Benedikt Eppenberger
Heidi, Hellebarden & Hollywood Die Praesens-Film-Story
NZZ Libro
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort – Hundert Jahre Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Praeteritum
(1923–1939)
Zwei Schweizer Himmelstürmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Be-)Werbung für die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . «Der meistverbotene Film der Welt» aus Zürich . . . . . . . . . . . . . . . «… hört die Signale!» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Kuhle Wampe führt ein dunkler Weg nach Tannenberg . . . . . . Wem gehört Wilhelm Tell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Krieg vor dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geburt der Aktivdienstgeneration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziviler Gehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Praesens
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(1940–1951)
«Die Probleme der Liebe» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auftritt: Hauptmann Hass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Jude gewinnt Mussolinis Filmpokal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Original Teddys gegen Gilberte Superstar . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmgranate für die Geistige Landesverteidigung . . . . . . . . . . . . . . Gespensterland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drei Könige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologischer Vorderlader . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wagnis Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Oscar für die Migros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stalingrad kann nicht stattfinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . «Die letzte Chance» für ein besseres Image . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Traum von der Traumfabrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matto war gestern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Liebesbriefe für Montgomery Clift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . KP-aranoia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ware «Schweiz» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Letzter Film vor Ausfahrt «Kalter Krieg» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Futurum
(1952–2024)
Heidi: Everyone’s favourite Swiss Miss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Völker-un-verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . … und ewig ruft die Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wechsler kann brauchen, was er gelernt hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzschluss im Vatikan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bünzlis Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hitlers nützlichster Idiot korrigiert Dürrenmatt . . . . . . . . . . . . . . . Oscar, der Bruchpilot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsam allein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fleischlose Schlachtplatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mädchen hinter Mauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glanzlose Gloria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das banale Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom KZ in den siebten Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . «Sie werden ihn finden» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialektik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Licence to Chaplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ad astra clara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Liebe aus Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sex, Lies & Videotapes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der zweitletzte Tango in Gurnigelbad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DVD kills the Video-Star . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jacks Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . We’ll meet again . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191 201 208 211 216 219 224 232 234 240 243 245 249 252 257 264 275 277 285 292 296 301 304 307
Anhang Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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Vorwort Hundert Jahre Gegenwart
Sommer 1971. Sein allererster Kinofilm war ein Praesens-Film gewesen. Die Mutter hatte ihn in Zürich ins Kino Bellevue gesetzt, wo sich der Siebenjährige Heidi aus dem Jahr 1952 ansehen sollte. Nach vier Jahren USA und zwei Jahren in der Romandie würde ihr Sohn so endlich etwas von seiner eigentlichen Heimat mitbekommen, hören, dass hier alle Mundart sprechen – ganz so, wie er es bislang bloss von den Eltern kannte. Nach Ende des Films verliess der Junge das Kino in Tränen, verfolgt vom Bild der deutschen Albtraum-Gouvernante Fräulein Rottenmeier. Um sie und ihresgleichen zu bannen, schuf er sich im Geiste ein Rottenmeier-freies Schweizer Traumland, nach dem ihn fortan im Krisenfall jenes «Heimweh» ergriff, das man ja auch die Schweizer Krankheit nennt. Zehn Jahre später stand der inzwischen 17-Jährige wieder beim Kino Bellevue. Er beobachtete von fern, wie einige Punks von der Polizei vertrieben wurden, die im Nachgang zu den vorjährigen Zürcher Unruhen mit Nonsens-Slogans wie «Freie Sicht aufs Mittelmeer – sprengt die Alpen» gegen Bürgerblock und etablierte Kulturträger demonstrierten. Gern hätte er sich ihnen angeschlossen. Dazu aber fehlte ihm der Mut, obgleich er sich, ähnlich wie die flüchtenden Gestalten, von jenen Zürcher Wiedergänger-Rottenmeiers gegängelt fühlte, die sich mit Hinweis auf das Privileg, in der heilen Heidi-Schweiz leben zu dürfen, jede Kritik am Status quo verbaten. Im selben Jahr starb mit Marion Gretler-Wünsche die Witwe von Heinrich Gretler, dem legendären Schweizer Filmstar und Darsteller des Alp-Öhis. Die kinderlos Gebliebene sorgte im bürgerlichen Zürich für Aufruhr, als sie testamentarisch mehrere hunderttausend Franken der «Zürcher Jugendbewegung» vermachte. Der Möchtegern-Rebell rieb sich erstaunt die Augen: Die Gattin dieses Relikts aus der Bunkerzeit der Geistigen Landesverteidigung machte sich mit «Chaoten» gemein? Später erfuhr er, dass Gretler sich noch vor seinem Tod 1977 mit seiner Frau darauf geeinigt hatte, dass der oder die Überlebende ihr Restvermögen «der Jugend» vermachen würde; das Feindbild «alter Schweizer Film» wies ab sofort erste Risse auf.
