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John Stauber | Sheldon Rampton Giftmüll macht schlank | Medienprofis, Spin Doctors, PR-Wizards. Die Wahrheit über die Public-Relations-Industrie.
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John Stauber | Sheldon Rampton: GIFTMÜLL MACHT SCHLANK – Spin Doctors, PR-Wizards, Medienprofis. Die Wahrheit über die Public-Relations-Industrie. Freiburg: orange-press 2006
© Copyright für die deutsche Ausgabe 2006 bei orange Alle Rechte vorbehalten.
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Aus dem Amerikanischen von Pasch Ficelle und Rainer Höltschl. Lektorat: Dagmar Danko und Anne Wilcken Covergestaltung: Undine Löhfelm Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Die im Text angegebenen URLs verweisen auf Websites im Internet. Der Verlag ist weder verantwortlich für die dort verfügbaren Inhalte noch für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität der Informationen. ISBN 978-3-936086-28-7
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Freimut Duve | Vorwort Zur Freiheit der Journalisten gehört Verantwortung! John Stauber | Anmerkungen zur deutschen Ausgabe Kapitel I Bücherverbrennung – noch vor dem Druck Kapitel II Die Kunst der Überredung und die Wissenschaft der Propaganda Kapitel III Im Dienst der Tabakindustrie Kapitel IV Das Atom in Schwung bringen Kapitel V Gekaufte Spione Kapitel VI Teile und herrsche Kapitel VII Die Wurzeln vergiften Kapitel VIII Wenn uns der Klärschlamm um die Ohren fliegt Kapitel IX Der verstummte Frühling Kapitel X Die Lobby der Folterer Kapitel XI Das Schlechte an den guten Nachrichten Kapitel XII Den eigenen Hinterhof erobern Anhang A | Die Großen der PR-Branche Anhang B | Der Krisenplan von Clorox Anhang C | Empfohlene Literatur Anmerkungen
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Inhalt
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Kapitel II
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Die Kunst der Überredung und die Wissenschaft der Propaganda »Ein Staat ist zwangsläufig gefährlicher, wenn er nicht offen vom Volk regiert wird, sondern im Geheimen, von politischen Kräften, die man kaum kennt und versteht.« Andrej Sacharow 1836 begann die Karriere des legendären Schaustellers P.T. Barnum. Er kaufte eine alte Sklavin namens Joice Heth und präsentierte sie dem Publikum als »Kindermädchen von George Washington«. Joice Heth behauptete, sie sei 160 Jahre alt. Konnte das wirklich stimmen? Der Mann, von dem der Satz »Die Vollidioten sterben nie aus« stammt, entzündete darüber eine Diskussion in der Öffentlichkeit, indem er eine clevere Serie von gefälschten Briefen an die Herausgeber der New Yorker Zeitungen schickte. Einige der Briefe, die von Barnum selbst geschrieben und mit falschem Namen unterzeichnet waren, beschimpften ihn als Betrüger. Andere, ebenfalls aus seiner Feder, bezeichneten ihn als bedeutenden Mann, der der Öffentlichkeit einen großen Dienst erweise, indem er die »Mammy« von George Washington präsentierte. Tatsächlich gelang es ihm, durch die Briefe eine Debatte in Gang zu bringen. Joice Heth schaffte es in die Nachrichten und wurde zum Thema einiger Leitartikel. Menschen rückten in Scharen an, um sich selbst ein Bild zu machen und Barnum kassierte vom New Yorker Publikum, das die pfeiferauchende alte Negerin sehen wollte, etwa 1.500 Dollar pro Woche. Als Joice Heth starb, wurde eine Autopsie durchgeführt. Die Ärzte schätzten ihr wahres Alter auf ungefähr achtzig Jahre. Barnum meisterte die Situation wie ein echter PR-Profi. Er sagte, er sei schockiert zutiefst schockiert darüber, wie ihn diese Frau getäuscht habe.1 Barnum wusste, dass es für die Werbewirksamkeit »der größten Show der Welt« keine Rolle spielte, ob ihn die Leute für einen Schuft oder einen Heiligen hielten. Entscheidend war, dass die Zeitungen seinen Namen richtig buchstabierten und ihn oft genug erwähnten. Er war einer der Ersten, die Nachrichten aus Spaß und finanziellem Interesse manipulierten.
