13. Jahrgang • 3/2012 • Nr. 45 (September) 5,50 EUR/7,50 SFr (Einzelpreis)
www.oora.de
Die christliche Zeitschrift zum Weiterdenken
Außenseiter Gehörst du dazu?
Marginal Men Wie überzeuge ich meine Gemeinde? Seite 10
Seit 200 Jahren Außenseiter Søren Kierkegaard Seite 20
Überzeugt Seinen Unglauben an die eigenen Kinder weitergeben Seite 30
Personen aus Apples 1997 gelaunchter Think-different-Werbekampagne
Joan Baez und Bob Dylan (*1941) beim Marsch auf Washington am 28. August 1963
Alfred Hitchcock (1899-1980) britischer Filmregisseur und Filmproduzent
Covermotiv: Martin Luther King (USamerikanischer Theologe und Bürgerrechtler) auf einer Pressekonferenz im März 1964
Mahatma Gandhi (1869-1948) indischer Rechtsanwalt, Publizist, Morallehrer, Asket und Pazifist
Albert Einstein (1879-1955) – theoretischer Physiker
Aus dem ooraversum
Editorial Das Team von links nach rechts: Michael, Jörg, Anne, Matthias, Johanna, Daniel
An alle, die anders denken:
Freakstock Anfang August waren wir mit einem Stand auf dem Freakstock in Borgentreich bei Kassel. Mit von der Partie war auch wieder unser braunes Sitzsofa, auf dem wir viele nette Menschen kennenlernen konnten. Natürlich wurde auch viel oora gelesen. Das beliebteste oora-Cover auf dem Freakstock war übrigens die Ausgabe »Gemeinschaft«, was wir daran festmachen, das die meisten zuerst zu dieser Ausgabe griffen. ledig in einer Beziehung verlobt verheiratet es ist kompliziert
Leserumfrage Bei der Ende Juli durchgeführten Leserumfrage haben 25 Prozent der Abonnenten teilgenommen – ein Wert, der sich sehen lässt! Dabei gab fast die Hälfte an, verheiratet zu sein (46%). Ein Drittel kreuzte »ledig« als Familienstand an (31%). In einer Beziehung (16%) oder verlobt (4%) waren zusammen noch 20 Prozent. Dass es kompliziert sei, gab nur 1 Prozent der Befragten an. Danke, dass ihr mitgemacht habt. So können wir oora noch besser auf eure Bedürfnisse abstimmen.
oora-Audio Unser Sprecher Daniel Schneider wohnt mit seiner Familie ab sofort in einem ehemaligen Pfarrhaus. Ob seine Sprachmelodie jetzt ländlichentspannter klingt? Unter www.oora.de/audio findest du alle Audio-Versionen der aktuellen Ausgabe, die Daniels Kollegin Mechthild Puhlmann und er für dich eingesprochen haben. Außenseiter
Die Rebellen, die Idealisten, die Visionäre, die Querdenker, die, die sich in kein Schema pressen lassen, die, die Dinge anders sehen. Sie beugen sich keinen Regeln und sie haben keinen Respekt vor dem Status Quo. Wir können sie zitieren, ihnen widersprechen, sie bewundern oder ablehnen. Das Einzige, was wir nicht können, ist, sie zu ignorieren, weil sie Dinge verändern, weil sie die Menschheit weiterbringen. Und während einige sie für verrückt halten, sehen wir in ihnen Genies. Denn die, die verrückt genug sind zu denken, sie könnten die Welt verändern, sind die, die es tun. —Apple in der »Think different«-Werbekampagne (Craig Tanimoto, Konzepter bei der Werbeagentur TBWA\Chiat\Day) // Als Steve Jobs im Dezember 1996 nach 11 Jahren zu Apple zurückkehrte, ging es der Firma nicht gut. Sie hatte mehrere Millionen Dollar für die Entwicklung von Produkten ausgegeben, die keiner haben wollte und dabei ihren einstigen Kultstatus eingebüßt. Der Gründervater erklärte nach seiner Rückkehr die Kommunikation von Apple zur Chefsache. Ein Schlüssel war dabei die »Think different«-Kampagne, deren Kern der oben abgedruckte Text bildete. Der Aufbau war höchst unklassisch, da keine eigenen Produkte gezeigt wurden, sondern lediglich Schwarz-Weiß-Portraits von Denkern wie Albert Einstein, Mahatma Gandhi oder Martin Luther King. Dazu der mit tiefer Stimme gesprochene lyrische Text und am Ende der Slogan »Think different.« mit dem Logo der Firma. Die Aussage war klar: Diejenigen, die anders sind als der Durchschnitt, die Außenseiter also, haben das Potenzial, die Welt zu verändern, weil sie außerhalb von Gewohntem denken und handeln. Durch die Verknüpfung der Marke »Apple« mit dieser Botschaft wurde die Außenseiter-Rolle der Firma hervorgehoben und schuf so die Basis für das Hipster-Image, mit dem sich Apple schließlich dauerhaft gegenüber anderen Marken positionieren konnte. Dass der Slogan »Think different« im Englischen grammatikalisch falsch ist – es müsste eigentlich »Think differently« heißen – wird von Muttersprachlern unterschwellig wahrgenommen und erhöht die Aufmerksamkeit für die Aussage. Langweilige Korrektheit weicht chaotischem Genius, das sich um Banalitäten wie korrekte Rechtschreibung wenig schert. Die Kampagne war für den Image-Aufbau von Apple höchst effektiv. Sie gewann mehrere Auszeichnungen und wurde bis 2002 verwendet. Aktuell ist Apple mit über 600 Milliarden Dollar Börsenwert das teuerste Unternehmen der Welt. Außenseitertum, das in Apples Kampagne als positiv und hip dargestellt wird, ist für den Einzelnen allerdings oft Not oder zumindest Kunst. Not dann, wenn das Anderssein herausfordert, weil es leichter ist, in der Masse mitzuschwimmen als hervorzustechen. Kunst dann, wenn man es trotzdem schafft, seinen Weg zu finden als einzigartige Persönlichkeit, wie beispielsweise Schwester Esther, die mit 50 Jahren zweitjüngste Diakonisse ihrer Gemeinschaft ist (Seite 6), oder Søren Kierkegaard, der dänische Philosoph (Seite 20). Oder auch Bezieher von Hartz IV, die von der Gesellschaft zu Außenseitern stigmatisiert werden (Seite 22). Wir wünschen dir, dass du deinen ganz eigenen Weg als Außenseiter findest. In Freundschaft, Dein oora-Redaktionsteam
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Inhalt
oora
Artikel, die mit dem Lautsprecher gekennzeichnet sind, gibt es als Audioversion in iTunes und auf www.oora.de/audio.