Hundert Jahre Gegenwart
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Vierzig Jahre später, beim Versuch, die Geschichte der 1924 gegründeten Praesens-Film AG nachzuzeichnen, wird bald klar: Heinrich Gretlers Wille, sich noch über den Tod hinaus der ungeliebten Rolle eines eidgenössischen Nationaldenkmals zu entziehen, ist nur eine von zahlreichen Irritationen, die das simplifizierende Bild vom muffig-reaktionären alten Schweizer Film – als dessen Inbegriff die Praesens-Film AG zu gelten hatte – stören. Zu Alteisen erklärt worden war der alte Schweizer Film bereits in den 1960er-Jahren von einer jungen Filmer- und Kritikergeneration, die, wie ihre Altersgenossen in Frankreich, der Tschechoslowakei oder in der BRD, den Bruch mit dem Gestern suchte. Für sie gehörte «Papas Kino», zusammen mit seinen kommerzorientierten, reaktionären Ideologen, auf den Müllhaufen der Geschichte. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zum Faschismusverdacht, der im Fall des alten Schweizer Films – im Unterschied zur westdeutschen Filmindustrie – aber haltlos, ja infam gewesen war. In der Eidgenossenschaft gab es zur Zeit von Hitlers Drittem Reich mit der Praesens-Film AG gerade eine Produktionsgesellschaft, die über die Fähigkeiten und Mittel verfügte, professionell Spielfilme herzustellen. Ihr Gründer und Direktor, der jüdische Schweizer Lazar Wechsler, war aus überlebensnotwendigen Gründen Antifaschist geworden, ganz so, wie viele seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus der Schauspielhaus-Exilantentruppe. Praesens-Film stellte deshalb Spielfilme nach Massgabe der Geistigen Landesverteidigung her: als ideelle Brandmauern gegen die Naziideolo gie, die die Existenz der Eidgenossenschaft im Kern bedrohte. Der Erfolg war gross. Filme wie Füsilier Wipf, Landammann Stauffacher oder Gilberte de Courgenay schrieben das Bild vom «Sonderfall Schweiz» so tief in die eidgenössische DNA ein, dass es über die Generationen bis heute immer wieder hochkommt. Kaum eine Diskussion zum Verhältnis Schweiz – Europa oder aber zur Positionierung des neutralen Kleinstaats in der sich abzeichnenden Neuordnung der Welt schafft es ohne Verweis auf die Geistige Landesverteidigung. Hier ist sie also, die Vergangenheit, die nicht vergehen will. So auch im Fall der mit vier Oscars und Goldener Palme in Cannes ausgezeichneten Praesens-Spielfilme Marie-Louise, Die Gezeichneten oder Die letzte Chance, die, auf die laufende Debatte um Flüchtlinge, Asylrecht und geschlossene Grenzen bezogen, beschämend aktuell wirken. Am Beispiel des 1961 entstandenen Praesens-Dokumentarfilms Eichmann und das Dritte Reich wiederum lässt sich nachweisen, wie sehr sich die antidemokratischen Agenden neuer faschistischer Bewegungen und jene des Originals gleichen. Und noch einmal dreissig Jahre älter ist der kontroverse Frauennot – Frauenglück des Kollektivs
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Vorwort
um den sowjetischen Filmregisseur Sergej Eisenstein, der im Licht der jüngst wieder aufgeflammten Abtreibungsdebatte betrachtet zeigt, wie wenig sich die Fronten seitdem verändert haben. Das Wirken und Fortwirken der alten Praesens-Filme war und ist etwas, das weit über die filmhistorische und künstlerische Bedeutung der Werke hinausreicht. Nicht um Werturteile zu fällen, sondern um Verbindungen von Gegenwart und Vergangenheit freizulegen, lohnt sich deshalb das Wiedersehen mit jedem der Filme, die die Praesens in den letzten hundert Jahren geplant, produziert und vertrieben hat. Dringt man einmal durch das Mythengeflecht, das das Unternehmen und seine Filme seit den Anfängen im Jahr 1924 umrankt, trifft man hinter Legenden auf eine widersprüchliche Realität. Und hier setzt dieses Buch an, das nicht als weitere Erfolgsstory in der endlosen Reihe mit Erfolgsstorys angelegt wurde, sondern die Historie dieser erstaunlichen Schweizer Traditionsfirma aus ebenso ver-rückter Perspektive präsentieren will: als anregendes, aus schillernden Geschichtsfragmenten, weggeworfenen Filmschnipseln und abgegriffenen Fundstücken zusammengesetztes Text- und Bildmosaik. Der bald sechzigjährige Rottenmeier-Beschädigte staunte bis ans Ende seiner Recherche, in welch überraschenden Zusammenhängen die Vergangenheit in der Gegenwart jeweils zum Leben erwachte, sobald er eine jener Filmbüchsen öffnete, in denen die Praesens-Geschichte heute in der Cinémathèque suisse ruht. So auch jetzt, als er in einem Band mit Leopold Lindtbergs Briefen und Artikeln von dessen Kampf um den Erhalt eines kleinen jüdischen Friedhofs unmittelbar vor der Zürcher Wohnung des bekanntesten Praesens-Regisseurs erfuhr und ihm aufging, dass dieser in den 1970er-Jahren bloss einen Steinwurf von ihm entfernt gelebt haben muss. Der kleine Friedhof sollte damals einer Sportanlage weichen. Die Sportanlage kam, doch Lindtberg und seine Mitstreiter setzten durch, dass der Friedhof erhalten blieb. Inmitten des Meers gleichförmiger Fussballfelder liegt so bis heute eine kleine Insel, auf der verwitterte, mit hebräischen Lettern beschriftete Grabsteine im Schatten mächtiger Kastanienbäume das Praeteritum mit dem Praesens und dem Futurum verbinden.