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Die 1830er-Jahre markierten mit dem Aufstieg von Billigblättern wie der New York Sun den Beginn dessen, was wir heute »Massenmedien« nennen. Aufgrund ihrer großen Auflage konnten diese Blätter so viel für Anzeigen verlangen, dass nicht mehr die Leser, sondern die Inserenten zu ihrer wichtigsten Einnahmequelle wurden. Dies verlieh den Anzeigekunden aber auch mehr Einfluss auf die Gestaltung der Nachrichten- und Kommentarseiten. Die Zeitungen boten zahlungskräftigen Werbekunden Kolumnen an, die sie mit Werbestorys füllen konnten – eine heute noch gängige, wenn auch meist geleugnete Praxis, besonders auf den Wirtschafts-, Ernährungs- und Automobilseiten der Zeitungen.2 Dieser Wandel setzte sich in den folgenden Jahren verschärft fort. James Melvin Lee schreibt in seiner Geschichte des amerikanischen Journalismus, es sei Ende des 19. Jahrhunderts durchaus möglich gewesen, »für einen höheren Preis beinahe jede Werbung getarnt als Nachricht zu inserieren. Manchmal wurden solche Notizen von Werbepartnern mit einem Stern gekennzeichnet, aber meistens gab es keinerlei Hinweis darauf, dass ein Artikel gekauft und kein normaler Teil der Berichterstattung war.«3 Durch bezahlte, als »Nachrichten« getarnte Artikel wollten Firmen die natürliche Skepsis gegenüber der Werbung umgehen. Damals wie heute wussten die Leser, dass Anzeigen »Propaganda« sind, und sie glaubten eine Geschichte eher, wenn sie von einem unabhängigen Reporter zu kommen schien.
Bevor die PR-Industrie existierte, beschäftigten Unternehmen »Presseagenten«, um die Zeitungen mit Anzeigen und sonstigem Werbematerial zu füttern. Viele frühe Presseagenten arbeiteten für Zirkustruppen, Broadwayshows und andere Teile der Unterhaltungsbranche. Oft kamen sie aus den Reihen unterbezahlter Reporter, die um jeden Preis mehr Geld verdienen wollten. Damit die Öffentlichkeitsarbeit ihrer Kunden wie geschmiert lief, versuchten sie es mit Einschmeicheln und natürlich mit viel Geld. Die Presseagenten waren meist schrille, intrigante, verzweifelte Typen, die nichts mit ihrem
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Leben anzufangen wussten, Überredungskünstler mit schlechtem Ruf, die dauernd auf der Suche nach Kunden waren und jeden um einen Gefallen baten.4 Will Irwin schrieb 1911, Presseagenten seien »die einzige Gruppe von Menschen, die stolz darauf ist, als Lügner bezeichnet zu werden.« 5 P.T. Barnum und die anderen frühen Presseagenten waren mehr darauf aus, Aufmerksamkeit für ihre Kunden zu erregen, und weniger daran interessiert, ein »Image« oder ein »Renommee« aufzubauen. Eisenbahngesellschaften, Energieversorger und große Unternehmen wie Standard Oil mussten erst noch merken, dass ihre Gewinne auch von ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit abhingen. Als ein Reporter vorschlug, die Eisenbahngesellschaft New York Central solle ihre Fahrpläne ändern, um den Bürgern entgegenzukommen, antwortete deren Präsident William Vanderbilt wütend: »Zum Teufel mit den Bürgern!« Seine Bemerkung sorgte für öffentlichen Aufruhr, und der Druck aus dem New Yorker Stadtrat zwang ihn, Teile seiner Eisenbahnaktien zu verkaufen.6 Zur Jahrhundertwende entstanden soziale Bewegungen gegen die Macht großer Unternehmen: die Grange-Bewegung, die Sozialistische Partei, die Greenbackers, die Populists and Progressives. Die Arbeiterbewegung wurde stärker, und radikale Anführer forderten ausgebeutete Bauern auf, für »weniger Mais, aber dafür mehr Krach zu sorgen«. Präsident Teddy Roosevelt prägte das Wort »Skandaljournalist«, für die steigende Zahl von Journalisten, die sich mit der Aufdeckung von Korruption in Wirtschaft und Politik beschäftigten.7 Die Zeitungen von William Randolph Hearst attackierten Privilegien, Monopole und die Macht einzelner Unternehmen, sowie die Ausplünderung durch Banken und Konzerne. Die »Zum-Teufel-mit-den-Bürgern«-Einstellung von »Räuber-Baronen« wie Vanderbilt brachte die öffentliche Meinung gegen die Eisenbahngesellschaften auf und führte dazu, dass der Kongress und die Parlamente der einzelnen Bundesstaaten zwischen 1908 und 1913 mehr als 2.000 Wirtschafts-Gesetze erließen.8 Ivy Lee war einer der ersten Berater, der das Image von Unternehmen aufpolierte. Scott Cutlip, ein Spezialist für die Geschichte der