Schwerpunkt: Außenseiter 6 Als Exotin mitten im Geschehen Fragen an eine Diakonisse
Interview: Kathinka Hertlein
10 Marginal Men Wie überzeuge ich meine Gemeinde?
Daniel Hufeisen
12 Der Roma-König Ein Gespräch mit Pastor Emil Adam
Paul Neustupny + Tomáš Korčák
16 Kontrast-Christ So geht es: Salz und Licht sein
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Daniel Hufeisen
Schwimme doch gegen den Strom So war’s bei mir
Matthias Lehmann
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Seit 200 Jahren Außenseiter Søren Kierkegaard Fred Ritzhaupt
22 Abgestempelt Meine Erfahrungen mit Hartz IV
Jörg Schellenberger
Quergedacht 26 Neues aus dem Hinterhof der Geistlichkeit Panne im System
29 Die Ethikfrage 30 oora-Herzschlag: Überzeugt Seinen Unglauben an die eigenen Kinder weitergeben Michael Zimmermann
32 Bitte Zweifeln Interview mit dem Fotograf und Blogger Martin Gommel
Sonja Küster
40 Unter der Oberfläche Auf der Suche nach Begrenzung
Kolumne: Linda Zimmermann
42 Gefangen Lyrik: Daniel Sailer
43 Buchrezensionen
25 Obdachlosen helfen Was man für Menschen ohne festen Wohnsitz tun kann
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Michael Zimmermann
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Interview: Johanna WeiSS
36 Angst vorm Frauenarzt Warum es trotzdem Sinn macht, hinzugehen
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Kolumne: Axel Brandhorst
Zum Seerosen-Pflücken nach Somaliland Über Antworten, die ich nicht gefunden habe Johanna WeiSS
Mein Freund Gott und ich Wie Gott mir das ABC neu erklärte Kolumne: Mickey Wiese
oora fragt:
In welcher Gruppe wärst du gern Insider?
In dem 400-Seelen-Dorf, in das ich mit meiner Frau vor Kurzem gezogen bin, würde ich manchmal gern richtig dazugehören und wie ein echter Einheimischer sein.
Als Sozialpädagogin wäre ich oftmals wirklich gerne Insider in der ein oder anderen Jugendgruppe. Und privat habe ich den Wunsch, eines Tages zu den Muttis zu gehören. Elisabeth Bell (29) aus Ottenbach
Simon Osthof (27) aus Wölmersen
Während meiner Arbeit als HiWi in einem Schulforschungsprojekt ich mir oft, zum Kreise derwünsche Wissenschaftler zu gehören und nicht »nur« als Lehramtsstudentin daneben zu stehen.
Bei mir ist es eher andersrum – dass andere mich gern bei verschiedenen Dingen dabei hätten. Doch ich habe meist keine Zeit und manches will ich einfach nicht mehr machen. Johanna Woitschig (21) aus Halle
Impressum Nummer 45 • 3/2012 ISSN 2191-7892 Herausgeber: oora verlag GbR, Jörg Schellenberger und Michael Zimmermann, Dollmannstraße 104, 91522 Ansbach Redaktionsleitung: Jörg Schellenberger, Michael Zimmermann (info@oora.de) Redaktionsteam: Anne Coronel, Daniel Hufeisen, Matthias Lehmann, Jörg Schellenberger, Johanna Weiß, Michael Zimmermann Lektorat: Ina Taggeselle Anzeigen: Jörg Schellenberger (joerg@oora.de) Gestaltung: Johannes Schermuly, www.ideenundmedien.de Druck: Onlineprinters GmbH, Neustadt a. d. Aisch
Wolfgang Süpke (49) aus Schloßvippach
Abonnement: oora erscheint viermal im Jahr (März, Juni, September, Dezember) und kostet 18,50 EUR in Deutschland bzw. 24,50 EUR in anderen europäischen Ländern. Darin sind Mehrwertsteuer und Versandkosten bereits enthalten! Das Abo kann immer bis sechs Wochen vor Bezugsjahresende gekündigt werden. Eine E-Mail an service@oora.de genügt. Das gilt nicht für Geschenk-Abos, die automatisch nach einem Bezugsjahr enden. Einzelpreis: 5,50 EUR/7,50 SFr. Bei allen Preisangaben innerhalb dieser Ausgabe von oora gilt: Änderung und Irrtum vorbehalten. Mengenrabatt: Ab 10 Hefte: 5,00 EUR pro Heft, ab 20 Hefte: 4,50 EUR pro Heft (inkl. Versand) Bankverbindung: oora verlag GbR, Konto-Nr. 836 89 38, BLZ 765 500 00, Sparkasse Ansbach IBAN: DE18 76550000 0008 3689 38, BIC: BYL ADEM1ANS
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Marginal Men Wie überzeuge ich meine Gemeinde? Text: Daniel Hufeisen
Viele träumen davon, als Außenseiter ihre Gemeinde zu verändern. Auf der Suche nach Erfahrungsberichten von erfolgreichen Reformern erlebten wir eine Überraschung. // Außenseiter gibt es überall. Auch in christlichen Gemeinden. Wenn eine Person eine andere Meinung hat als die Mehrheit der Gemeinde, führt das schnell zu Konflikten und dazu, dass der »Abweichler« ein Außenseiter wird. Besonders Jugendliche und junge Erwachsene erleben das häufig: Entweder ist ihnen ihre Heimatgemeinde zu eng oder zu altmodisch oder sie kommen in eine neue Stadt und finden dort eine Gemeinde, die in vielen 10
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Punkten nicht ihrer ehemaligen Gemeinde und den dort vertretenen Vorstellungen entspricht. Aber was kann ich machen, wenn ich als Einzelner anderer Meinung bin? Wie überzeuge ich meine Gemeinde? Wie gewinne ich sie für eine neue Idee? Die Suche nach Reformern Die Suche nach Erfahrungsberichten von Außenseitern, die versucht hatten, ihre Gemeinde zu überzeugen und zu verändern, gestaltete sich unerwartet schwierig. Beispiele für Gemeindemitglieder, die auf Unverständnis gestoßen sind und daraufhin ihre Gemeinde verlassen haben, waren uns bekannt. Aber wir
Gemeinden werden nicht durch Außenseiter, sondern vor allem durch ›Marginal Men‹ verändert – also durch Leute, die sowohl integriert als auch abweichend sind, die gleichzeitig Bewahrer und Vordenker sind.
