10 minute read
Karin Wagner: Zurück zu den Wurzeln
ZURÜCK ZU DEN WURZELN Karin Wagner
Eric Zeisl (1905‒1959) mit dem Jahr 1941 beginnende Exilzeit in Los Angeles war anfangs bestimmt durch die zermürbende Arbeit im Filmmusikbetrieb. Der in der Wiener Leopoldstadt geborene und nach bester Wiener Kompositionstradition ausgebildete Zeisl sah sich in Hollywood zum „Techniker“ reduziert, dessen künstlerische Ansprüche nicht wirksam werden konnten, da allein die Menge der auf bestimmte Filmszenen hin modellierten Musiksequenzen zählte. Mehrere Komponisten arbeiteten an einem Film, dementsprechend austauschbar und unpersönlich hatten die illustrativen Passagen zu sein. Arrangierte Zeisl 1940 in New York zumindest noch eigene Stücke, so fiel er 1941 in eine tiefe Schaffenskrise. Bis auf die Schauspielmusik zu Emil Ludwigs The Return of Ulysses (1943) entstand neben den Filmmusiken kein anderes Werk. Erst das Jahr 1944 brachte mit Instrumentalwerken (Klavier, Orgel) eine Wende, mit dem Requiem Ebraico (1944-45) konnte Zeisl den kompositorischen Stillstand überwinden. Das Requiem ist keine lateinische Totenmesse der katholischen Liturgie, auch enthält der dem Werk zugrunde liegende 92. Psalm textlich keine Anlehnung an einen Totengesang. Nach der Nachricht vom Tod des Vaters und der Stiefmutter, die beide 1942 von Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka deportiert worden waren und dort ermordet wurden, kam dem an Zeisl in Los Angeles erteilten Auftrag, Musik für den Synagogendienst zu schreiben, eine andere Bedeutung zu. Der Psalm wurde als „Requiem“ vertont im Gedenken an den Vater und die unzähligen Opfer des Holocaust. Zeisl etablierte darin seinen für das Exil typischen, mit der Bühnenmusik zu Joseph Roths Hiob in Paris initiierten „synagogalen Stil“. Eric Zeisls Adaption „jüdischen“ Tonfalls in absoluter Musik ohne direkten Bezug zu jüdischen Sujets ist bezeichnend für den mit der Sonata Barocca für Klavier 1948-49 anhebenden und mit dem Second String Quartet 1953 endenden Zyklus von Instrumentalmusik. Hier liegen Werke vor, die den „Geist jüdischer Folklore“ in den vitalen Tanzteilen und den „Geist jüdischen Gebets“ in den Andante-Sätzen verinnerlichen. Mit der Sonatenform in „klassische“ Textur gefasst, dabei satzweise in Rondo- und Fugenform gegossen, entsteht eine Durchmischung von europäisch tradierten Kompositionstechniken mit dem neuen, auf Modalität, charakteristischen Intervallen in „quasi jüdischem“ Tonfall, Ostinatotechnik und Rezitativik basierendem Material. In dieser „Fusion“ setzte Zeisl seinen für die 1950er-Jahre gültigen Personalstil fest. Zu dem Instrumentalzyklus der Hollywoodjahre zählen auch die Brandeis Sonata (1949-50) für Violine und Klavier, die Sonata for Viola and Piano (1950) und die Sonata for Cello and Piano (1951). „[…] deine wundervolle Sonate mit der Widmung, welche mich zutiefst berührte. Ich weiß nicht, wie ich dir meinen Dank und mein Gefühl ausdrücken soll. Ich las es am Klavier und fand es wunderschön.“ So reagierte Alexandre Tansman, Zeisls Freund in Los Angeles und Widmungsträger der Brandeis Sonata, auf das ihm zugedachte Werk. Fertiggestellt hatte Zeisl die Violinsonate während der Sommermonate 1950 im Brandeis Camp Institute, wo er in der Ferienzeit 1948 bis 1950 als „composer in residence“ tätig war. Nach erfolgreicher Etablierung des 1942 in Winterdale, Pennsylvania, gegründeten ersten Brandeis Camp, richtete Shlomo Bardin 1947 im nordwestlich von Los Angeles gelegenen Simi Valley in der Nähe von Santa Susana das zweite Brandeis Camp Institute ein:
ein Kurs- und Freizeitangebot für achtzehn- bis fünfundzwanzigjährige Jüdinnen und Juden. Neben namhaften Vertreterinnen und Vertretern der Szene amerikanisch-jüdischen Kunstlebens war Eric Zeisl dort eine gern gesehene und höchst geschätzte Persönlichkeit. Verschiedene jüdische Organisationsstrukturen verschrieben sich in den 1940er-Jahren der Idee einer Förderung von Musik, die jüdische Sujets reflektiert oder „quasi jüdisches Idiom“ spricht. Europäische Musikexilanten trugen zu diesen Intentionen bei, die Veranstaltungen unterschiedlichen Profils waren auch für die Etablierung Zeisls als „Jewish Composer“ in den USA relevant.
