemonster wahr, das die Eigenheiten ihrer Mitgliedstaaten missachtet und von der Brüsseler Zen trale aus versucht, alles zu reglementieren und zu vereinheitlichen. Man che stellen deshalb gar die Existenzberechtigung der Europäischen Union infrage.

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Zukünftiges Verhältnis zwischen der Schweiz und

Institutionelles

Rahmenabkommen erneut verhandeln

Bilaterale Verträge ohne Weiterentwicklung erhalten

EWR beitreten

Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU künden gar keine besonderen Beziehungen EU beitreten

Bilaterale Verträge künden

gfs.bern,

22 Quelle:
2021
der EU
«Wie soll das zukünftige Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU Ihrer Meinung nach aussehen? Bitte bringen Sie die verschiedenen Möglichkeiten der künftigen Ausgestaltung in eine Rangfolge entsprechend Ihren persönlichen Präferenzen. Rang 1 entspricht dem, was Sie am liebsten möchten, Rang 7 dem, was Sie am wenigsten möchten.» in % Stimmberechtigte, die eine eindeutige Rangfolge haben (n = 898) 33 20 21 8 10 6 2 18 25 20 21 8 6 2 14 19 19 14 14 18 2 12 12 10 14 23 23 6 10 8 16 16 21 10 19 8 6 8 14 18 23 23 6 6 8 13 8 14 45 2. Rang 3. Rang 4. Rang 5. Rang 6. Rang1. Rang (am liebsten) 7. Rang (am wenigsten) Grafik 2

2. Die EU ist in schwacher Form

Ungeachtet der Richtigkeit der negativen Einschätzung der EU durch viele Schweizerinnen und Schweizer – und auch durch manche Europäerinnen und Europäer –, am Schluss des letzten Kapitels macht das europäische Inte grationsprojekt nicht wirklich eine gute Figur. So hat die EU zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Austritt eines Mitgliedstaats hinnehmen müssen. Sie vermag rechtsstaatliche Prinzipien in einigen ihrer Mitgliedstaaten nicht durchzusetzen. Es gelingt ihr nicht, das Asyl- und Flüchtlingsproblem in Europa auf menschenwürdige Weise zu lösen. Sie scheint kein Mittel gegen die hohe Verschuldung vieler ihrer Mitgliedstaaten zu haben. Die gemein same Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik leidet an der mangeln den Geschlossenheit der Mitgliedstaaten und deren geringem Willen zur Souveränitätsabgabe in diesen Bereichen. Die EU hat es nicht geschafft, ihren Bürgerinnen und Bürgern eine europäische Identität zu vermitteln. Und noch immer ist das Demokratiedefizit nicht gänzlich behoben. Doch der Reihe nach.

Brexit – ein schwerer Schlag für die EU und nur bedingt ein Modell für die Schweiz

Am 31. Januar 2020 trat Grossbritannien aus der Europäischen Union aus. Dies, nachdem 52 Prozent der Britinnen und Briten den Brexit nach einer emotional aufgeladenen Abstimmungskampagne am 23. Juni 2016 in einer Volksabstimmung gutgeheissen hatten. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU hat damit ein Mitgliedstaat die Europäische Union wieder verlassen.

«Entscheidender Impuls für den Austritt war der Wille der BrexitBefürworter nach Wiedererlangung der uneingeschränkten nationalen Souveränität», schreibt der ehemalige EU-Parlamentsmitarbeiter Andreas Wehr in seinem Porträt der Europäischen Union (Wehr, 2018, S. 113). Dabei sei es nicht um die eine oder andere Brüsseler Entscheidung gegan

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gen, mit der man auf der Insel nicht einverstanden war. «Es ging vielmehr darum, ob über die Angelegenheiten des britischen Volkes auch in Brüssel oder Strassburg oder aber allein in London entschieden werden soll, ob britische Gerichte über die eigenen Angelegenheiten entscheiden sollen oder aber der Europäische Gerichtshof in Luxemburg.» Die Parole der Austrittsbefürworter in Grossbritannien lautete denn auch: «Let’s take back control.»