konnten niemanden finden, der es geschafft hatte, als Einzelner seine Gemeinde zu überzeugen. So fragten wir den Gemeindeberater Harald Sommerfeld aus Berlin, ob er jemanden mit einer solchen Geschichte kenne. Seine Antwort auf diese Anfrage überraschte uns, brachte uns aber auch weiter auf der Suche nach der Antwort auf die Frage, wie man als Außenseiter seine Gemeinde überzeugen kann. Harald schrieb: »Ich bin skeptisch, ob das der thematisch richtige Ansatz ist. Organisationen können meines Erachtens in der Regel nicht von Außenseitern verändert werden. Außerdem haben Außenseiter keinen Anspruch darauf, dass man ihnen folgt, nicht einmal, wenn sie Recht haben. Das legitime Ziel von Außenseitern in einer Organisation besteht vor allem darin, dass man ihnen Freiräume einräumt, innerhalb derer sie ihre Vorstellungen praktizieren können. Wenn daraus dann eine beeinflussende Wirkung hervorgeht, umso besser. In einer traditionellen Gemeinde sollte der progressive Einzelne sich zunächst keine ehrgeizigeren Ziele stecken, als einvernehmlich seine persönliche Nische bewilligt zu bekommen. Beispiele: Statt eine Gottesdienstreform zu bewirken, führt der gangbare Weg zunächst eher über zusätzliche ›Sparten‹-Gottesdienste. Organisationen – also auch Gemeinden – werden nicht durch Außenseiter, sondern vor allem durch ›Marginal Men‹ verändert – also durch Leute, die sowohl integriert als auch abweichend sind, die gleichzeitig Bewahrer und Vordenker sind. Außenseiter werden neue Sichtweisen immer als Herausforderung präsentieren (oder so verstanden werden) und haben damit angesichts des Sicherheitsdenkens der Mehrheit wenig Chancen. Nur wer der Mehrheit die Sicherheit vermittelt, einer von ihnen zu sein, kann sie für Neues aufschließen. Ein Indiz dafür, dass es so ist, könnte die Tatsache sein, dass euch selbst kein passender Reformer eingefallen ist. Die scheint es also nicht zahlreich zu geben.« Gehen oder Freiraum finden? Es scheint zu stimmen, dass es nicht viele Außenseiter gibt, die ihre Gemeinde verändert haben. Wir mussten auch feststellen, dass es so viel mehr unseren Erfahrungen entsprach: Wir kennen viele, die davon träumen, als Außenseiter ihre Gemeinde zu verändern, die sich dann aber irgendwann aufreiben. Immer mehr Menschen setzen sich damit auseinander, ob und wie sie ihre Gemeinde reformieren können oder ob sie alternativ den Weg wählen, aus der Gruppierung auszutreten und woanders ihr Glück zu versuchen. So ging es auch einem unserer Redakteure, der zunächst in einer traditionellen Gemeinde war, die aber irgendwann nicht mehr seinem Glauben und Denken entsprach. Der vergebliche Außenseiter
Versuch, etwas zu verändern, zehrte so sehr an ihm, dass er schließlich beschloss, diese Gemeinde zu verlassen. Die Alternative, Kompromisse einzugehen und sein anderes, der Gemeinde nicht mehr entsprechendes, Denken zu unterbinden, war für ihn keine Option. Harald Sommerfeld schreibt, dass Außenseiter sich als Ziel setzen sollten, eine Nische in der Gemeinde zu finden, in der sie den Freiraum haben, ihren Vorstellungen entsprechend aktiv zu werden. Dabei sollten sie nicht den Anspruch haben, dass dies zu einer Gemeindereform führt. Wenn so etwas in einer Gemeinde nicht möglich ist, gibt es wohl nur die Optionen sich entweder vollkommen anzupassen oder eben auszutreten. Meine Erfahrung Eine Nische gefunden habe ich als Jugendlicher in meiner Gemeinde. Da wir unseren Glauben nicht auf einer uns entsprechenden Art und Weise in der Gemeinde leben konnten, gründete ich zusammen mit meinem Bruder und ein paar Freunden eine Jesus-Freaks-Gruppe. In dieser Gruppe hatten wir alle Freiheiten und bekamen durch den Kontakt zu anderen Jesus Freaks wertvolle Inspirationen. Auch wenn es keine offizielle Anbindung gab, blieben wir auch in der Gemeinde als Mitarbeiter aktiv und verknüpften häufig die Aktionen der Jesus-FreaksGruppe mit der Gemeindearbeit. Dies führte zu keinen großen Reformen, es ermöglichte uns aber gleichzeitig in der Gemeinde zu bleiben und unsere Vorstellungen auszuleben. Ich wage also die These: Wenn du deine Gemeinde wirklich verändern willst, darfst du kein Außenseiter bleiben. Du musst zu einem ›Marginal Man‹ werden, jemand der voll dazugehört und trotzdem nach vorne denkt und Alternativen sieht. Jemand, der in beidem zuhause ist: im Alten und im Neuen. Dieser Spagat ist unheimlich schwer, und das nicht nur als einfaches Gemeindemitglied, sondern auch als Leiter oder Pastor. Und du wirst dabei immer feststellen, dass Veränderung Zeit braucht. Aber wenn du behutsam vorgehst und dabei auch für Kompromisse bereit bist, wachsen deine Chancen auf Veränderung um ein Vielfaches. ///
Daniel Hufeisen (30) engagiert sich bei Emergent Deutschland, einem Netzwerk, das danach fragt, wie Glauben und Gemeinde heute gedacht und gelebt werden können. Außerdem bloggt er auf einAugenblick.de
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Wer ständig nur Rollen spielt und spielen muss, beginnt irgendwann unweigerlich an dieser Selbstentfremdung zu leiden.