Unter „All Jewish-Palestinian Program“ „presented by Los Angeles Chapters League for Labor Palestine“ führte etwa im Oktober 1943 das Studio Symphony Orchestra die Overture und Folk Dance aus Zeisls unvollendeter Oper Hiob auf. Ein Event völlig anderen Zuschnitts war das vom Palestine Emergency Fund organisierte Spektakel „That we may live“ im Dezember 1946 im Shrine Auditorium in Los Angeles. Ob dieses Projekt tatsächlich realisiert werden konnte, ist zweifelhaft; doch bedarf es aufgrund des Großaufgebots an Stars einer Erwähnung – ob nun nur in Planung gewesen oder tatsächlich abgehalten: Howard Da Silva, Marta Eggerth, Bela Lugosi, Jan Kiepura, Erich Wolfgang Korngold, Jakob Gimpel, Hugo Strelitzer und Eric Zeisl (mit Teilen aus Hiob) waren die Genannten. Als Drama in zwei Akten mit Musik war diese Collage gedacht, mit dem Epilog Before the Gates of Palestine sollte das Kuriosum enden. In Reaktion auf die Proklamation des Staates Israel durch den jüdischen Nationalrat am 14. Mai 1948 wurde im Rahmen der „Carnegie‚Pop‛ Concerts“ am 18. Mai 1948 die „Palestine Night“ gefeiert. Mit The Star Spangled Banner und Hatikvah (Nationalhymne Israels) wurde das Konzert in der Carnegie Hall eröffnet, von Zeisl hörte man die Suite To the Promised Land (Teile aus Hiob und das jüdische Volkslied aus Palästina Kuma Echa Hora). Eric Zeisl verfolgte nie aktiv zionistische Ideen, er proklamierte keinen kulturellen oder politischen Zionismus. Dass er dennoch in die Musiklandschaft amerikanisch-jüdischer Kunst eingebunden war, steht außer Diskussion. Eine besondere Ausprägung seiner Auseinandersetzung mit den Ideen jüdischer Musik zeigt sich in der Brandeis Sonata: Die weitschweifende Sonate in e-Moll für Violine und Klavier in den Sätzen Grave, Andante religioso (hebraique) und Rondo steht exemplarisch für die Synthese von Zeisls Wiener Tradition mit Anklängen an „jüdische Sphären“. Mächtig ist der Charakter der Grave-Einleitung im insistierenden lombardischen Rhythmus, aus welchem heraus die Violine frei aufsteigt und die Szenerie eröffnet. Über ostinat pulsierender Begleitung bringt das Allegretto ein tänzerisches Thema in der von Zeisl gern verwendeten folkloristischen Moll-Tonleiter (auf E) mit der erhöhten vierten Stufe. Das dazu kontrastierende zweite Thema grenzt sich durch expressive Kantilenen in b-Moll ab. Zur zentralen Aussage des Stücks wird das Andante religioso, dessen Zusatzbezeichnung „hebraique“ den Gestus expressiven jüdischen Gebets bekräftigt. Zeisl erhebt diese Satzfaktur zur Norm seiner Mittelsätze jener Zeit: Rezitativische Melodik zieht ihre Linien über Orgelpunkten und ostinaten Figuren, dem Lamento verwandt und sich empor rankend in „Gottesnahe“ Höhen. Als „intimes Gespräch mit Gott“ fühlte Zeisl diese Musik. Ein vitales Rondo, das der Geschlossenheit willen auch nach dem Einleitungsrhythmus der Sonate greift, fordert zu Spielfreude und glänzender