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PR-Industrie, berichtet, Lee habe für die Erntemaschinenfirma J.P. Morgan’s International gearbeitet, um Anti-Trust-Aktionen zu verhindern. 1906 habe ihn die Pennsylvania-Eisenbahngesellschaft engagiert. So wurde er zu einem engen Mitarbeiter des Eisenbahnbosses E.H. Harriman.9 1914 wurde Lee Berater von John D. Rockefeller Jr. Die Rockefeller-Familie war in weiten Kreisen verhasst wegen der rücksichtslosen monopolistischen Geschäftsstrategie ihrer Firma Standard Oil. Über Lee wird erzählt (laut T.J. Ross, seinem ehemaligen Geschäftspartner, allerdings zu Unrecht), er habe John Sr. geraten, seinem Image des kalten, finsteren Tycoons eine sanftere Note zu verleihen, indem er bei jedem öffentlichen Auftritt ein paar Groschen an die Kinder verteilte.10 Lee erfand einen Bereich der PR, der heute als »Krisenmanagement« bekannt ist: dem Kunden dabei zu helfen, aus einer schlechten Situation das Beste herauszuholen, den Informationen den nötigen »Spin«, den richtigen Dreh zu geben. Als er für die Eisenbahn arbeitete, waren Unfälle an der Tagesordnung, und die Eisenbahngesellschaften versuchten normalerweise die Situation in den Griff zu bekommen, indem sie Informationen zurückhielten oder Bestechungsgeschenke, wie etwa Freifahrten, verteilten, um Unfallberichten und Schadensersatzansprüchen aus dem Weg zu gehen. Lee hatte jedoch vorher als Zeitungsreporter gearbeitet und wusste, dass diese Vorgehensweise in der Öffentlichkeit Verdächtigungen und üble Gerüchte schürte. Als Alternative schlug er eine »offene Informationspolitik« gegenüber der Presse vor. Kurz nachdem er seine Arbeit für die Pennsylvania Railroad begonnen hatte, passierte ein Unfall. Anstatt die Geschichte geheim zu halten, lud Lee die Reporter dazu ein, auf Kosten der Gesellschaft zum Schauplatz des Geschehens zu fahren und sie dort nach Kräften bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Mitarbeiter der Firma dachten zuerst, Lee sei verrückt geworden, aber sie änderten ihre Meinung, als sie merkten, dass sie mit dieser »offenen« Strategie eine deutlich positivere Berichterstattung bekamen als zuvor.11 Um für seine Strategie der Offenheit zu werben, verteilte Lee eine »Grundsatzerklärung« an alle Zeitungen, die noch heute gerne in PR-Lehrbüchern zitiert wird:
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»Das ist kein geheimes Pressebüro. Unsere Arbeit geschieht in aller Öffentlichkeit. Wir möchten Sie mit Nachrichten beliefern. Das ist keine Werbeagentur. Wenn Sie glauben, unser Material sollte besser an Ihre Wirtschaftsabteilung gehen, dann verwenden Sie es nicht. Unser Material ist exakt. Für weitere Details stehen wir jederzeit zur Verfügung, und wir helfen gerne allen Herausgebern dabei, die Faktenlage selbst zu überprüfen ... kurz, unser Anliegen besteht offen gesagt darin, Presse und Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten im Namen von Wirtschaftskonzernen und öffentlichen Einrichtungen mit schneller und präziser Information zu Themen von allgemeinem Wert und Interesse zu versorgen.«12 Laut Cutlip setzte Lee seine PR-Methoden nicht bloß ein, um unternehmerische Aktivitäten in ein »möglichst gutes Licht« zu rücken. Er verstand sich selbst als Berater, der die öffentliche Meinung studierte und Firmen dabei half, »ihr Geschäftsgebaren so zu gestalten«, dass »sie öffentliche Zustimmung erwarten konnten.« Sein Standardrezept lautete: »Bringen Sie Ihr Haus in Ordnung und reden Sie darüber.