Seit 200 Jahren Außenseiter Søren Kierkegaard Text: Fred Ritzhaupt
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// Wahrscheinlich wäre der gute Søren (* 5. Mai 1813) nicht einmal sauer, wenn er diesen Titel lesen könnte. Gibt es doch kaum einen Denker der letzten zwei Jahrhunderte, der sich so bewusst ins Aus gesetzt hat wie dieser Däne. (Übrigens hat er nur einmal seine Geburtsstadt Kopenhagen verlassen, um in Berlin einen berühmten Philosophen zu hören.) Nach seinem Tod mit 42 Jahren wurde es prompt sehr still um ihn, wie wenn alle zunächst einmal tief Luft holen müssten. Denn er war ein höchst unbequemer Zeitgenosse, vor allem für die dänische Staatskirche. Ja, er hätte am liebsten gehabt, dass er von ihr zum Märtyrer gemacht würde, nur um ihr zu Verstehen zu geben, wie weit sie sich vom Eigentlichen des Christentums entfernt hatte. Mittlerweile wird Kierkegaard zu den ganz Großen unter den Denkern gerechnet. Der Historiker Hans Joachim Störig sagt 20
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von ihm: »Die Welt nach Kierkegaard sieht unwiderruflich anders aus als vor ihm. Dies kann nur von ganz wenigen Großen wie Sokrates oder Kant gesagt werden.« Keine Kindheit Søren Kierkegaard hatte das Glück, Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns zu sein – er konnte Zeit seines Lebens von seinem Erbe leben und bevor es restlos aufgebraucht war, starb er. Er hatte aber auch das Pech, in diese Familie hineingeboren zu sein, denn die Mutter und fünf seiner Geschwister starben schon sehr früh. Sein tiefreligiöser Vater sah darin eine Strafe Gottes, weil er eine Zeit lang Gott den Rücken zugekehrt hatte – er wurde depressiv. Sein Glaube hielt diesen Schicksalsschlägen nicht stand. Søren konnte später über seine Kindheit nur sagen, dass er eigentlich gar keine hatte. Mit 17 begann er sein Studium der
Theologie, das er erst nach zehn Jahren zum Abschluss brachte. Zwei Jahre zuvor war sein Vater gestorben und hatte ihm neben einem stattlichen Haus auch ein Vermögen hinterlassen, das es ihm erlaubte, nicht nur seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, sondern auch seine Schriften und Bücher, die er selber – meistens unter einem Pseudonym – herausbrachte. Mein Gott und ich Kierkegaard hatte eine völlig eigene Sicht der Dinge: Alle großen Philosophen vor ihm bauten gewaltige Gedankengebäude auf, die für alles und jeden und alle Zeiten gelten sollten. Sie legten aber wenig Wert auf das, was der Einzelne dachte, fürchtete und – vor allem – tat. Søren verglich es mit einem wunderbaren Schloss, das sie in ihren Gedanken aufbauten, während sie selber in einer Hütte nebenan wohnten. So sein Fast-Zeitgenosse Arthur Schopenhauer, der auf die Frage seiner Studenten, warum man nichts von dem, was er lehrte, in seinem Leben finden könne, antwortete »Geht etwa der Wegweiser in die Richtung, in die er zeigt?« Solche Aussagen hätten Kierkegaard auf die Palme gebracht. Ihm ging es um das Leben des Einzelnen, wie es sich in Freiheit entfaltet – für Søren allerdings nur vorstellbar unter der Führung Gottes. Viele haben nach ihm diesen Aspekt aufgenommen und daraus eine ganze Philosophie gemacht (Existenzphilosophie, u. a. Camus und Sartre), ließen aber den für Kierkegaard wichtigsten Aspekt aus: den ganz persönlichen Bezug zu Gott. Da er diesen so stark betonte, war es klar, dass er allem Institutionalisierten äußerst skeptisch gegenüberstand. Kirche, wie er sie kennengelernt hatte, hielt nicht nur den Einzelnen klein und unmündig, sie verhinderte seiner Meinung nach geradezu die Nachfolge Jesu im biblischen Sinne. Wahrscheinlich sind sich die Wenigsten bewusst, dass vieles, was heute lebendige Christen bewegt – man denke nur an Bestseller wie »Der Schrei der Wildgänse« oder »Die Hütte« –, schon vor 150 Jahren von diesem Dänen mit unglaublicher Konsequenz vertreten wurde. Woher aber kommt bei ihm diese radikale Sicht auf Institution, Nachfolge und auf die persönliche Beziehung zu Gott? Kierkegaards Bekehrung Wir entdecken in seinem Leben eine Phase, die ihn wohl außerordentlich geprägt haben muss: das Ergriffensein von einer Erweckungsbewegung. Eine solche Bewegung hatte um die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts ganz Nordeuropa erfasst. Es gab neue Glaubensgemeinschaften, Bibelkreise, Sondergruppen mit einem Hang zum Urchristentum, kurz: Diese Erweckung verlief fast ausschließlich außerhalb der etablierten Kirchen. Hier hatte Kierkegaard mit Sicherheit die Prägung seines Lebens erhalten, die ihn bis zu seinem Tod nicht mehr losließ. Ja, man kann ihn als einen Denker beschreiben, der aus der ganz persönlichen Erfahrung der »Bekehrung« heraus, welche für ihn nur denkbar war als Zusammenwirken von Mensch und Jesus, mit äußerstem Scharfsinn eine ganze Philosophie entwickelt hat. In ihr ist letztlich der einzelne Mensch in seiner Beziehung zu Gott, aber auch in seinen alltäglichen Fragen »Was soll, was kann, was darf ich tun?« der Dreh- und Angelpunkt allen Denkens. Außenseiter
Kierkegaard zum Weiterlesen: Als »Die Krankheit zum Tode« bezeichnet Kierkegaard die Verzweiflung eines jeden Menschen und er unterscheidet hier drei Arten: das »verzweifelt nicht sich bewusst sein, ein Selbst zu haben«, das »verzweifelt man selbst sein wollen« (Trotz) und »verzweifelt nicht man selbst sein wollen« (Schwäche). Ein sehr bereicherndes Büchlein, das eine wichtige und grundlegende Existenzfrage an den Leser stellt, jedoch aufgrund des schwierigen Schreibstils für Einsteiger weniger geeignet ist. Leichter zu lesen ist die gekürzte Bearbeitung dieses Textes von Hanne Baar: »Kierkegaard für Volljährige«. Auch von Hanne Baar aufbereitet gibt es Kierkegaards »Entweder – Oder«, bei ihr heißt es »Kierkegaard zum 18ten«. Hier geht es darum, ob man ein Leben als Ästhetiker führt, der sich seiner Identität (noch) nicht bewusst ist und damit abhängig ist von den äußeren Umständen oder ob man als Ethiker lebt, der sich selbst gefunden hat und seine von Gott gegebene Identität unabhängig von äußeren Gegebenheiten macht. /// Ina Taggeselle › › › ›
