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Der Geist von 1968 bestimmte das Klima von 1982
4 Der Geist von 1968 bestimmte das Klima von 1982
Anbruch des Zeitalters des Selberdenkens
Der Friede von 1945 ging in keiner Weise nahtlos in den wirtschaftlichen Aufschwung über. Vielmehr fürchteten sich viele Menschen in der Schweiz vor einer Wiederholung der Geschichte. War nicht am Ende des Ersten Weltkriegs die grosse Krise samt Währungszerfall ausgebrochen? Zugleich forderten die Menschen die Genüsse ein, an die in den Kriegsjahren nicht zu denken war; vom ofenfrischen Brot zum Frühstück bis zum eigenen Motorroller, später zum Volkswagen.
Viele Menschen mit Jahrgängen etwa zwischen1890 und 1920 fühlten sich als Angehörige einer «verlorenen Generation» benachteiligt: aufgewachsen im beengenden Mangel der Krisenjahre, geprellt um die Auslandserfahrung durch die Grenzsperre zwischen 1939 und 1945. Die Jüngeren wurden als Erwachsene und Eheleute zu früh in die Verantwortung für Familie und Staat gestellt, dies alles in einem beengten und von Ungewissheit gekennzeichneten Umfeld und mit der Angst vor einem möglichen neuen, vorläufig erst «kalten» Krieg. Die Sowjetmacht wurde vor allem anlässlich des Ungarn-Aufstands von 1956 als reale Bedrohung empfunden.
Die Lebensverhältnisse einer durchschnittlichen Schweizer Familie in dieser frühen Nachkriegszeit umschrieb der Historiker Georg Kreis wie folgt:
«Eine Mehrheit der Menschen dürfte, bei einer mittleren Lebenserwartung von 63 Jahren bei den Männern und 67 Jahren bei den
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40 Frauen, an dem Ort gestorben sein, wo sie zur Welt gekommen war. Sie dürfte, nachdem sie in grossen Schulklassen von gut und gerne 35 Schülern und Schülerinnen unterrichtet worden war, einen Beruf er griffen haben, den man ein Leben lang auszuüben gedachte. Man war in einer Familie mit mehreren Kindern beziehungsweise Geschwistern eingebunden, praktizierte den katholischen oder protestantischen Glauben und war Mitglied oder Anhänger einer durch familiäre Tradition vorgegebenen politischen Partei.»
Die Enge der 1950er-Jahre In der Nachkriegszeit kam an manchen Orten der Milchmann noch mit Ross und Wagen. Gegessen wurde zu Hause. In manchen Familien hatten die Kinder am Tisch zu schweigen. Drei von vier Haushalten bebauten einen eigenen Gemüsegarten. Auslandsferien waren für die meisten zu teuer. Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer starb, ohne je die Landesgrenzen überschritten zu haben. Mit den Jahren nahm die Binnenwanderung zu, die städtischen Agglomerationen wuchsen. Doch der Lebensstandard entwickelte sich nur zögernd. 1950 besassen erst 36 Prozent der Haushalte eine Waschmaschine und nur jeder zehnte einen Kühlschrank. Noch waren im Land 6500 Hausierer unterwegs; sie spielten eine wichtige Rolle für die Versorgung der ländlichen Gebiete. 1948 wurde die seit Langem bestehende Verfassungsgrundlage realisiert und die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) eingeführt, eine gewaltige soziale Errungenschaft! Nun konnten die bis dahin auf die Solidarität ihrer Familien angewiesenen Seniorinnen und Senioren selbstständiger an der sich stürmisch entwickelnden Konsumgesellschaft teilhaben. Der Anteil der Nahrungsmittel an den Haushaltsausgaben sank rapide, je grösser die Marktanteile der Migros, der Konsumvereine und der ersten Discounter wurden. Mittel wurden dadurch frei für die lange entbehrten schönen Seiten des Lebens: für die ersten Auslandsferien etwa, auf denen manche Reiseleiter noch das Taschengeld ihrer Gäste verwalteten, weil diese mit dem Geldwechsel und den Fremdsprachen nicht zurechtkamen.
Nun durfte man ohne ängstlichen Blick auf die Karte mit den Lebensmittelmarken das Ausgehen geniessen: etwa in moderne Restaurants wie Mövenpick (gegründet 1948), die die bis dahin unerreichbaren Genüsse der Oberklasse demokratisierten: Rauchlachs, Riz Casimir, Flaschenwein im Glas. Jelmoli, Tuch-Ackermann, Charles Veillon, Charles Vögele und andere bauten den Versandhandel auf und wurden zu strahlenden Marken.
