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Das Volk dachte voraus und handelte – Politiker und Medien merkten nichts
3 Das Volk dachte voraus und handelte – Politiker und Medien merkten nichts
Verräterische Wortwahl und ein sensationelles Ergebnis
Eines Tages beschloss der kaufmännische Lehrling Rolf Wyler aus Zürich-Witikon, den Menschen am Lebensende zu helfen. Er selbst hatte kein tragisches Schicksal in der Familie erlebt, er las einfach einen Zeitungsartikel, der ihn aufwühlte und der ihn zum Handeln antrieb. Mit dem Mittel der kantonalen Volksinitiative konnte Rolf Wyler sein Ziel nur indirekt ansteuern. Und zwar so: Der Kanton Zürich soll bei dem für das Strafgesetzbuch einzig zuständigen Bund eine Standesinitiative einreichen, um im Strafgesetzbuch den Grundsatz zu verankern, dass die Tötung eines Menschen auf dessen eigenes Verlangen unter bestimmten Umständen straffrei ist. Den juristisch durchaus verkehrsfähigen Text, der zu einer Änderung von Artikel 114 (Tötung auf Verlangen) führen sollte, habe er allein verfasst, betont Wyler noch heute.
Genau 180 Tage hatte der junge Mann nun Zeit, die erforder lichen 5000 Unterschriften zu sammeln. In einem Kopierladen liess er die Unterschriftenbögen drucken. «Mein eisernes Ziel waren 30 Un terschriften pro Tag, und ich war jeden Tag auf den Beinen. Es war wirklich ein Alleingang. Wenn ich irgendwo auf öffentlichem Grund einen Stand aufstellen wollte, musste ich eine polizeiliche Bewilligung einholen. Wenigstens kostete die nichts.»
Schnell lernte der fleissige Initiant die wichtigste Regel der politischen Werbung auf der Strasse: Du sollst nicht diskutieren! Wenn
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jemand zögert oder die Unterschrift ablehnt, bedankt man sich freundlich und geht sofort zum Nächsten über, sonst verliert man zu viel Zeit. Rolf Wyler erinnert sich:
«Die Reaktionen der Menschen auf der Strasse waren fast ausnahmslos positiv. Manche begannen sofort, von Freunden und Bekannten zu erzählen, die in auswegloser Situation gerne erlöst worden wären. Aggressionen gab es nur zweimal: Als ich, wie damals, als es die briefliche Stimmabgabe noch nicht gab, wie üblich vor den Abstimmungslokalen Unterschriften sammelte, pöbelte mich ein Medizinstudent an. Und in der Zürcher Bahnhof-Unterführung Shopville zerriss ein Betrunkener einen Unterschriftenbogen. Später stellte sich heraus, dass er einfach wütend war über eine Niederlage des Schweizer Autorennfahrers Clay Regazzoni.»
Auch die erforderliche Beglaubigung der Unterschriften durch die Gemeindekanzleien musste Rolf Wyler im Alleingang erledigen. «Be hindert oder schikaniert wurde ich aber nirgends», betont er. Wo immer Rolf Wyler mit seinen Unterschriftenbögen auftrat, spürte er starken Rückenwind von den einfachen Bürgerinnen und Bürgern. So erreichte er schon nach vier Monaten sein Ziel. Knapp 5400 Unterschriften konnte er bei der Staatskanzlei einreichen – ausgerechnet Mitte Januar 1975, als in Zürich die Affäre Haemmerli platzte.
«Es gab aber keinen Zusammenhang», betont Rolf Wyler. «Ich lernte Prof. Haemmerli erst später kennen. Er fand die Initiative sympathisch, hielt sich aber mit der Unterstützung zurück.» Die kantonsrätliche Kommission anerkannte, dass ein Bedarf nach einer Formulierung der Rechte der Patienten bestand (später bekannt als Patientenverfügung). Der Kantonsrat empfahl dem Volk die Initiative mit 136 zu 0 Stimmen zur Ablehnung.
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Von fast allen Parteien geschnitten Der Abstimmungstermin wurde auf den 25. September 1977 angesetzt. Die Diskussion im Vorfeld war flau. Die etablierten Parteien nahmen den Einzelkämpfer Wyler nicht ernst. Zu Parteiversammlungen wurde er nicht eingeladen. Dazu kam, dass der Abstimmungskalender mit anderen, vermeintlich wichtigeren Geschäften reich befrachtet war. Ein
gewisses Interesse bekundete die Evangelische Volkspartei (EVP). Sie liess verlauten, der Initiative sei zugutezuhalten, «dass sie die Diskussion um das Sterben angeregt hat. Dabei hat sich gezeigt, dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um diesen letzten Le bensabschnitt, der oft durch Hospitalisierung und medizinische Massnahmen belastet wird, menschenwürdiger zu gestalten. In diesem Sinn unterstützt die EVP das Postulat der kantonsrätlichen Kommission, welches eine Formulierung und Regelung aller Rechte der Kranken anstrebt.» Die Initiative als solche lehnte die EVP ab, da sie die Forderungen für zu weitgehend und undurchführbar hielt.
Auch die freisinnige Partei erachtete an ihrer Delegiertenversammlung das Thema als einer Diskussion nicht würdig. Das Geschäft wurde – wie auch bei SVP und SP – vom Vorstand mit einer nicht näher begründeten Nein-Parole erledigt. Mit anderen Worten: Die etablierte Politik gab zu verstehen, dass sie das Thema als nachrangig betrachtete.
Als einzige Partei gab die kommunistische Partei der Arbeit die Ja-Parole aus.