Beherrschung der Instrumente auf. Skalen, immer wieder aufblitzende Motive, Taktwechsel und geänderte Tonarten lassen die Welt osteuropäischer Folklore entstehen – tänzerisch und furios. Ein Wurf, der Zeisls Temperament widerspiegelt, und eine Ausdrucksform, die er auch bereits in Wien liebte. An Hilde Spiel schrieb Zeisls Frau Gertrud kurz vor der Uraufführung der Sonate durch Yaltah Menuhin und Israel Baker: „Da Du den Weg nicht mit uns gegangen bist würde Dir sicher alles sehr fremd und merkwürdig vorkommen und doch ist es noch ganz der alte Eric.“
Eine „Voraufführung“ der Brandeis Sonata fand am 13. August 1950 mit dem Duo Baker/Menuhin im Brandeis Camp statt, am 24. September 1950 folgte in Santa Monica die Uraufführung. Im Oktober 1950 berichtete die Exilzeitschrift Aufbau über „Neue Musik in Los Angeles“: „Dem Duo Yaltah Menuhin (Klavier) und Israel Baker (Violine) verdanken wir mehrere Abende mit interessanter neuer Musik. Beide setzten sich unlängst für die Sonate in e-moll (Brandeis) von Eric Zeisl ein, zu der der Komponist bei seiner Lehrtätigkeit in dem nahe bei Los Angeles gelegenen Brandeis Camp durch die betont jüdische Atmosphäre angeregt wurde. Unter den vielen Neuerscheinungen der letzten Jahre hörte ich selten ein Kammermusikwerk von solcher Geschlossenheit: jeder der drei Sätze ist gleich stark und fesselnd. Ohne ein bereits bestehendes jüdisches Motiv zu zitieren, schrieb Zeisl hier, im besten Sinne inspiriert, wahrhaft jüdische Musik, die unserem heutigen Empfinden entspricht.“
Vor seiner Flucht aus Österreich war Zeisl ein wichtiger Vertreter der moderaten Wiener Moderne. Die Nationalsozialisten zerschlugen sein Leben in der Heimat und setzten ihn auf die Liste „verbotener Komponisten“. Er verließ Wien nach dem Novemberpogrom 1938. Paris, New York und Los Angeles waren die Stationen des Exils. Nach Wien kehrte Eric Zeisl nie wieder zurück, auch wenn dies ein Herzenswunsch war. Als die Freundin Hilde Spiel im Jahr 1946 als britische Kriegskorrespondentin nach Österreich entsandt wurde, um für den New Statesman zu berichten, steigerte sich Zeisls Sehnsucht nach der Heimat bis zum Schmerz: Trauer, Zerrissenheit, das Gefühl von Heimatlosigkeit, Liebe zu Wien und gleichzeitig Ekel vor den Nazi-Verbrechen. Am 17. Mai 1946 schrieb er: „In Wien zu sein in englischer Uniform. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie man dies aushalten kann. Ich glaube ich würde vor seelischer Erschütterung tot umfallen. Es wird noch lange dauern bis wir dies überstanden haben. […] Ich gebe den Gedanken nicht auf an Europa und sei es auch nur am Ende meines Lebens.“
Im Alter von 53 Jahren verstarb Zeisl im Februar 1959 nach einer Vorlesung am City College an den Folgen eines Herzinfarkts. Noch zu seinen Lebzeiten spielten Yaltah Menuhin und Israel Baker die Brandeis Sonata für Spa Records ein. Mit der nun vorliegenden Aufnahme findet Zeisls Exilwerk auch in die ehemalige Heimat zurück: Die österreichische Erstaufführung der Brandeis Sonata fand am 5. Mai 2018 mit Johannes Fleischmann und Magda Amara in den Prunkräumen des Palais Coburg in Wien statt.