Die Bewahrung der Eigenständigkeit und Eigenart Grossbritanniens sei eine Konstante in der britischen Politik gegenüber dem europäischen Kon tinent, schreibt der britische Historiker Brendan Simms in seinem Werk Die Briten und Europa (vgl. Simms, 2016). Sorgsam achteten die Regierungen auf der Insel darauf, dass kein Staat in Europa zu mächtig wurde und die Unabhängigkeit sowie die territoriale Unversehrtheit Grossbritanniens gefährdete. Dabei setzten die Briten nicht nur auf Diplomatie, sondern grif fen – wenn nötig – auch auf militärische Gewalt zurück.

Immer mal wieder machten die Briten den Europäern auch Vorschläge zur Kooperation, um das friedliche Zusammenleben der Staaten auf dem Kontinent zu fördern – meistens aber, ohne sich dabei selbst engagieren oder gar binden zu wollen. So etwa am 19. September 1946, als der ehe malige britische Kriegspremierminister Winston Churchill in einer berühmt gewordenen Rede an der Universität Zürich die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa vorschlug (vgl. Churchill, 1946). Kern sollte dabei eine Partnerschaft Frankreichs und Deutschlands sein. Grossbritannien sah Churchill dabei nur als Freund und Unterstützer dieses vereinten Europas, nicht aber als Mitglied. So machte es 1951 weder bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) durch Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg noch 1957 bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG, EURATOM) durch dieselben Staaten mit. Aus der Fusion der EGKS, der EWG und der EAG entstanden 1967 die Europäische Gemeinschaft (EG) und schliesslich 1992 die Euro päische Union (EU). Stattdessen gründete Grossbritannien 1960 zusam men mit Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und der Schweiz die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA). Diese organi

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sierte eine reine Freihandelszone, die keine supranationalen Züge hatte wie der gemeinsame Markt der EWG.

Bald kam es aber zu einem Sinneswandel auf der Insel (vgl. Simms, 2016, S. 265). Grossbritannien musste schmerzlich feststellen, dass es finanziell und technologisch hinter die EWG-Staaten zurückzufallen drohte. Und mit diesen war der Handel grösser geworden als mit den EFTALändern und dem Commonwealth of Nations, der losen Vereinigung der Staaten des ehemaligen britischen Empires. Auch setzte sich in der briti schen Politik die Meinung durch, dass ein wieder stärker werdendes Deutschland von innerhalb der EWG besser zu kontrollieren sei als von ausserhalb.

1961 rang sich Grossbritannien zu einem Beitrittsgesuch zur EWG durch. Der Beitritt scheiterte aber 1963 am Veto Frankreichs. 1967 folgte ein zweiter Beitrittsantrag, den abermals Frankreich verhinderte. Der Bei tritt gelang schliesslich erst im dritten Anlauf und wurde per 1. Januar 1973 rechtskräftig. In der Folge war Grossbritannien selten während längerer Zeit mit Leib und Seele EU-Mitglied. Mehrmals handelte es sich Son derregelungen für seine Mitgliedschaft aus (vgl. Böhm/Lahodynsky, 2018, S. 97). So konnte das Land seine Währung, das britische Pfund, beibehal ten und musste nicht die Unionswährung Euro einführen. Grossbritan nien nahm auch nicht am Schengen-System teil und konnte so Kontrollen an seinen Grenzen aufrechterhalten. Für seine angeblich zu hohen Zah lungen an den EU-Haushalt sicherte es sich einen Sonderrabatt. Schliess lich wandte Grossbritannien auch die EU-Charta der sozialen Grundrechte nicht an.

Der EU-Austritt Grossbritanniens führte zu wirtschaftlichen Proble men auf der Insel (vgl. Mühlauer, 2021 und 2022, Triebe, 2021, sowie Nuspliger, 2022a). Es gab Versorgungsengpässe in Läden, Supermärkten und Warenhäusern sowie an Tankstellen. In gewissen Branchen, etwa im Transportwesen und in der Fleischverarbeitung, fehlte es plötzlich an Arbeitskräften, die zuvor günstig in den östlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union rekrutiert worden waren. EU-Ausländer, die in Gross britannien arbeiten wollen, brauchen nämlich nun ein Visum. Das kostet Geld und Zeit. Viele schreckt der Aufwand ab. Britische Unternehmen kla

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gen über aufwendige Formalitäten an der Landesgrenze, weil der freie Warenverkehr mit der EU nicht mehr möglich ist.