Hundert Jahre Gegenwart
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Abb. 1: Amalie und Lazar Wechsler bei Dreharbeiten zu Mittelholzers Abessinienflug, 1934.
Praeteritum (1923–1939)
Zwei Schweizer Himmelstürmer Sonntag, 8. Juli 1923. Kurz vor Mittag überflog Walter Mittelholzer mit seinen beiden Gefährten im Junkers-Eindecker die Gletscherlandschaften bei Spitzbergen. Der arktische Himmel wölbte sich blau, die Maschine lag ruhig in der Luft. Die Bedingungen für Foto- und Filmaufnahmen waren ideal. Mit dabei bei der Spitzbergen-Mission hatte der Bäckers sohn aus St. Gallen nicht nur seine bewährten Fotoapparate, auch ein Goerz-Hahn-Kinoapparat befand sich an Bord. Der bekannte Schweizer Flieger und Fotograf wollte fürs Publikum festhalten, dass sich aus der Höhe, wie er später schreiben wird, «mit einem Mal alles umfassen lässt, die Erde ein neues Antlitz, der Mensch ein neues, vollkommeneres Auge gewonnen hat».1 Der am 2. April 1894 Geborene hatte es weit gebracht; bis nach Spitzbergen, aufgeboten als Mitglied einer Versorgungsequipe für eine neue Rekordmission des Südpolbezwingers Roald Amundsen. Wenn ihn jetzt der Vater sehen könnte. Jener Vater, der wollte, dass er seine Bäckerei übernimmt, und deshalb nichts übrighatte für die Zukunftspläne des Sohns. Der Junior aber wollte nach Zürich, um dort Fotograf zu werden. Nicht dass es Walter Mittelholzer an kaufmännischem Geschick gefehlt hätte; bloss, der Sinn war ihm nicht nach kleinen Brötchen. Er wollte höher hinaus, nicht nur als Fotograf. Er träumte davon, wie der legendäre Toggenburger Ballonflieger und Fotograf Eduard Spelterini Bilder aus Himmelshöhe herab zu schiessen. Am 28. Juli 1914 – Mittelholzer war bereits in Zürich – brach in Europa der grosse Krieg los, ein grauenhaftes Stahlgewitter, in dem Millionen den Tod finden würden. Die Eidgenossenschaft blieb zwar verschont, das Geschehen auf und neben Europas Schlachtfeldern hatte gleichwohl grossen Einfluss auf das Leben der Menschen in der Schweiz. Nach der Gene ralmobilmachung befand sich ein Grossteil der Männer in der Armee. Sie fehlten so in den Fabriken und auf den Höfen, wo nun die Frauen übernahmen. Die Schweiz stellte auf Kriegswirtschaft um, etwas, das es seit Gründung des Bundesstaats 1848 nicht gegeben hatte. Wer gehofft hatte, die Bewährungsprobe sei mit Appellen an die mythische eidgenössische Solidaritätsformel zu bewältigen, sah sich getäuscht: Wie überall verschärften sich mit Fortgang der Schlachterei auch in der Schweiz die
Zwei Schweizer Himmelstürmer
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Abb. 2: Walter Mittelholzer im Dienst der Schweizer Luftwaffe, 1917.