Autor des Textes Karin Wagner / Odradek Records, LLC ist im Besitz einer Creative Commons-Namensnennung-Keine Bearbeitungen-4.0 Internationalen Lizenz. Genehmigungen, die über den Geltungsrahmen dieser Lizenz hinausgehen, kann man bei www.odradek-records.com erhalten.
GEDANKEN ZU DEN KAMMERMUSIKALISCHEN WERKEN UND LIEDERN VON ERICH WOLFGANG KORNGOLD
Obwohl ich meine Erwachsenenjahre als professionelle Violinistin verbracht habe und die einzige Enkelin Erich Wolfgang Korngolds bin, habe ich nie seine Violinsonate, Opus 6 studiert oder aufgeführt. Zum ersten Mal wurde ich auf das Werk aufmerksam, als ich Musik an der Universität studiert habe. Einer der Violinprofessoren der Fakultät, Endre Granat (protégé von Jascha Heifetz), hat sich dazu entschlossen, das Stück mit dem Pianisten Harold Gray zu spielen und aufzunehmen. Gemeinsam wollten sie ein Hauskonzert bei einem Freund veranstalten, wobei Harold mich gebeten hat, die Noten für ihn umzublättern. Wahrscheinlich war ich an diesem Abend sogar nervöser als ich es je war, wenn ich selbst ein Stück aufgeführt habe! Im Laufe der Jahre hatte ich das Glück selbst einige der Kompositionen meines Großvaters aufführen zu können. Im Jahr 1997, das Jahr in dem Korngold 100 Jahre alt geworden wäre, wurde ich gebeten mit dem Oregon Symphony Orchestra unter Maestro James DePreist zu spielen. Ein anonymer Förderer spendete eine Summe von 1.000.000 US Dollar (bisher nicht überboten) mit der Forderung an das Orchester, dass der Dirigent ein Stück seiner Wahl aufführen und aufnehmen würde. Wie es der Zufall so wollte, ist Maestro DePreist kurz zuvor auf eine Aufnahme des McGill University Orchestras aus dem Jahre 1991 gestoßen – Korngolds Symphonie in Fis-Dur. Mir wurde gesagt, dass er sich in das Stück verliebt habe. Obwohl ihm bewusst war, dass die Familie Korngold in Portland sesshaft war, hatte seine Auswahl offenbar nichts damit zu tun. Es war eine große Ehre an diesem Projekt zu arbeiten. Mein Vater (Korngolds älterer Sohn) ist in dem Jahr zuvor verstorben, so hatte ich darum gebeten, die Aufnahme seiner Erinnerung zu widmen. Rückblickend betrachtet war dieses wohl das schönste Geschenk, das ich meiner Mutter je gemacht habe.
Im Jahr 1985 wurden mein Ehemann (ein Cellist) und ich gebeten, mit dem Los Angeles Opera Orchestra in der Produktion Die tote Stadt der Deutschen Oper Berlin zu spielen. Ich habe diverse Stücke von Korngolds Kammermusik gespielt, insbesondere zwei Sätze aus der Much Ado About Nothing-Suite am 50. Hochzeitstag meiner Eltern.
Ich liebe den Eklektizismus an Korngolds Arbeit, obwohl ich zugeben muss, dass es mich ermattet, dass es oft so scheint, als würde er mehr Anerkennung für seine Filmmusik bekommen als für seine eigentliche Musik, welche er größtenteils schon vor seinen Jahren in Hollywood komponiert hat. Ich habe viele der kammermusikalischen Werke und Lieder in Konzerten gehört und muss gestehen, dass ich mich stets neu in die Stücke, die ich in Aufführungen erlebe, verliebe. Vermutlich hat es manchmal etwas mit den Musikern oder der Stimme zu tun, häufig ist es jedoch die Intimität und Tiefe seiner Kompositionen, die mich verzaubern.
In meinem Büro hängt ein gerahmtes Manuskript von einem der Korngold-Lieder. Der Text stammt aus dem Sonett 130 von William Shakespeare, welches meinem Großvater von meinem Vater empfohlen wurde. Als solches ist es eines meiner wertvollsten Besitztümer.