ie Krankheit zum Tode, Søren Kierkegaard D Reclam, ISBN 978-3150096345, 5,00 € Entweder – Oder, Søren Kierkegaard dtv, ISBN 978-3423133821, 13,90 € Kierkegaard für Volljährige, Hanne Baar Hymnus-Verlag, ISBN 978-3933959010, 10,00 € Kierkegaard zum 18ten, Hanne Baar Hymnus-Verlag, ISBN 978-3980380164, 10,00 €
Rollenspiel Wie sehr wir uns auch heute noch mit seinen Gedanken beschäftigen müssen, kann folgendes Beispiel zeigen: In der Antike trugen Schauspieler, um auch noch von Weitem erkannt und gehört zu werden, große, der jeweiligen Rolle angepasste Masken (mit Schalltrichter! Daher: personare = durchtönen). Manche spielten sogar verschiedene Rollen. Kierkegaard nimmt nun dieses Bild wieder auf und zeigt, dass wir durch die Welt, die uns umgibt, ständig Personen sind, wie sie von unserer Umgebung gewünscht werden. Das eigentliche »Selbst« eines Menschen wird dabei sich selbst entfremdet. Anders ausgedrückt: Wer ständig nur Rollen spielt und spielen muss, beginnt irgendwann unweigerlich an dieser Selbstentfremdung zu leiden. Alle Objektivität, alle Sachzwänge und Ideologien – womit er auch ein Christentum meinte, das in Wirklichkeit keines ist – bringen den Menschen nur dazu, nicht mehr zu wissen, wer er eigentlich ist. Erst die Selbstreflexion, die zur Umkehr führt, lässt ihn seine Existenz annehmen und befähigt ihn zum Handeln – zum echten Handeln, das kein Spiel mehr ist. ///
Fred Ritzhaupt (68) wollte ursprünglich Bergführer werden. Daraus wurde jedoch nichts, weil das »geistliche Gewerbe« dazwischen kam. So trat er in den Jesuitenorden ein und studierte Philosophie und Theologie in München und Innsbruck. Von 1979-92 war er Jugendseelsorger in Ravensburg. Mit seiner Frau Erika ist er seit 1992 verheiratet, zusammen haben sie drei Söhnen und eine Pflegetochter. Seit 11 Jahren arbeitet er als freikirchlicher Pastor bei Göppingen.
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Die ÂťAirport RoadÂŤ verbindet den Flughafen mit dem Stadtkern Hargeisas, der Hauptstadt Somalilands
HaRgeisa http://goo.gl/maps/UHg7I
Johanna mit ihrem Kollegen Eisa auf dem Weg zu einem Dorfprojekt 44
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Zum Seerosen-Pflücken nach Somaliland Über Antworten, die ich nicht gefunden habe Text: Johanna Weiß
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Unsere Redakteurin ist in einem Land, in dem sie nicht sein sollte, für ein Praktikum, das nicht zu ihrem Studium passt. Auszüge ihrer Erlebnisse. // Dass ich hier im vom Krieg gezeichneten Somalia in der nördlich gelegenen Region Somaliland bin, ist in vielerlei Hinsicht verrückt. Bei Hitze bin ich die Erste, die in den Schatten flüchtet, ich habe kein besonderes Afrika-Herz und es hat mich noch nie in die Entwicklungshilfe gezogen. Was hat mich also hierher gebracht? Nicht zuletzt meine Fragen zu den Themen Armut und Reichtum. Ich erinnere mich an eine billige Fernsehsendung, in der Millionärsehefrauen ihre Villen vorgeführt und Einblicke in ihren Luxus zelebrierenden Lebensstil gegeben haben. Ich denke an eine Dokumentation über gigantische Preisentwicklungen am Kunstmarkt, die ich in einer Univorlesung gesehen hatte. Zur Geldanlage werden Milliarden für mit Farbklecksen verzierte Leinwände ausgegeben. Selbst viele Künstler schütteln über diese Dimensionen den Kopf. Ich will all das weder verurteilen, noch abstreiten, dass Reichtum auch seinen Reiz auf mich ausübt. Doch musste ich dabei immer wieder an die unzählbar vielen Armen auf der südlichen Erdhalbkugel denken. Denen bin ich zwar bis dato noch nicht begegnet, ich wusste aber, dass es sie gibt. Anfang Juli mache ich mich tatsächlich auf den Weg zu einem sechswöchigen Praktikum bei einer Entwicklungsorganisation. Kopfschütteln über mich selbst wechselt sich seitdem ab mit Abenteuerlust und Spannung bzw. Anspannung – je nachdem wie ungewohnt die Situation ist, in der ich gerade stecke. Brot von Nimco Ein Beispiel dafür ist meine Begegnung mit Nimco (die Namen sind geändert). Die zahnlose alte Dame ist Besitzerin eines Dukans, einem der zahllosen kleinen Ein-Raum-Lädchen hier. Oft liegt sie auf einer Matte hinter der Theke. Wenn sie allein ist, erhebt sie sich selbstverständlich für eintretende Kundschaft. Ist ihre Tochter auch im Laden, bleibt sie genauso selbstverständlich liegen und überlässt die Geschäfte ihrem Nachwuchs. Bei meinem ersten Besuch brauche ich Brot. Ich deute auf den großen mit Baguette gefüllten Plastikbeutel. Während sie darin herumwühlt und die Leibe betastet, um den besten zu finden, nehme ich den strengen Ladengeruch immer deutlicher wahr. Viele Menschen hier benutzen weder Toilettenpapier noch Seife. Ich blicke auf ihre Hände, das Brot – mir wird mulmig. Ich begreife zum ersten Mal, warum wir Gott um seinen Segen für unser Essen bitten. Quergedacht
Im Vergleich zum westlichen Lebensstandard lebt sie unter extrem einfachen Bedingungen. Auf den ersten Blick mag sie arm erscheinen. Doch erlebt man sie, passt dieses Attribut nicht mehr. Nimco scheint absolut zufrieden, freut sich über ihre Kunden, schäkert mit deren Kindern und steckt ihnen Bonbons zu. Wenn ich ihren Dukan verlasse, bin ich nicht bestürzt, sondern fasziniert, dass Leben so anders und trotzdem so gut sein kann.