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Klassengegensätze. Die Folge war soziale Unrast, was eine Entwicklung in Gang setzte, die zunehmend schwieriger zu kontrollieren war. Für Mittelholzer, der damals in Dübendorf die Rekrutenschule absolvierte, brachten die Entwicklungen weniger Elend als vielmehr die endgültige Befreiung aus der kleinbürgerlichen Lebenswelt des Vaters. Befeuert durch die Kriegsmaschinerie erfuhren der Flugzeugbau, die Fotografie und der Film weltweit Entwicklungsschübe, wie sie in Friedenszeiten undenkbar gewesen wären. Der militärischen Luftaufklärung wurde nun hohe Dringlichkeit zugemessen, und bald schon sass Fotograf Mittelholzer, der seinen Dienst gleich neben der kurz zuvor gegründeten Schweizer Luftwaffe tat, in einem Flugapparat, um aus 1000 Metern Höhe Manöverstellungen bei Horgen zu fotografieren. Auf diesem Flug fand Mittelholzer zu seiner Berufung: fliegen und gleichzeitig aus Vogelperspektive die Welt unter sich festhalten. Nach dem Friedensschluss 1918 und der Demobilisierung der Schweizer Armee war Unteroffizier Mittelholzer nicht bloss Leiter der fotografischen Abteilung der Fliegertruppe; er besass auch die Zulassung als Zivilpilot. Die Schweiz verfügte zu Beginn des Kriegs über keine stehende Luftwaffe, sodass die Piloten 1914 mit ihren privaten Flugapparaten hatten einrücken müssen, die sie nun nach Dienstentlassung wieder mit nach Hause nahmen. Weil sie jetzt auch im Zivilleben weiterfliegen wollten, sprossen private Fluggesellschaften wie Pilze aus dem Boden. Die 1919 von Mittelholzer zusammen mit seinem Fluglehrer Alfred Comte gegründete Comte, Mittelholzer & Co. Aero beschränkte sich aber nicht auf Personen- und Warentransporte. Zusätzlich bot die «Luftbildverlagsanstalt» Bilder aus Vogelperspektive. 1920 schlossen sich MittelholzerComte mit einem finanzkräftigeren Konkurrenten zusammen, um als «Ad Astra Areo» neuen, zahlungskräftigen Kundenschichten entgegenzufliegen. Der Griff nach den Sternen blieb aus. Die Wirtschaft steckte nach dem Krieg in der Krise, die Geschäfte liefen schlecht. Es war allein Mittelholzers Luftfotografie, die den Laden über Wasser hielt. Seine Künste waren gefragt, denn die auf das Kriegsende folgende wirtschaftliche und soziale Neustrukturierung hatte bei Industrie und Behörden die Nachfrage nach genauer Erfassung des Schweizer Raums markant gesteigert. Und
Praeteritum (1923–1939)
weil er in die Zukunft dachte, testete Mittelholzer bald auch die Eignung von Filmapparaten für Luftaufnahmen. 1919 markierte Alpenflug über das Oberengadin und die Bernina seinen Einstieg ins Filmgeschäft. 1923 ging es dann über die Landesgrenze hinaus nach Spitzbergen, wo sein Pilot die Maschine am frühen Nachmittag des 8. Juli knapp über das Eismeer sinken liess. Der Schweizer richtete die Kamera auf das Scherbenmuster, das die schwimmenden Eisschollen auf der Wasseroberfläche bilden. Der Blick auf diese unbekannten Landschaften wühlte Mittelholzer auf. Worte allein konnten die Erhabenheit des Augenblicks nur schlecht beschreiben. Das mussten Bilder tun, bewegte Bilder. Die Aufnahmen boten zwar nur einen Abglanz, aber Mittelholzer wusste um die Wirkung. «Wenn dann zu Hause beim magischen roten Lichte der Dunkelkammerlampe, die geschaute und erlebte Pracht und Herrlichkeit […] langsam, allmählich in schwarz und weissen Umrissen wieder lineare Gestalt annehmen, dann leben die Erinnerungen wieder aufs Neue auf; inhaltreiche Vergangenheit wird zur beglückenden Gegenwart.»2 Den Film drehte der Schweizer im Auftrag des deutschen Flugzeugbauers Junkers, der den zu Werbezwecken unternommenen, später gescheiterten Versuch, den Nordpol zu überfliegen, dokumentieren sollte. Dabei fühlte sich Mittelholzer dem Flugzeugbauer besonders verpflichtet, hatte Junkers doch 50 Prozent der in finanziellen Nöten steckenden Ad Astra Aero übernommen und die Gesellschaft so gerettet. Mit der Ad-Astra-Beteiligung hatte sich Junkers aber mehr als die fotografischen Talente Mittelholzers gesichert; ihr Hauptinteresse galt dem Austesten neuer Maschinen unter Extrembedingungen. Da aber solche Tests dem