«13 In der Praxis jedoch, gesteht Cutlip, war diese auf offenen, gegenseitigen Austausch angelegte PR-Strategie beschränkt durch den Umstand, dass Lees Kunden in Angelegenheiten verwickelt waren, mit denen die Öffentlichkeit wahrscheinlich nie einverstanden gewesen wäre. So erhielt er von oben den Auftrag Rockefellers, nach dem brutalen, auf Zerschlagung der Gewerkschaft angelegten Vorgehen im Ludlow-Massaker, etwas gegen ihre schlechte Publicity zu unternehmen. Die Miliz von Colorado und der Firmenwachdienst hatten mit Maschinengewehren auf eine Zeltkolonie von streikenden Bergbauarbeitern gefeuert und dabei Frauen und Kinder getötet. Lee publizierte daraufhin eine Artikelserie unter dem Titel »Der Kampf um industrielle Freiheit in Colorado«, die die Position Rockefellers verteidigte. Ray Hiebert, der eine Biografie über Lee geschrieben hat, meint, »die meisten Artikel enthielten Material, das an der Oberfläche richtig war, aber die Fakten auf eine Weise präsentierte, dass sich ein falsches Gesamtbild ergab.«14
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Die gerade erst aus dem Ei geschlüpfte PR-Industrie erfuhr durch den Ersten Weltkrieg einen gewaltigen Auftrieb. Ivy Lee und viele andere PR-Pioniere engagierten sich in der Kampagne der US-Regierung zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung für eine Unterstützung des Krieges. Der von George Creel geleitete Ausschuss für öffentliche Information arbeitete mit Plakaten, Reklametafeln, Anzeigen, Ausstellungen, Broschüren und Zeitungen, um so für den »Krieg als Ende aller Kriege« zu werben – um »die Welt für die Demokratie zu gewinnen«. In ihrer Geschichte der Kriegsvorbereitungen mit dem Titel Die Mobilisierung des zivilen Amerikas beschreiben Harold Tobin und Percy Bidwell die Arbeit des Ausschusses als »die vielleicht wirkungsvollste großflächige Kriegspropaganda, die die Welt je erlebt hatte.« Der Ausschuss »bombardierte die Öffentlichkeit unablässig mit enthusiastischen Berichten über die kolossalen Kriegsanstrengungen des Landes und verglich unsere Kriegsziele und die unserer Verbündeten mit den Zielen der Mittelmächte. Abweichende Stimmen wurden zum Schweigen gebracht, entweder durch einen Deal mit der Presse oder durch überzeugende Maßnahmen von Agenten des Justizministeriums.«15 Der Ausschuss heuerte in den Städten 75.000 Führungspersönlichkeiten als »Vier-Minuten-Männer« an, die ihre Kriegsbotschaften in Kirchen, Theatern und Bürgerversammlungen unter die Leute brachten. Mithilfe des Werbeprogramms von Ivy Lee wuchs die Mitgliederzahl des Roten Kreuzes von 486.000 auf zwanzig Millionen, die bis zum Ende des Krieges 400 Millionen Dollar aufbrachten. Der Creel-Ausschuss nutzte außerdem die bewährte Taktik, die Kriegshysterie mit fantastischen Gräuelgeschichten über die bestialischen und barbarischen Feinde, in diesem Fall die Deutschen, anzuheizen.16 Der Krieg demonstrierte die Macht der Propaganda und verhalf den Mitgliedern des Creel-Ausschusses zu großem Ansehen. Als sie ins zivile Leben zurückkehrten, halfen sie tatkräftig, die Wirtschaft wieder aus einer Kriegs- in eine Friedensökonomie zu verwandeln. Die
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im Krieg erworbenen Publicity-Methoden wurden dabei weiter angewandt und verfeinert. Auch nach dem Krieg übernahm die Firma von Ivy Lee wieder die Verteidigung der Rockefellers, in einem Privatkrieg zwischen den Besitzern einer Kohlengrube und streikenden Bergleuten in West Virginia. Fast 400.000 Kumpel streikten, um gegen gefährliche Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und andere Missstände zu protestieren, wie die Bezahlung mit »Firmengutscheinen«, die nur in überteuerten Firmengeschäften eingetauscht werden konnten. Die Grubenverwaltung engagierte bewaffnete Detektive von Pinkerton, Präsident Warren G. Harding schickte Bundestruppen, der Gouverneur von West Virginia verhängte das Kriegsrecht. Der korrupte Sheriff des Bezirks Logan, Don Chafin, heuerte mit dem Geld der Grubenbesitzer »Hilfssheriffs« als Streikbrecher an. Bei den anschließenden Kämpfen wurden mindestens siebzig Arbeiter getötet. Lee bemühte sich, den Ruf der Kohlefirmen wieder aufzupolieren und veröffentlichte Artikel wie »Die Lampe des Bergmanns« und »Fakten rund um die Kohle«. Die Artikel brachten Geschichten, die die wohltätigen Werke der Minenbesitzer priesen, und »ein Porträt von Sheriff Don Chafin aus eigener Erfahrung«, das »ihn in einem für die Öffentlichkeit ganz neuen Licht erscheinen« ließ. Sie griffen die Methoden der Gewerkschaften an, ihre Organisation und die Erhebung von Gebühren, und sie behaupteten, die Firmenläden seien nur eingerichtet worden, um »die Ersparnisse der Minenarbeiter nicht zu gefährden.