Verräterische Wortwahl und ein sensationelles Ergebnis In der Woche vor dem Urnengang muss allen freisinnigen Parteigremien klar geworden sein, dass das Anliegen des Initianten beim Volk mehr Anklang fand, als sie es für möglich gehalten hatten. Darauf griff das medizinische Establishment in der Person von Prof. Dr. med. Walter Hess (Forch) in die Harfe. Ihm stellte die Neue Zürcher Zeitung, die das Thema zuvor wochenlang nur am Rand behandelt hatte, plötzlich mehr als eine halbe Zeitungsseite zur Verfügung.
Damals gab es noch keine briefliche Stimmabgabe, deshalb erliess die Redaktion der NZZ diese prominente Abstimmungsempfehlung erst am Donnerstag vor dem Abstimmungssonntag (NZZ, 22. September 1977). Martin Neuenschwander, der für kantonale Politik zu ständige Redaktor, belehrte seine Leser in einem begleitenden Kommentar, die Standesinitiative besitze «einen vergleichsweise geringen politischen Stellenwert». Die Erfolgschancen in diesem Fall seien gleich null.
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Verräterisch war die Wortwahl der meinungsführenden bürgerlichen Zeitung: «In den nach menschlichem Ermessen aussichtslosen Fällen könnten es die Rechte des Kranken zwar erfordern, dass unerträgliche Schmerzen und Leiden nicht künstlich verlängert werden.» Diesem Fall trage aber das geltende Recht ausreichend Rechnung, «indem es dem Arzt, in dessen Verantwortung der Entscheid fällt, den dazu notwendigen Spielraum offenhält».
Aufmerksame Ärzte wie Prof. Hess hatten durchaus erkannt, dass mit dem allmählichen Mentalitätswandel bei den Bürgerinnen und Bürgern ein grundlegender Angriff auf ihre Vormachtstellung im Gang war. Die politischen Parteien dagegen hielten, mit Ausnahmen der erwähnten EVP und der kommunistischen Partei, das Anliegen des unbekannten Aussenseiters Wyler für nachrangig und kaum durchführbar.
Gemessen an der vorangegangenen allgemeinen Missachtung des Themas und an der nachlässigen Behandlung durch Politiker und Parteien war das Abstimmungsergebnis eine Sensation: 203 148 Ja gegen 144 822 Nein, 58,3 Prozent Ja-Stimmen! Und da war kein Stadt-Land-Graben zu erkennen, auch keine Differenz zwischen Links und Rechts oder Arm und Reich. Alle Bezirke des Kantons und sämtliche Zürcher Stadtkreise mit Ausnahme des Kreises 7 (Zürichberg/Witikon) stimmten zu.
Wer etwas von Politik verstand, musste schon damals sehen: In dieser Frage war das Volk nicht mehr bereit, den Doktoren und den grossen Parteien zu gehorchen. Der Meinungsumschwung zum lange tabuisierten Thema Sterbehilfe war spätestens seit der Affäre Haemmerli mehrheitsfähig. Das Volk war seinen Vertretern, seinen Parteien, auch seinen Medien weit voraus. Der später durch den raketenhaften Aufstieg von Exit beglaubigte Mentalitätswandel war längst eingetreten.
Die Neue Zürcher Zeitung war verschnupft und titelte: «Panne der Demokratie». Es handle sich bei diesem Abstimmungsergebnis um einen «staatspolitischen Unglücksfall». Wie hatte es so weit kommen können? Die NZZ erklärte es so:
«Die Stimmberechtigten haben, so muss man annehmen, in Un kenntnis des Begehrens nach dessen Titel ‹Sterbehilfe auf Wunsch für
Unheilbar-Kranke› entschieden. Es ist nicht zu bezweifeln, dass das Ja zu dieser Initiative seinen Ursprung in einer echten Sorge hat, im Fall einer unheilbaren Krankheit der medizinischen Technik hilflos ausgeliefert zu sein, an furchtbaren Schmerzen leidend zum Weiterleben ‹gezwungen› zu werden. In diesem Sinne erscheint der Volksentscheid nicht zuletzt als Kundgebung des Unmutes gegen die fortschreitende Technisierung der Medizin, als Ausdruck des Gefühls, die Medizin verliere in ihren extremen Erscheinungsformen ihre humanen Züge. Gleichwohl ist es erschreckend, festzustellen, dass die Stimmbürger offenbar allein auf Grund bestimmter Emotionen entschieden haben.»
Im Weiteren seien die Parteien schuld, die das Volksbegehren zu wenig beachtet hätten. Und der Regierungsrat solle gefälligst den beleuchtenden Bericht zu den Abstimmungsvorlagen «attraktiver und zeitgemässer gestalten».
Andere freilich merkten gleich, dass Urs P. Haemmerli und Rolf Wyler einen Zentralnerv der verunsicherten Gesellschaft getroffen hatten. Ein junger Mitarbeiter des Schweizer Radios realisierte eine Doppelpunkt-Sendung: eine abendliche Konfrontation zu dem aktuellen Thema. Als in der Folge 400 Hörerbriefe beim Radio eintrafen, sagte der Journalist: «Das war für mich ein Schlüsselerlebnis: der Beweis für die gesellschaftspolitische Brisanz des lang tabuisierten Themas.» Der junge Journalist hiess Andreas Blum. Nach seinem Rücktritt als langjähriger Radiodirektor engagierte er sich von 2001 bis 2007 intensiv für die Sterbehilfeorganisation Exit.
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