Wenn ich Nimcos Dukan verlasse, bin ich fasziniert, dass Leben so anders und trotzdem so gut sein kann. Kunstmarktpreise und Hügelzelte Das Gegenteil war nach meinem Besuch in Camp B der Fall. In dem Flüchtlingslager leben 1.400 Menschen. Als ich ankomme, bin ich überrascht von der Stille. Statt der erwarteten Menschenmassen stehen mit Stofffetzen bespannte Hügelzelte auf der Erde. Nach einer Weile stellen sich ein paar Frauen zu mir und meinem Kollegen Axmed. Eine davon hat ein Baby auf dem Arm. Sie ist mit ihren drei Kindern vor einem Jahr aus Mogadischu geflohen. Eine andere hat ihr Dorf hinter sich gelassen, nachdem sie in der Dürre ihr gesamtes Vieh verloren hatte. Ohne Vieh hat sie auf dem Land keine Chance zu überleben. Ich frage mich, wie die beiden hier überleben. Auf der Rückfahrt deutet Axmed auf Menschengruppen, die sich über das trockene Land vor dem Camp beugen. »Diese Leute begraben gerade ein Familienmitglied.« Hier sind sie also endlich, die Armen, an die ich während der Dokumentation über Kunstmarktpreise gedacht hatte. Vor ein paar Wochen hatte ich mich gefragt, wie an wenigen Orten der Erde unglaublicher Reichtum herrschen kann, während an anderen das Nötigste fehlt. Auf diese Frage habe ich noch immer keine Antwort, möchte das Geld aber auch nicht mehr bedingungslos für Orte wie Camp B einfordern. Denn – so erfahre ich hier – Hilfe ist nicht gleich Hilfe. Glücklose und Hilflose Könnte eine Notsituation auch aus eigener Kraft überwunden werden? Würden dauerhaft negative Folgen bei Unterlassen der Hilfeleistung eintreten? Ist die Situation selbst verschuldet? Ist oora.de
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Wasser und Essen kann schließlich nicht schaden; der Zehnte wäre dann auch vom Konto. bereits wiederholt Hilfe geleistet worden? Diese Fragen bestimmen, ob unmittelbare Fürsorge nötig ist. Sie ist zum Beispiel direkt nach Unfällen oder Naturkatastrophen nötig. Es geht dann konkret darum, Blutungen zu stoppen, Wunden zu verbinden und Grundbedürfnisse zu stillen. Zu oft wird Fürsorge geleistet, wenn die Betroffenen schon eine aktive Rolle in Wiederaufbau oder Entwicklung leisten könnten. Doch auch wenn sich ein Mensch selbst nicht helfen kann, braucht es noch einen Blick in sein Umfeld. Denn zunächst steht die Familie des Notleidenden in der Verantwortung. Kann diese nicht einspringen, ist die Gemeinschaft dran, dann der jeweilige Staat und erst in letzter Instanz ist internationale Hilfe gerechtfertigt. Nun möchte ich für diese Fragen und Prinzipien weder Vollständigkeit beanspruchen, noch behaupten, dass sie leicht zu beantworten sind. Aber das ändert nichts daran, dass viele Gebergelder bereits einigen Schaden angerichtet haben. Ein Mensch, der unnötig befürsorgt wird, wird auf Dauer lebensunfähig. Er geht nicht mehr davon aus, dass er Gaben und Fähigkeiten hat und sein Leben in die Hand nehmen kann. Er wird außerdem seiner Beziehungen beraubt bzw. dazu ermutigt, sich vorschnell aus ihnen zurückzuziehen. Viele Dürreflüchtlinge in Camp B zum Beispiel sind die Glücklosen aus ihren Dörfern, kaum verliert ein ganzes Dorf seinen kompletten Viehbestand. Zwei bis drei Flüchtlinge aus jedem Dorf füllen aber schon ein ganzes Camp. Würden dort keine Lebensmittel verteilt, hätten die Unglücklichen zunächst in ihren Dorfgemeinschaften Hilfe gesucht und die Gemeinschaften sich verantwortlich gefühlt. Wenn man so will, entstehen solche Flüchtlingscamps erst durch das Einwirken ausländischer NGOs (Non-Governmental Organization). Brechen sie aber nach einiger Zeit ihre Zelte ab, stehen abhängig gewordene Menschen plötzlich alleine da und haben verlernt, sich selbst zu helfen. Dazu kommt, dass NGOs Eigeninteressen haben. Gesund aussehende Menschen, die in Wiederaufbau und Entwicklung unterstützt werden, erregen weniger Mitleid, als halb verhungerte Kinder. Wo es gelingt, Mitleid zu bewirken, ist auch die Spende nah. Und mit Spendengeldern halten sich NGOs nicht zuletzt selbst am Leben. Wasser und Essen kann doch nicht schaden Also keine Spenden mehr, um der Abhängigkeit produzierenden NGO-Industrie das Wasser abzugraben? Ganz so einfach ist es nicht. Zum einen trägt das Spendenverhalten privater Spender mit zu dem Problem bei. Haben wir nicht alle bereits von Hilfsorganisationen gehört, bei denen zu viel Geld in der Verwaltung versickert? So denken offenbar viele Spender und unterstützen am liebsten solche Projekte, die einen hohen Materialverbrauch bei minimalen Personalkosten aufweisen. Wunderbar, wenn möglichst viele Lebensmittel verteilt und Häuser gebaut werden. 46
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Nicht schlimm, wenn ein wenig daneben geht, sprich: bei Leuten ankommt, die solche Hilfe nicht brauchen. Projekte, die in Aufklärung, Bildung und Entwicklung von Gemeinschaften investieren, haben natürlicherweise hohe Personalkosten und wesentlich geringere Materialkosten. Für sie ist es aber schwer, an Gebergelder zu kommen, weil eben die Tendenz dazu besteht, an Organisationen zu spenden, die möglichst viel »Masse« produzieren. Weiterhin kann man bei Training und Entwicklung Erfolge nicht so leicht und schnell messen und nachweisen, wie bei Fürsorgeprojekten. Und welcher Spender will sich schon tief mit dem unterstützten Projekt auseinandersetzen? Wasser und Essen kann schließlich nicht schaden; der Zehnte wäre dann auch vom Konto.