Frauenarbeit, Fernsehen, erschwinglicher Komfort Allenthalben herrschte in den 1950er-Jahren Fachkräftemangel, denn nach dem Ende des Koreakriegs begannen die 20 langen Jahre der fast ungebremsten Hochkonjunktur. Noch besassen die Schweizer Frauen das Stimm- und Wahlrecht nicht, aber ihr Selbstbewusstsein nahm zu, und die Dominanz der Männerwelt wurde zunehmend infrage gestellt. Die Nachfrage nach Arbeitskräften wuchs stürmisch, die Frauenarbeit ausser Haus wurde unentbehrlich.
Das 1953 zaghaft als Versuchsbetrieb gegründete Fernsehen wurde innert weniger als zehn Jahren zum neuen, dominierenden Massenmedium. Es diente als Ausguck in die Welt und veränderte die Wahrnehmung des Weltgeschehens von Grund auf, indem es das Bild als Informationsträger gleichwertig neben das Wort setzte. Die Menschen wurden mobil, zuerst mit Mopeds und Motorrädern, später mit Autos. Das seit 1958 entstehende Autobahnnetz erhöhte die Reichweite des Individuums und eröffnete ihm neue Möglichkeiten für Naherholung, Sport und für eine bis dahin kaum bekannte Dimension des Lebens: Freizeit.
Die «verlorene Generation» mit den Jahrgängen 1890 bis 1920 fand sich in einer grundlegend veränderten Welt wieder, in der neue Werte galten. Die Kriegszeit hatte Durchhalten, Verzicht, Unterordnung und Alltagsdisziplin erfordert. Nun war die Bedrohung durch Hitler weg und es waren Zeit und Geld da für individuelle Lebenspläne, für Auslandskarrieren auf den Spuren der Wissenschaft, der Technik oder der expandierenden Exportindustrie, Zeit und Geld auch für Aus- und Weiterbildung in den boomenden Dienstleistungsbranchen sowie für neue Berufsbilder. Unternehmerische Naturen
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42 wagten den Schritt in die Selbstständigkeit. Mit dem Selbstwertgefühl wuchs bei den Menschen, vor allem den jüngeren, der Hang zum Selberdenken. Überlieferte Autoritäten wurden bereits lange vor 1968 immer aufsässiger infrage gestellt.
Und die Schweiz wurde internationaler. Mit der starken Zuwanderung von Arbeitskräften – zuerst aus Italien, dann aus Spanien, Griechenland, der Türkei usw. – hielten auch fremde, aber attraktive Lebensgewohnheiten Einzug. Die Schweizer lernten Pizza und Paella essen, bereits in den 1950er-Jahren wurden die ersten China-Restaurants eröffnet. Ab 1957 gab es billige Charterflüge in alle Welt; 1961 begann der ehemalige Kuoni-Angestellte Hans Imholz sagenhaft günstige Städteflüge anzubieten. Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer eigneten sich mit den fremden Sprachen, die sie erlernten, einen weltläufigen Lebensstil an. Dessen augenfälligster Ausdruck war die Amerikanisierung des Alltags: Cornflakes auf dem Frühstückstisch, Cola zur Erfrischung, Kaugummi, Bluejeans am Leib und der Rock ’n’ Roll von Bill Haley und Elvis Presley in den Beinen … 1969 sollte die Amerikabegeisterung aus Anlass der erfolgreichen Mondlandung ihren Höhepunkt erreichen.
Von der Bewunderung zur Kritik Die Errungenschaften der Grosstechnik wurden in den ersten 15 Jahren der Hochkonjunktur (etwa 1953–1968) zunächst bewundert, später infrage gestellt. Kaum zu glauben, aber 1956 plante die Eidgenössische Technische Hochschule noch ein kleines Atomkraftwerk mitten im Zürcher Hochschulviertel, weil das bestehende Fernheizwerk der ETH am Ende seiner Lebensdauer angekommen war. Schweizerische Weltfirmen wie BBC und Sulzer waren an dieser Planung beteiligt. Der Stadtrat von Zürich, die Kantonsregierung und der Regierungsrat stimmten den Plänen zu und bewilligten sogar Beiträge. Sicherheitsbedenken wurden nicht geäussert. Fallen gelassen wurden die Pläne schliesslich aus wirtschaftlichen Gründen.