Natürlich hängen diese Probleme nicht nur mit dem Brexit zusammen. Auch die Coronavirus-Pandemie hat ihren Anteil daran. Dieser ist aber nur halb so gross wie die Auswirkungen des Brexits, wie das von der britischen Regierung unabhängige Office for Budget Responsibility errechnet hat. Wegen der Pandemie soll die Wirtschaftsleistung Grossbritanniens, das Bruttoinlandprodukt (BIP), langfristig um 2 Prozent einbrechen. Der Bre xit soll dagegen über den gleichen Zeitraum zu einer 4-prozentigen Schmä lerung des BIP beitragen. Und losgelöst von der Pandemie kommt die Denkfabrik Centre for European Reform aufgrund einer Analyse zum Schluss: Der britische Güterhandel habe sich seit dem EU-Austritt 11 bis 16 Prozent schlechter entwickelt als bei einem Verbleib in der Europäi schen Union.

Probleme bereitet Grossbritannien nach dem Brexit auch der neue Sta tus Nordirlands (vgl. Nuspliger, 2022b). Das sogenannte Nordirland-Protokoll, das Teil des Austrittsabkommens mit der Europäischen Union ist, sieht nämlich vor, dass die britische Provinz faktisch im EU-Binnenmarkt ver bleibt. Dafür soll es Grenzkontrollen zwischen Nordirland und dem übri gen Grossbritannien geben. Diese Regelung wurde getroffen, um zu ver meiden, dass auf der irischen Insel eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland entsteht. Zudem kann so das für den Frieden zwischen Katholi ken und Protestanten in Nordirland wichtige Karfreitagsabkommen von 1998 bestehen bleiben. Die Europäische Union konnte wiederum die Inte grität des Binnenmarkts bewahren.

Gegen das Protokoll opponieren aber die Unionisten. Sie sehen die Stellung Nordirlands im Vereinigten Königreich bedroht. Die Democratic Unionist Party (DUP) blockiert deswegen die Regierungsbildung in Nordir land, für die ein Zusammengehen von katholischen Nationalisten und pro testantischen Unionisten notwendig ist. Auch der konservativen Regierung in London sind die Kontrollen an der Grenze zu Nordirland ein Dorn im Auge. Nach einem monatelangen ergebnislosen Hin und Her zwischen Lon don und Brüssel hat sie im Juni 2022 ein Gesetz ins Parlament eingebracht, das einseitig Teile des Nordirland-Protokolls ausser Kraft setzen würde. Die

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Europäische Union bezeichnet das Vorgehen als inakzeptabel und als Ver trauensbruch (vgl. Europäische Kommission, 2022c). Sie hat ihrerseits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Grossbritannien auf den Weg gebracht, weil London bedeutende Teile des Nordirland-Protokolls nicht umsetze. Gleichzeitig hat die EU Vorschläge zur Vereinfachung der Grenz kontrollen vorgelegt. Der Streit zwischen London und Brüssel hat damit eine neue Eskalationsstufe erreicht.

Für die EU und ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht in Europa und in der Welt war der Austritt Grossbritanniens ein schwerer Schlag. Mit einem Mal verlor sie einen Markt mit rund 67 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten, ein Bruttoinlandprodukt von etwas mehr als 2800 Mil liarden US-Dollar und einen Nettozahler, der 6,8 Milliarden Euro zu ihrem Haushalt beisteuerte (Zahlen von 2019). Grossbritannien war immerhin hinter Deutschland der bevölkerungsmässig und wirtschaftlich zweit grösste EU-Staat gewesen. Auch in ihrem Bestreben, «Weltpolitikfähigkeit» zu erlangen, wie das der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker 2018 in seiner Rede zur Lage der Union gefordert hatte, erlitt die EU einen argen Rückschlag (vgl. Juncker, 2018, S. 5). Denn Grossbritan nien ist eine Atommacht, verfügt über einen ständigen Sitz im UNO-Sicher heitsrat und ist Mitglied sowohl der G-7 (Gruppe der sieben grössten west lichen Industrienationen) als auch der G-20 (Gruppe der 19 grössten Industrie- und Schwellenländer plus die EU). Vergleichbare Attribute hat jetzt in der nunmehr 27 Mitgliedstaaten umfassenden Europäischen Union nur noch Frankreich zu bieten.

