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Selbstsorge statt Fürsorge
from Beat Kappeler: Vermögen für alle. Wer die bessere Verteilung hemmt, und wie wir sie erreichen
by NZZ Libro
zeit, Ferien, Löhne. Der Staat seinerseits tat das auch; er erklärte die Verträge allgemeinverbindlich. Doch fast alle diese Massnahmen regelten die Einkommen, kaum das Vermögen.
Selbstsorge statt Fürsorge Als Ergebnis dieses « soziologischen Zeitalters», wie es der Soziologe Ralf Dahrendorf nannte, sehen viele heute den Menschen nicht als selbstständig agierenden, von eigenen Interessen geleiteten Handelnden, sondern als anwaltschaftlich durch die Erkenntnisse der Soziologie, durch wohlmeinende Politik und gesellschaftliche Einrichtungen zu vertretenden Kleinbürger – ein fremdgesteuertes Rädchen im Getriebe der Gesellschaft. Alle sind angestellt, alle müssen arbeitsrechtlich geschützt werden wie in den « Kathedralen der Arbeit» der 1970er-Jahre, der Automobilindustrie in Wolfsburg, in Turin, in Billancourt oder Detroit. Für finanziellen Ausgleich, Lebenssicherung in allen Lagen, Bildung, Gesundheitsversorgung oder Datenschutz ist allein der Staat zuständig.
Die ungleichen Lebenslagen, sogar bezüglich Krankheiten oder der unterschiedlich langen Lebenserwartungen, werden daher von vielen auf « die Gesellschaft» zurückgeführt. Dabei zeigen heutige wissenschaftliche Studien und Statistiken ergänzend oder gar entgegen den im 19. Jahrhundert entdeckten gesellschaftlichen Eingriffsmöglichkeiten, dass auch die Selbstsorge der Menschen ihre Lage, sogar ihre Vermögen bestimmt. Denn die verfügbaren Mittel und das allgemeine Wissen haben gewaltig zugenommen. Jeder Einzelne kann heute – unabhängig von den Verstrickungen der Gesellschaft und neben allen umsorgenden Ämtern – selbst dafür sorgen, gebildet, gesund, aktiv und bemittelt zu sein. Selbstsorge bestimmt den Alkoholkonsum der Menschen und ihren Tabakkonsum ebenso wie ihre Bildungsbeflissenheit, ihre Körperpflege oder ihre Sparsamkeit. Jeder ist auch ein Täter und nicht nur ein Opfer.
Doch das alte Opfer-Narrativ verhindert noch dieses neue Selbstverständnis. Spukt nicht noch immer in unseren Köpfen der Ruf der anwaltschaftlichen Politiker nach einem « umfassenden Schutz» als Programm, um « alle Lücken des sozialen Netzes» endlich zu schliessen? Das Ergebnis: Die Bürger werden ebenso von aussen geleitet durch Staat, Beamte, Verwaltungsverfahren, Netze und Grossfirmen wie vor 140 Jahren. Und die Vermögen sind ebenso ungleich verteilt.
Diese « fürsorgenden» Staaten sind nun überanstrengt, hochverschuldet, die Steuern und Abgaben wurden erdrückend, die umsorgenden, umverteilenden
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