Erst in letzter Instanz ist internationale Hilfe gerechtfertigt. Zum anderen gibt es eben doch Menschen wie die Frau aus Mogadischu, die mitsamt ihrem ganzen Beziehungsumfeld aus dem Krieg fliehen. Und es gibt ganze Dörfer, die in der Dürre ihren vollständigen Viehbestand verlieren und eingreifende Fürsorge brauchen. Und manchmal leben sie in Staaten, die hier nicht einspringen können. Und dafür wiederum gibt es Organisationen, die sich der geschilderten Probleme bewusst sind und professionell helfen können. Es ist zum Davonlaufen. Ich fühle mich wie beim Seerosenpflücken. Ich glaube eine schöne pflückbare Erkenntnis gefunden zu haben. Kaum will ich sie herausgreifen, kommen die vielen Stränge zum Vorschein, an denen sie hängt. Doch eines haben die vielen Abenteuer meiner Reise einschließlich der Erlebnisse bei Nimco und Camp B für mich gemeinsam: Gleichzeitig mit ihren unvorhersehbaren Auswirkungen auf mich selbst und ihrer allgemeinen Unkontrollierbarkeit wurde mir die absolute Abhängigkeit von Gott bewusst. Auf überwältigend beruhigende Art bewusster als je zuvor. ///
Zum Weiterlesen: › Steve Corbett et al: »When Helping Hurts – How To Alleviate Poverty Without Hurting The Poor … And Yourself«, 274 Seiten, 12,10 € (Noch nicht auf Deutsch erhältlich.) www.whenhelpinghurts.org
Johanna Weiß (26) genießt ihre Freunde, gute Musik und den Bodensee. An dem studiert sie Kommunikation- und Kulturmanagement. Sie mag schreiben, lesen, kreatives Arbeiten und geht gerne auf Reisen.
»Camp B« in Hargeisa – 1.200 Flüchtlinge wohnen in diesen Hütten. Das Gerüst innen ist aus Ästen und Sträuchern gebogen, die Außenseiten werden aus Blech, auseinandergebogenen Dosen und gesammelten Stofffetzen hergestellt
Johanna im »Camp B« mit somalischen Frauen Quergedacht
Der Markt von Hargeisa: Hier kauft man alles – von offenem Fleisch und Gemüse über Küchenausstattung und Klamotten bis hin zu Möbeln und Teppichen oora.de
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Wie Gott mir das ABC neu erklärte von Mickey Wiese
Audioversion unter www.oora.de/audio
// Als mich mein Freund Gott wieder einmal eindrücklich an den therapeutischen Nutzen von Dankbarkeit erinnerte, fiel mir die ABC-Listen-Technik von Vera Birkenbihl1 ein. Ich schenkte uns einen Kaffee ein, setzte mich hin und schrieb auf, was mir so alles zu jedem Buchstaben des Alphabets durch den Kopf und das Herz ging, wofür ich alles dankbar sein kann. Dankbarkeits-ABCListen sind eine gute Methode, um aus dem reichhaltigen Inneren, Dinge geordnet zu Tage zu fördern, gerade wenn man vielleicht mal wieder sagt: »Ach, da weiß 48
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ich ja gar nicht, wo ich anfangen soll.« Das führt nämlich in vielen Fällen dazu, dass man auch gar nicht erst anfängt und die Dankbarkeit wieder einmal auf der Strecke bleibt. Und so sah sie aus, meine ABC-Liste der Dankbarkeit: A wie Abendmahl, bei dem ich mich immer wieder meiner Erlösung vergewissern kann. B wie Benediktinerinnenabtei Engelthal, wo ich meinem Freund Gott an Fasching 1976 zum ersten Mal bewusst begegnet bin.
C wie Christliches Zentrum Frankfurt, wo ich viele wunderbare Erfahrungen gemacht habe und zu der Person gereift bin, die heute das Leben mit der Freiheit und der bedingungslosen Liebe meines Freundes Gott gestaltet. D wie meine Frau Dany, die jetzt schon seit mehr als 20 Jahren mit mir durchs Leben tanzt. E wie das Elterndasein für meine Söhne Lion Philip Sebulon, Julian Merlin Lando und Connor Ethan Leander. F wie Forsythe, William und seine fantastischen Modern Dance Choreographien.
So viele neuronale Verbindungen in meinem Gehirn waren neu geschaffen oder anders verbunden worden, dass ich die nahe Zukunft mit ganz anderen Augen sehen konnte.
G wie Glasfenster meines lieben Freundes Johannes Schreiter, die mir immer wieder Membranen zur Ewigkeit sind. H wie die Heilige Geistin, die sich mein Leben lang so liebevoll um mich gekümmert hat und die Güte hatte, sich mir zu offenbaren. I wie Inkarnation, die mir gezeigt hat, dass auch all meine hehren Gedanken über das Reich meines Freundes Gott Fleisch werden müssen, um wirksam zu werden. J wie Jugendkirche Subzone, in die ich mein Herzblut gegossen habe und in der ich so viele herzerhebende Momente genossen habe. K wie Klinik Hohemark, in der ich 1985 mitten in einer tiefen Depression eine neue Lebenschance geschenkt bekam. L wie Leidenschaft, die mir immer wieder die Energie für meine Arbeit zur Verfügung stellt. M wie Musik von Jazz über House bis Metal, die meiner Seele immer wieder neue Nahrung verschafft. N wie Nürnberger Lebkuchen, deren Duft allein mich schon zum seligen Kind mutieren lässt. O wie Ökumenische Dogmatik von Edmund Schlink, die meinen Blick auf das Wesen des christlichen Glaubens erdet und weitet. P wie Perry Rhodan, der mich Woche für Woche in die Weiten des Universums mitnimmt. Q wie Querdenken zu dürfen in der Gegenwart meines Freundes Gott, auch wenn es von vornherein offensichtlich falsch erscheint. R wie Rücken, der mir im Jahr 2004 zerbrach und den mein Freund Gott durch das Gebet von einigen lieben Christen aus einem Healing-Room heilte. Quergedacht