Ist Grossbritannien ein Modell für die Schweiz, die auf das Bewahren ihrer Eigenständigkeit und Eigenart ebenfalls grosses Gewicht legt? Ist ein politisches und wirtschaftliches Überleben in Europa und der Welt auch ausserhalb der EU möglich? Die Frage ist grundsätzlich mit Ja zu beantwor ten. Doch es gibt Unterschiede zwischen den beiden Ländern, die es für die Schweiz schwieriger machen, sich in Europa und in der Welt allein zu behaupten. Grossbritannien liegt am Rand Europas und ist eine Insel. Das Land hat – abgesehen von der irischen Insel – keine direkten Grenzen mit der EU. Die Schweiz befindet sich dagegen im Zentrum Europas und ist von vier EU-Mitgliedstaaten umgeben, mit denen sie überdies drei ihrer Lan

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dessprachen teilt. Diese enge geopolitische und kulturelle Verflechtung erschwert ein autonomes Verhalten gegenüber der EU. Grossbritannien ist zudem – wie im letzten Abschnitt dargelegt – eine politisch und wirtschaft lich bestens vernetzte Grossmacht. Die Schweiz ist dagegen ein Kleinstaat, zwar wirtschaftlich auch sehr stark, aber ohne ständigen Sitz im UNOSicherheitsrat und ohne Mitgliedschaft in der G-7 und in der G-20. Beide Staaten sind wirtschaftlich eng mit der EU verflochten. Grossbri tannien hat jedoch zusätzlich das Commonwealth of Nations im Rücken. Die Schweiz verfügt dagegen über keine ehemaligen Kolonien, die ihr als natürliche zusätzliche Märkte dienen könnten. Nach dem EU-Austritt hat Grossbritannien mit der Europäischen Union ein Handels- und Koopera tionsabkommen vereinbart. Die Schweiz verfügt über ein ähnliches Abkom men mit der EU. Aber es stammt aus dem Jahr 1972. Es müsste moderni siert werden, sollte die Schweiz den bilateralen Weg verlassen wollen. Dieser gewährleistet der Schweiz zurzeit noch einen besseren Zugang zum EU-Binnenmarkt als ihn Grossbritannien neuerdings hat. Denn sie besitzt dank der bilateralen Verträge Integrationsabkommen, die eine auf Rechts angleichung beruhende, von Handelsbarrieren freie teilweise Teilnahme am europäischen Binnenmarkt ermöglichen. Grossbritannien dagegen hat nur noch ein angereichertes Freihandelsabkommen, das den Abbau oder gänzlichen Wegfall direkter Handelshemmnisse wie Einfuhrbeschränkun gen und Zöllen vorsieht (vgl. dazu Epiney, 2021). Indirekte Handelshemm nisse wie unterschiedliche Produktvorschriften und Warennormen bleiben dagegen bestehen. Der Rückzug auf ein – auch modernisiertes – Freihan delsabkommen mit der EU wäre für die Schweiz also bezüglich Handels bedingungen ein Rückschritt gegenüber den bilateralen Verträgen.

Die EU hat Mühe mit der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit

Die EU ist eine Wertegemeinschaft, wie Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) festhält. Dort steht: «Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ein schliesslich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese

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Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solida rität und Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.»