Weltkriegsverlierer laut Versailler Vertrag untersagt waren, lagerten die Deutschen die Forschung in die Schweiz aus. Damit aber stand Ad Astra Aero nicht allein, denn sie tat, was andere Schweizer Firmen wie Oerlikon-Bührle oder Dornier Altenrhein längst betrieben: geheime Offshore-Rüstungsforschung im Dienst Deutschlands. Eingefädelt hatte den Deal der Schwiegersohn des Schweizer Weltkriegsgenerals Ulrich Wille, Seidenfabrikant Edwin Schwarzenbach, der im Verwaltungsrat der Ad Astra Aero sass und mit dem Spitzbergen-Auftrag dem damals bereits populären Schweizer Fliegerhelden einen Weg gewiesen hatte, wie man unter dem Dach abenteuerlich-glamouröser Filmerei weitere Geschäftsfelder unauffällig miteinander verbinden konnte. In der Folge stellten auch Fokkers und Dornier Mittelholzer Maschinen zur Verfügung, deren Flugtauglichkeit beim Überqueren verschiedener Klimazonen getestet wurde. Zugleich sollte der Schweizer einen
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weiteren exotischen Abenteuerfilm herstellen, um den Namen Mittelholzer auch ins Kinotheater zu tragen, was wiederum positiv auf Ad Astra Aero als bewährte Schweizer Zivilfluggesellschaft abfärben würde. Nach der Spitzbergen-Mission prangte dann bald das weisse Kreuz auf rotem Grund auf den Maschinen, was Mittelholzer zum Botschafter einer Schweiz machte, die friedfertig mit der ganzen Welt ins Geschäft kommen will. Bei Im Junkersflugzeug über Spitzbergen spielte der Schweizer noch die zweite Geige, denn der Film gehörte seinem Auftraggeber. Dieser konnte dann mit dem spektakulären Dokumentarfilm im Kino nicht nur weltweit Werbung für Junkers-Flugmaschinen machen; er verdiente zusätzlich gutes Geld mit dem Verkauf des Films an die Filmgesellschaft UFA. Gut möglich, dass sich Mittelholzer in diesem Moment überlegte, wie er in Zukunft seine Reisereportagen in Eigenregie herstellen und verwerten könnte. Nicht nur in Spitzbergen, auch in Zürich bricht am 8. Juli 1923 die Sonne durch die Wolken. Dies, nachdem die Limmatstadt den kühlsten Monat Juni seit Menschengedenken erlebt hat. Im Kinotheater Orient wurden an diesem Sonntag Reiseabenteuer gezeigt: Kapitän Barkleys Abenteuer und Der Liebe Pilgerfahrt. «Nur für Erwachsene!» gab’s Im Glutrausch der Sinne, während sich Eltern mit Anhang mit dem beliebten HollywoodCowboy Hoot Gibson in Das Erbe der Ranch vergnügen konnten. Ob sich in Zürich auch ein gewisser Lazar Wechsler an diesem Tag von solchen Kinoverheissungen mitreissen liess? Der junge Familienvater war zwar nicht wie viele der 100 000 arbeitslosen Schweizer unmittelbar von Armut bedroht, haushälterisch mussten die Wechslers dennoch leben, denn die Krise konnte auch ihn von heute auf morgen ins Elend stürzen. Möglich also, dass sich ETH -Diplomingenieur Wechsler im Frühsommer 1923 den Einstieg ins Kinogeschäft zu überlegen begann. Wechsler lebte zu diesem Zeitpunkt bereits seit neun Jahren in Zürich, wohin er nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Dezember 1914, zusammen mit der Mutter und seinem vier Jahre älteren Bruder Wladyslaw Wolf, gekommen war. Zugezogen war die Familie Wechsler damals aus dem Städtchen Petrikau (heute: Piotrków Trybunalski), das im Gebiet des seit 1815 geteilten Polen lag, das Teil des russischen Zarenreichs war. Hier war Lazar Linsor Wechsler am 28. Juni 1896 als Sohn der Hanna Schoschka und dem aus Galizien stammenden österreichischen Juden Joseph Wechsler geboren worden. Die Mutter war eine geborene Goro witz. Durch Assimilation ins Bürgertum aufgestiegen, genossen die