Später sollten die Atomkraftwerke Beznau I (1969), Beznau II (1971), Mühleberg (1972) und Leibstadt (1984) bewilligt und in Be trieb genommen werden, Letzteres mit einem 144 Meter hohen Kühl-
turm, ohne den Hauch einer Opposition bewilligt und in Betrieb genommen. Auch in Kaiseraugst, nahe am Rhein, wurden die ersten Atomkraftwerkpläne von den Einheimischen zunächst freundlich begrüsst. Von diesen Werken versprachen sich vor allem die Standortgemeinden hohe Steuereinnahmen. 1966 stimmte die Gemeindeversammlung von Kaiseraugst erstmals den Plänen zu. Die Stimmung kippte erst, als die Bundesbehörden, gestützt auf ein Gutachten, die Flusswasserkühlung verboten und zwei 115 Meter hohe Kühltürme verlangten. In Genf entstand ab 1955 in vielen Teilschritten und mit gewaltigem Aufwand eine physikalische Grossversuchsanlage namens CERN, von der ausser den Beteiligten niemand wirklich verstand, wozu sie eigentlich gut sein sollte.
Das Zeitalter des Selberdenkens Um 1968, das Jahr der weltweiten Studentenproteste und des steigenden Widerstands gegen den Vietnamkrieg, begann die öffentliche Meinung zu kippen. Umweltbewusstsein, Konsumkritik und soziale Be wegungen säten vor allem bei der jungen Generation Zweifel an der Wachstumseuphorie der Nachkriegsjahre, die das Bauen und Expandieren sozusagen zur patriotischen Pflicht gemacht hatte. Aus dem Widerstand gegen die lokale Linienführung der Autobahn entstand in Neuenburg der erste Vorläufer der Grünen Partei. Ihr Glück war, dass praktisch gleichzeitig mit den Gemeindewahlen, einige Wochen nach dem JomKippur-Krieg, die erste Ölkrise ausbrach. Sie leitete eine vorübergehende scharfe Rezession ein und führte die Abhängigkeit der westlichen Industriestaaten von den ölproduzierenden Ländern vor Augen – und damit die grundsätzliche Fragwürdigkeit der fossilen Brennstoffe.
Die Schweiz, stolz auf ihre direkte Demokratie, erlebte einen neuen Stil der politischen Auseinandersetzung, mit ausserparlamentarischen Aktionen, Besetzungen und Protestzügen nach dem Muster der Ostermärsche der Friedensaktivisten in den späten 1950er-Jahren. 1971 wurde Greenpeace gegründet, und unter dem Einfluss des 1968 ge gründeten Club of Rome wurde der Umweltschutz mehrheitsfähig. Am 6. Juni 1971 sagten 92,7 Prozent der Stimmenden und sämtliche Stände Ja zum Umweltschutzartikel in der Bundesverfassung.
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Wer Sterbehilfe hört, denkt an die Schweiz. Hier ist seit Langem möglich, was in den meisten Ländern verboten ist: Menschen, die ihrem Leiden ein Ende setzen möchten, dürfen selbstbestimmt und in Würde sterben. Die Freitodhilfe ist in der Schweiz seit Jahrzehnten von Bevölkerung, Behörden, Politik und Gesundheitswesen breit akzeptiert. Wie dies möglich geworden ist, erzählt Karl Lüönd in diesem Buch in spannenden Episoden und 36 Porträts von Pionierinnen und Pionieren, die ihren persönlichen Beitrag zur Liberalisierung der Freitodhilfe leisteten. Mehr als einmal kam die Polizei, als sie gegen den Widerstand der Bedenkenträger in der Medizin, der Kirche und der Politik das Menschenrecht auf die «letzte Hilfe» einforderten.
Die Suizidhilfe in der Schweiz – inzwischen ein Vorbild für Europa – ist ein demokratisches Lehrstück. Zugleich spiegelt sie die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen 40 Jahre in der hochemotionalen Frage von Leben und Tod, die sich früher oder später jedem und jeder unausweichlich stellt. Für rund drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer ist heute Sterbehilfe so human und vernünftig wie Geburtshilfe.
ISBN 978-3-907291-46-7
9 783907 291467
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