Seit Jahren gelingt es der EU aber nicht, diese Werte in einigen ihrer Mitgliedstaaten durchzusetzen. Im Vordergrund stehen dabei Polen und Ungarn, obwohl die EU-Werte auch in anderen Mitgliedstaaten Anfechtun gen ausgesetzt sind (vgl. die Übersicht bei Europäische Kommission, 2021a). Polen missachtet die Unabhängigkeit der Gerichte durch die Exe kutive und die Legislative (vgl. Europäische Kommission, 2021c). Vorläufi ger Höhepunkt des Tauziehens der EU mit Polen um die Unabhängigkeit der Justiz war im Oktober 2021 ein Urteil des polnischen Verfassungsge richts. Darin hiess es: Teile des EU-Vertrags, die Polen zur Befolgung von EU-Recht und Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ver pflichten, seien verfassungswidrig (vgl. Veser/Gutschker, 2021). Damit stellt Polen den Vorrang des EU-Rechts und der EU-Gerichte vor nationa lem Recht und nationalen Gerichten infrage – ein bis anhin einmaliger Vorgang in der Europäischen Union. Dieser Vorrang stellt das rechtliche Fun dament der EU dar. Wenn Mitgliedstaaten nur noch dasjenige EU-Recht und diejenigen Urteile des EuGH befolgen, die ihnen passen, funktionieren die Europäische Union und ihr Kernstück, der Binnenmarkt, nicht mehr.

«Wir können und wir werden es nicht zulassen, dass unsere gemeinsa men Werte aufs Spiel gesetzt werden», sagte die zutiefst besorgte EU-Kom missionspräsidentin Ursula von der Leyen in einer Debatte zum Thema vor dem EU-Parlament (Von der Leyen, 2021). Prompt hat die EU-Kommission im Dezember 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren gemäss Artikel 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gegen Polen eingeleitet (vgl. Europäische Kommission, 2021f). Das ist möglich, wenn nach Auffassung der EU-Exekutive ein Mitgliedstaat gegen eine Ver pflichtung aus den EU-Verträgen verstösst. In der jüngsten Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichtshofs sieht die EU-Kommission einen Verstoss gegen allgemeine Grundsätze der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie gegen die verbindliche Wirkung von Urteilen des EuGH. Verletzt seien ins besondere Artikel 19 EUV, der das Recht auf wirksamen Rechtsschutz in

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der Europäischen Union durch unabhängige Gerichte garantiert, und Arti kel 279 AEUV, der die Möglichkeit von einstweiligen Anordnungen durch den EuGH vorsieht.

Weiter lässt Polen punkto Wirksamkeit der Bekämpfung der Korrup tion auf höchster Ebene bei der EU-Kommission Bedenken aufkommen. Zudem sind gemäss der EU-Exekutive die Medienfreiheit und der Medien pluralismus in Polen gefährdet. Auch stehe die Gewaltenteilung unter erheblichem Druck.

In Ungarn gibt es bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz Entwick lungen, die laut der EU-Kommission zu Bedenken Anlass geben (vgl. Euro päische Kommission, 2021b). Es gebe zwar eine Strategie zur Korrup tionsbekämpfung, ihr Anwendungsbereich bleibe aber begrenzt. Der Medienpluralismus sei gefährdet. Was das System von Kontrolle und Gegenkontrolle anbelange, so gäben die Transparenz und die Qualität des Gesetzgebungsverfahrens Anlass zur Sorge. Eine Kontrolle der Exekutive funktioniere nicht. Justiz, Medien und Wissenschaft seien praktisch ausgeschaltet, lautet auch das alarmierende Fazit des Ungarnbeobachters Heiko Fürst (vgl. Fürst, 2019, S. 548).

Gegen Polen wurde 2017 (von der EU-Kommission) und gegen Ungarn 2018 (vom EU-Parlament) ein Verfahren gemäss Artikel 7 EUV eingeleitet. Das ist möglich, wenn ein Mitgliedstaat fundamentale Grundsätze der Union verletzt. Ob «eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte» durch einen Mitgliedstaat vorliegt, kann der Europäische Rat, das Beratungs- und Entscheidungsorgan der Staats- und Regierungschefs der EU, aber nur einstimmig minus die Stimme des betrof fenen Mitgliedstaats feststellen. Danach können mit qualifizierter Mehr heit bestimmte Rechte des Mitgliedstaats ausgesetzt werden, einschliess lich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im EU-Ministerrat.