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Gorowitz’ mehr Respekt als ihre in jüdischen Siedlungen auf dem Land oder städtischen Ghettos lebenden mausarmen Glaubensgenossen. Als der Vater, ein erfolgreicher Händler, 1900 starb, war Lazar erst vier Jahre alt. Das verbliebene Vermögen ermöglichte es der Mutter aber, die drei Brüder allein aufzuziehen. Durch die Frontstellung der beiden Vielvölkerreiche Russland und Österreich-Ungarn wurde nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Nationalität für die beidseits der Grenzen lebenden jüdischen Bevölkerung zur Existenzfrage. Hanna Schoschka Wechsler besass die russische Staatsbürgerschaft – ihre Söhne waren durch den Vater Österreicher. Volljährig geworden, wechselte der älteste der drei Brüder, Simon Wechsler, 1909 zur Nationalität der Mutter und wurde Russe. Als am 28. Juli 1914 der Krieg ausbrach, war absehbar, dass der Erstgeborene in die Armee des Zaren eingezogen würde. Lazar Wechsler, knapp zwei Monate vor Kriegsbeginn 18 geworden, lief Gefahr, für Österreich ins Feld ziehen zu müssen. Die Möglichkeit vor Augen, dass ihre drei Söhne gezwungen sein könnten, aufeinander zu schiessen, entschloss sich Hanna Schoschka Wechsler zur Flucht. Als Lazar Wechsler am 8. Dezember 1914 die Schweizer Grenze überschritt, war er auf dem Papier zwar österreichischer Staatsbürger, faktisch aber heimatlos geworden. Ursprünglich sollte Zürich bloss Zwischenetappe sein. Doch die Familie blieb und richtete sich in der Schweiz ein. Vom Kriegsgeschehen war die Eidgenossenschaft nicht direkt betroffen, und doch berührte die Ablösung der alten imperialen Ordnung Europas durch aggressive Nationalismen auch die Schweiz, die ihr Selbstverständnis als mehrsprachiger neutraler Kleinstaat infrage gestellt sah. Seit der Generalmobilmachung standen die Schweizer Soldaten an der Grenze und verharrten in neutraler Abwehrhaltung. Das gefiel dem deutschfreundlichen General der Schweizer Armee Ulrich Wille nicht. Der wollte mitdreschen im Nationenwettbewerb und drängte deshalb auf einen Kriegseintritt an der Seite des deutschen Kaiserreichs. Damit entfachte er in der deutschen Schweiz keine Euphorie; im französisch- und italienischsprachigen Teil des Landes, wo man mit Frankreich und später mit Italien sympathisierte, stiess Willes Germanophilie auf entschiedenen Widerstand. Ein Patt stellte sich ein, in dem sich die unterschiedlichen Fraktionen in Militär, Wirtschaft und Politik gegenseitig neutralisierten. Ein Auslandsabenteuer konnte damit zwar verhindert werden. Im Innern setzten sich Wille & Co. mit dem bereits vor dem Krieg begonnenen
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Umbau der ungeordneten Milizarmee in eine straff geführte «Schule der Nation» gleichwohl durch. Und über diese wurde die Militarisierung der ganzen Gesellschaft vorangetrieben. So wie in der Armee sollten alle Schweizer, unabhängig von Herkunftskanton, Klasse und Religion, vereint der Nation als höchstem Ideal zudienen. Der Appell liess den jungen Flieger Mittelholzer nicht unberührt: «Ich wollte Flieger werden, war entschlossen, mein junges Blut einer Sache zu weihen. Als Flieger wollte ich dem Land dienen, mit dem mich Abstammung und Liebe unzertrennlich verband.»3 Ohne Weiteres aber liess sich die neue Heimat der Wechslers nicht in einen nationalen Taumel versetzen, und die Schweiz profilierte sich – obwohl auch hierzulande die wachsenden sozialen Gegensätze den Zusammenhalt gefährdeten – während des Kriegs erfolgreich als neutrale Drehscheibe im internationalen Handel. Man sah sich als «Sonderfall», der, während die umliegenden Nationen ihren völkischen Exzeptionalismus in Blutbädern feierten, der Schweiz den Titel einer freiheitlichfriedlichen «Willensnation» einbrachte. Weltkriegsflüchtlinge schätzten deshalb das Land als sicheren Hafen, wo, wie der Österreicher Stefan Zweig in seinem Roman «Die Welt von gestern» schrieb, zivilisiert über das Gemeinsame, nicht Trennende gestritten wurde: «Nie mehr ist mir ein vielfarbigeres und leidenschaftlicheres Gemenge von Meinungen und Menschen so konzentrierter und gleichsam dampfender Form begegnet als in diesen Züricher Tagen oder vielmehr Nächten. [...] Man lebte in Zeitungen, in Nachrichten und Gerüchten, in Meinungen, in Auseinandersetzungen. Und sonderbar: man lebte geistig den Krieg hier eigentlich intensiver mit als in der kriegsführenden Heimat, weil sich das Problem gleichsam objektiviert und vom nationalen Interesse an Sieg oder Niederlage völlig losgelöst hatte. Man sah ihn von keinem politischen Standpunkt mehr, vielmehr vom europäischen als ein grausames und gewaltiges Geschehnis, das nicht nur ein paar Grenzlinien