S wie Salzburger Nockerln, die ich als Diabetiker zwar nicht mehr so gut essen kann, die aber immer noch zu meinen absoluten Lieblingsgerichten gehören und bei denen allein schon die Erinnerung daran, sie einmal gegessen zu haben, glücklich macht. T wie Theologiestudium, das ich 27 Semester lang berufsbegleitend genossen habe und das mich bei manchem geistlichen Höhenflug mit Treibstoff versorgt hat. U wie Überraschungen der Liebe und der Gnade meines Freundes Gott, die mir täglich widerfahren, auch wenn ich mich nicht immer daran erinnern kann. V wie Vollmer, Max, mein alter Religionslehrer und Pfarrer, der die Freundlichkeit, Liebe und Geduld hatte, mich mit seinem Freund Gott bekannt zu machen. W wie Wendelsteinregion, wo ich schon viele schöne Urlaube verbracht und mit meinem Freund Gott auf Gipfeln gesessen habe und die Seele freigeblasen bekam. X wie das x-te Mal, dass ich zu meinem Freund Gott kommen darf, um ihm die gleiche Sünde zum x-ten Mal zu beichten und er sie mir zum x-ten Mal vergibt. Y wie Yabba Dabba Du, was mich an die Lebenslust und die Freundschaft von Fred Feuerstein und Barney Geröllheimer erinnert. Z wie Zwischenraum (www.zwischenraum.net), die mir erst letztens wieder gezeigt haben, dass mein Freund Gott noch viel größer und weiter liebt, als ich mich zu denken traue. Nachdem mein Freund Gott und ich uns solcherart mindestens 26 Minuten mit den guten Dingen unserer Vergangenheit beschäftigt hatten, geschahen zwei Din-
ge. Zum einen waren so viele neuronale Verbindungen in meinem Gehirn neu geschaffen oder anders verbunden worden, dass ich die nahe Zukunft mit ganz anderen Augen sehen konnte. Zum anderen erfüllte mich eine unbändige Lust, diese Erfahrung mit anderen Freunden zu teilen. So machten mein Freund Gott und ich uns auch sogleich auf, nahmen ein Video auf und luden es bei YouTube hoch2. Vera Birkenbihl, die Erfinderin der ABC-Listen, hat einmal gesagt, dass eigentlich jeder Mensch 3x am Tag eine Dankes-ABC-Liste schreiben sollte, dann würde unsere ganze Gesellschaft sehr bald ganz anders aussehen. Dem können mein Freund Gott und ich nur von ganzem Herzen zustimmen. Und dann schlürften mein Freund Gott und ich genüsslich unseren letzten Schluck Kaffee, tunkten unsere Seelenhörnchen in die ersten Sonnenstrahlen und schlenderten fröhlich dem neuen Tag entgegen. /// Fußnoten: 1 bit.ly/abc-listen 2 bit.ly/ressourcen-abc
Mickey Wiese (52), länger als er lebt mit Jesus befreundet, ist als Event-Pastor, systemischer Berater für störende Schüler und in einigen anderen Rollen unterwegs. Er hat Sehnsüchte nach Glauben im Alltag, wird gerne gegooglet und findet Beerdigungen fast besser als Hochzeiten, feiert letztere aber ausgiebiger.
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Nachgefragt : Gofi Müller Fragen: Jörg Schellenberger Gottfried ›Gofi‹ Müller (41) ist Künstler und Publizist und lebt mit seiner Familie in Marburg an der Lahn. Er studierte Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Bielefeld. Seit mehr als zehn Jahren wird Gofi als Redner zu unterschiedlichsten Veranstaltungen in Deutschland und dem europäischen Ausland eingeladen. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht. Im Sommer 2012 erschien sein Gedichtband »Dickicht«.
Viele engagierte Christen aus unserer Generation kämpfen mit dem Begriff »evangelikal«. Bezeichnest du dich als Evangelikaler? Ich habe viel über den Begriff nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich kein Evangelikaler bin und es auch nicht sein möchte. Wie bist du dazu gekommen? Dafür habe ich mehrere Gründe, von denen ich zwei nennen will. Zum einen glaube ich, dass dieser Begriff vor allem als Abgrenzung gegenüber anderen Christen funktioniert: »Ich bin Evangelikaler, weil ich kein Charismatiker, Landeskirchler, Katholik, Orthodoxer, Zeuge Jehovas … bin.« Dieses Selbstverständnis aus einer Abgrenzung gegenüber anderen heraus behagt mir nicht. Das ist mir zu wenig, um mich geistlich zu positionieren. Man kann natürlich versuchen, den Begriff »evangelikal« positiv zu füllen.
Aber das finde ich schwierig. Mir wurde gesagt, evangelikal zu sein bedeute, dass man »intensiv evangelisch« sei. Das setzt voraus, dass evangelikale Christen intensiver evangelisch gläubig sind, als »herkömmliche« evangelische Christen, sonst müssten sie sich nicht durch den Begriff von ihnen absetzen. Erstens glaube ich das nicht. Und zweitens gefällt mir nicht, dass »evangelikal« eine Steigerung von »evangelisch« sein soll. Ich bin nicht evangelischer als andere evangelische Christen und will es auch nicht sein. Es reicht mir völlig, ein evangelischer Christ zu sein. Und so bezeichne ich mich mittlerweile auch. Kannst du nachvollziehen, dass sich andere weiterhin als evangelikal bezeichnen? Ja, natürlich! Ich respektiere total, dass andere sich zur evangelikalen Bewegung bekennen und hinterfrage das auch nicht. Viele meiner besten Freunde sind über-
zeugte Evangelikale. Ich denke nicht im Traum daran, sie deshalb zu kritisieren. Du hast dich mal als links-evangelikaler Christ bezeichnet. Ist das dann auch nicht mehr aktuell? Stimmt, ich habe mich mal als linksevangelikaler Christ bezeichnet, tue das jetzt aber nicht mehr. Das war eine Art Protest zu einem Zeitpunkt, an dem eine Mehrheit unter den Evangelikalen davon ausging, dass ein Evangelikaler nur eine bestimmte politische Position haben kann. Obwohl ich mich selbst als evangelikalen Christen sah, teilte ich diese politische Position nicht und tue das noch immer nicht. Ich finde den Begriff »linksevangelikal« mittlerweile deshalb schwierig, weil er denselben Fehler wiederholt, gegen den er sich eigentlich richtet: Er verknüpft einen geistlichen Standpunkt mit einer politischen Position, so als würde das eine zwangsläufig aus dem anderen folgen. Das sehe ich nicht mehr so. ///
Das Thema der nächsten Ausgabe, die im Dezember 2012 erscheint:
Erwachsen 50
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WASSER
EIN SEGEN
Ohne sauberes Wasser kann kein Mensch leben 1.000.000.000 Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. 2.600.000.000 Menschen haben keinen Zugang zu sanit채ren Einrichtungen.
Hilf mit, so dass mehr Menschen Wasser als Segen erleben! Informationen zu unseren Wasser-Projekten unter www.partneraid.org
emergent-deutschland.de /ef12
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aber dazwischen solltest du
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