Diese Regelung verunmöglichte bisher, Polen und Ungarn zu sanktionieren. Denn es war undenkbar, dass das eine Land das andere verurteilen würde und umgekehrt; sie stützten sich gegenseitig. Die EU-Kommission schlug deshalb 2018 eine Verordnung zum Schutz des Haushalts der Union im Fall von generellen Mängeln bezüglich des Rechtsstaatsprinzips in den

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Mitgliedstaaten vor (vgl. Europäische Kommission, 2018). Der Vorschlag wurde im Dezember 2020 vom Europäischen Rat nach langwierigen Ver handlungen mit den Stimmen Polens und Ungarns angenommen (vgl. Tog genburg, 2021, S. 273 ff.). Die Verordnung ermöglicht es, die Zahlung von Geldern aus dem EU-Haushalt von der Einhaltung von Rechtsstaatsprinzi pien abhängig zu machen. Sie hat deshalb den Namen «allgemeine Kondi tionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union» erhalten.

Die Verordnung führt aus, worum es bei «Rechtsstaatlichkeit» geht: Rechtmässigkeit, Rechtssicherheit, Verbot der willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt, effizienter Rechtsschutz, unabhängige und unparteiische Gerichte, Gleichheit vor dem Gesetz. Zudem sollen in diesem Zusammen hang die anderen in Artikel 2 EUV festgehaltenen Werte und Grundsätze berücksichtigt werden, also auch Grundrechtsschutz und Demokratie.

Die neue Verordnung hat allerdings einen Haken: Sie kann nur ange wendet werden, wenn in einem Mitgliedstaat Verstösse gegen die Grund sätze der Rechtsstaatlichkeit den Haushalt der EU oder ihre finanziellen Interessen «hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen». Ist das der Fall, kann die EU-Kommission dem EU-Ministerrat, der aus den für die Sache zuständigen Ministern der Regie rungen der Mitgliedstaaten zusammengesetzt ist, Massnahmen zum Schutz des Haushalts der Union vorschlagen. Der Ministerrat entscheidet dann mit qualifizierter Mehrheit über die Massnahmen. Diese können auch die Strei chung von EU-Geldern enthalten. Diese Konditionalitätsregelung gilt des halb als das wirksamere Druckmittel, um fehlbare Mitgliedstaaten zur Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit zu bewegen, als das Verfahren gemäss Artikel 7 EUV.

Gegen die neue Verordnung legten Polen und Ungarn beim EuGH eine Nichtigkeitsklage ein – unter anderem mit der Begründung, es fehle eine Rechtsgrundlage. Der EuGH lehnte diese Klage im Februar 2022 vollum fänglich ab (vgl. Europäischer Gerichtshof, 2022). Er argumentierte, die Verordnung falle unter die durch die EU verliehene Zuständigkeit, Vor schriften über die Ausführung des Haushalts erlassen zu können. Dieser müsse vor Beeinträchtigungen geschützt werden können, die sich direkt aus Verstössen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergäben. Die

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Dieses Buch ist eine Schrift wider das beliebte Schlechtreden der EU und räumt mit Zerrbildern auf. Dabei blendet es Misserfolge und Schwächen der Europäischen Union nicht aus, sondern stellt sie differenziert dar. Gleichzeitig beschreibt das Buch auch deren Erfolge und Stärken. Diese werden in der öffentlichen Diskussion wenig erwähnt. Sie machen indessen die EU für Menschen, Unternehmen und Mitgliedstaaten unverzichtbar.

Martin Gollmer plädiert für einen EU-Beitritt der Schweiz, verschweigt dabei aber nicht, dass ein solcher Schritt politisch heikle Änderungen notwendig machen würde. Gleichzeitig macht er deutlich, dass ein Beitritt auch mit Vorteilen verbunden wäre und die Schweiz ihre Eigenart bewahren könnte.

Plädoyer für die EU leistet einen Beitrag, die praktisch eingeschlafene Diskussion über einen EU-Beitritt der Schweiz wieder in Gang zu bringen.

www.nzz-libro.ch ISBN 978-3-907 396-01-8 9 783907 396018

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