auf der Landkarte, vielmehr Form und Zukunft unserer Welt verwandeln sollte.»4 Es bot sich so den Wechslers, die als Juden mit dem erwachenden völkischen Denken und dem Nationalismus in ihren Herkunftsländern in Konflikt geraten waren, in Zürich mit seinen liberalen Bildungsinstitutionen eine solide Grundlage für den Neuanfang. Im Unterschied zu seiner Mutter, die nach dem Krieg in den neu gegründeten polnischen Staat zurückkehrte, schlug Lazar Wechsler schnell Wurzeln in Zürich. Die Beziehung zu der Schweizerin Amalie Tschudi, die Geburt des gemeinsamen Sohns David 1918 sowie die 1919 erfolgte Heirat stärkten die Bande,
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ebenso das im selben Jahr mit einem Diplom als Brückeningenieur beendete Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, mit dem er seine Eignung als Eidgenosse zusätzlich unterstrich. In seinem Bewerbungsschreiben für den Schweizer Pass 1923 hiess es deshalb auch: «Ich [bewerbe] mich um das hohe Schweizerbürgerrecht nur aus moralischen Gründen. Ich habe mich dem Leben und den Sitten der Schweiz vollkommen angepasst, da ich in den Jahren nach hier kam, wo die Empfindungen und Eindrücke auf den Menschen den lebhaftesten und stärksten Eindruck ausüben und wo sich die Mentalität den Menschen in den Verhältnissen in denen er lebt entwickelt und ausbildet. Ich besitze einen gültigen polnischen Pass […] meinem Fühlen und Denken nach bin ich jedoch mehr Schweizer als Pole, umso mehr ich meine Existenz hier aufgebaut habe.»5 Darüber, was Lazar Wechsler neben dem Ingenieurstudium zwischen Abb. 3: Lazar Wechsler, 1914 und 1918 in Zürich trieb, ist wenig bekannt. Kolportiert wird eine 1910er-Jahre, Zürich. Episode aus der Anfangszeit, als er – weil ihn die Mutter finanziell an kurzer Leine hielt – auf der Strasse englische Regenmäntel an den Mann zu bringen versuchte. Besser verdiente er als Nachhilfelehrer an der Minerva-Schule, und 1919, gleich nachdem er sein ETH -Diplom erhalten hatte, stieg er als Leiter in der Putzfadenfabrik Tschudi, Bianchi & Co in Glattbrugg ein. Als die Fabrik kurz darauf in Konkurs ging, übernahm er die bankrotte Unternehmung und führte den Betrieb in seinem Namen weiter. Wie aber reagierte der Jungunternehmer auf die nach dem Krieg einsetzende dramatische Verarmung breiter Schweizer Bevölkerungsschichten? Wie dachte Lazar Wechsler politisch? Er, der die Weltkriegszeit in derselben kleinräumigen Stadt verbracht hatte wie der Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin, der irische Schriftsteller James Joyce oder Dada-Gründer Hugo Ball? Wie war seine Reaktion auf den Generalstreik kurz nach Kriegsende 1918 gewesen, der nicht nur einen vom Schweizer Bundesrat befohlenen blutigen Armee-Einsatz zur Folge hatte, sondern auch den Antikommunismus zur Kernideologie des Schweizers Bürgertums machte? Wie reagierte Wechsler auf den Antisemitismus, der auch in der Schweiz als rassistisch-nationale All-
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zweckwaffe zur Einigung der eingesessenen Bevölkerung immer grössere Bedeutung gewann? 1923, neun Jahre nach seiner Ankunft in Zürich, wurde aus dem Flüchtling Lazar Wechsler ein Schweizer. Automatischen Zugang zum exklusiven Zürcher Wirtschaftsadel gewährte ihm der neue Pass keineswegs, denn dieser sah es nicht gern, wenn das im Heiligenschein helvetischer Neutralität prosperierende Geschäft von «artfremder Konkurrenz» herausgefordert wurde. Dass er mit der Übernahme der Putzfadenfabrik Arbeitsplätze gerettet hatte, half ihm bei der Einbürgerung, das Metier aber bot wohl zu wenig Sicherheit und Aufstiegsmöglichkeiten, weshalb er sein Tätigkeitsfeld ausdehnte. Dass er sich 1924 für den Film entschied, hing auf der einen Seite mit dem Desinteresse einheimischer Unternehmer am Kinogeschäft sowie andererseits mit seinen Kontakten zu Chiel Weissmann (1883–1973), einem anderen aus Osteuropa zugezogenen Juden, zusammen. Die Kinobranche hatte sich seit der ersten kommerziellen Filmvorführung 1895 rasant entwickelt. Nicht nur in Westeuropa und den USA , weltweit waren die Vorführungen kurzer Filmstreifen äusserst populär, denn das Kino brachte billige Unterhaltung für jedermann. Bereits 1907 entstanden in der Schweiz die ersten festen Kinotheater, die die wie ein Wanderzirkus tingelnden frühen Abspielstätten ablösten. Im gleichen Jahr erhielt die Stadt Zürich mit dem Kino Radium im Niederdorf einen ersten festen Saal. In diesem wurde das gespielt, was der Betreiber über französische, deutsche und, ab 1915 verstärkt, auch über Hollywoodproduzenten bzw. über ihre Schweizer Vertreter bezog. Chiel Weissmann, seine Frau und die zwei Kinder waren während des Ersten Weltkriegs ebenfalls von Galizien zunächst nach Wien gekommen. Hier fand der kaufmännisch gewiefte Chiel schnell Arbeit in einer Bank, die auch in den expandierenden deutsch-österreichischen Filmmarkt investierte, etwas, was seit der Sesshaftwerdung der ehemals migranten Filmvorführer lukrativer erschein. Der Kinobesuch war zum alltäglichen Vergnügen geworden und begann das schlechte Image einer reinen Proletenunterhaltung abzuschütteln. Bildungsbürger begaben sich allerdings weiterhin bloss ausnahmsweise ins Kinotheater, denn glaubte man zeitgenössischen Kulturwächtern, gingen hauptsächlich «Dirnen und ihnen affiliierte Kreise» ins Zürcher Kino Radium.6 Die Filmproduktion, der Verleih und auch der Betrieb von Kinotheatern galt unter grossbürgerlichen Industriekapitänen als unseriös, weshalb sie das Geschäft – vorläufig – den Emporkömmlingen und jüdi-
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schen Unternehmern überliessen. So konnten sich diese in der wenig reglementierten Branche der internationalen Unterhaltungsindustrie mit wenig Kapital und etwas wirtschaftlichem Geschick ein eigenes Unternehmen aufbauen. Als Chiel 1915 von der Wiener Bank ins Filmgeschäft wechselte, hatte die Gründereuphorie bereits etwas nachgelassen. Mitten im Krieg hatte sich der Markt zwischen lokalen etablierten Filmproduzenten, Filmverleihern und Kinobetreibern eingespielt; noch immer aber regelte man viele Geschäfte in Wildwestmanier und es bestanden weiter Freiräume für risikofreudige Einsteiger. Im September 1916 folgte die Übersiedlung der Familie Weissmann nach Zürich, wo der Patron bereits von Wien aus Kontakte zur lokalen Filmwirtschaft geknüpft hatte. Dort übernahm er nach einiger Zeit die Zürcher Filiale der «Münchner Lichtspielkunst», abgekürzt Emelka, die ab 1920 als Produzentin mit eigenem bayrischem Studiokomplex mächtig an Bedeutung gewann. Mit Emelka-Filmen verfügte Weissmann in Zürich über Kassenrenner, um die sich Schweizer Kinobetreiber rissen. Ihm gehörte auch in Zürich das Kino Radium, wodurch er sein Geschäft diversifiziert und seine Stellung weiter gefestigt hatte. Weissmann hatte es geschafft und war so für den befreundeten Wechsler zum Vorbild geworden. 1923 brachte nicht nur für Walter Mittelholzer und Lazar Wechsler den Neuanfang. Nach der nach Kriegsende eingebrochenen Wirtschaft, dem Generalstreik und der Spanischen Grippe kehrte die Schweiz nach fünf Katastrophenjahren allmählich ins bürgerliche Alltagsleben zurück. Davon zeugte auch, dass es den bürgerlichen Parteien im Dezember 1922 gelungen war, die von den Sozialdemokraten eingebrachte «Vermögensinitiative» bei einer historischen Stimmbeteiligung von 86 Prozent mit 87 Prozent Nein zu bodigen. Mit viel Aufwand hatte die Gewinnerseite die Bevölkerung mit antikommunistischer Propaganda überflutet und konnten nach dem gewaltigen Nein die Sozialdemokraten als «von Moskau gesteuerte vaterlandslose Gesellen» diffamieren. Die Bürgerlichen gerierten sich gleichzeitig als Retter vor dem internationalen Kommunismus. So beruhigte sich 1923 die Lage in der Schweiz im Unterschied zu Deutschland, das zunehmend unter hoher Inflation, massiver Arbeitslosigkeit und blutigen Kämpfen zwischen Links und Rechts litt. Angehende Unternehmen schauten in der Schweiz in der zweiten Jahreshälfte mit einiger Zuversicht in die Zukunft. Von Chiel Weissmanns Beispiel inspiriert, ging Wechsler 1924 in die Offensive, um mit mickrigen 10 000 Franken in der Zürcher Filmwelt Fuss zu fassen.
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