«17 Daneben war Ivy Lee der meistgefragte Berater für Firmen, die ihr öffentliches Erscheinungsbild aufmöbeln wollten. Viele Historiker und Experten halten Lee für den »Vater der PR«, einen Ehrentitel, den ihm wahrscheinlich niemand nehmen könnte, wenn sein Ansehen nicht kurz vor dem Ende seiner Karriere noch von einem Skandal überschattet worden wäre. 1933, kurz nach Hitlers Machtübernahme, begann Lees Firma für den deutschen IG Farben-Konzern zu arbeiten, um ihn bei der Verbesserung der deutsch-amerikanischen Beziehungen zu beraten, was ihm den Vorwurf einbrachte, er sei ein Nazi-Propagandist. Der New York Mirror brachte im Juli 1934 eine
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Geschichte mit der Überschrift: »Berater von Rockefeller führender Nazi«. Im November desselben Jahres, die dunklen Wolken des Skandals hatten sich noch nicht verzogen, starb Lee an einem Gehirntumor. Ein Nachruf in der Jewish Daily Forward bezeichnete ihn als »Agenten der Nazi-Regierung.«18
Nachdem Ivy Lee in Ungnade gefallen war, konnte ein anderer früher PR-Fachmann, Edward Bernays, für sich den Anspruch erheben, das Gebiet der PR begründet zu haben. In seiner Geschichte der PRIndustrie beschreibt Scott Cutlip Bernays als »die fantastischste und faszinierendste Gestalt der PR, ein Mann, der intelligent, dazu fast unerträglich redegewandt und vor allem ein innovativer Denker und Philosoph eines Berufes war, der noch in seinen Kinderschuhen steckte, als er sein Büro in New York im Juni 1919 eröffnete.« Das Renommee von Bernays beruht heute zum großen Teil auf den ununterbrochenen PR-Kampagnen, die er für sich selbst als »Amerikas Nummer eins in der Werbebranche« veranstaltete, und viele, die in der PR-Industrie einen ähnlichen Rang beanspruchen konnten, waren von Bernays’ dauernder Eigenwerbung angewidert. »Bernays war eine brillante Persönlichkeit,« schreibt Cutlip, »die eine spektakuläre Laufbahn hinlegte, aber, um ein altmodisches Wort zu gebrauchen: er war ein Angeber.«19 Der in Wien geborene Bernays war ein Neffe von Sigmund Freud, dem »Vater der Psychoanalyse«, und seine PR-Aktivitäten trugen mit dazu bei, Freuds Theorien in den Vereinigten Staaten populär zu machen. Bernays leistete auch bahnbrechende Arbeit beim Gebrauch anderer Sozialwissenschaften in der PR-Industrie und bei der Umsetzung von Werbekampagnen. »Wenn wir die Mechanismen und Motive des Denkens innerhalb einer Gruppe verstehen, ist es auch möglich, die Massen nach unserem Willen zu organisieren und zu kontrollieren, ohne dass sie es merken«, behauptete Bernays.20 Er bezeichnete diese Technik der Meinungsformung als »wissenschaftliche Herstellung von Konsens«.21
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Bernays und die »wissenschaftliche Herstellung von Konsens«
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Eine seiner beliebtesten Techniken zur Manipulation der öffentlichen Meinung war die indirekte Nutzung von »unabhängigen Experten«, die sich für die Interessen seiner Kunden einsetzten. »Wenn man die Führungspersönlichkeiten beeinflussen kann, egal ob sie davon wissen oder nicht, beeinflusst man automatisch auch die Gruppe, die sie dominieren«, erklärte er. Um zum Beispiel für den Verkauf von Schinken zu werben, ließ er eine Umfrage unter Ärzten durchführen und verbreitete ihre Empfehlung, die Leute sollten ein herzhaftes Frühstück zu sich nehmen. Er schickte die Resultate der Umfrage an 5.000 Ärzte und begann gleichzeitig eine Werbeaktion für Schinken und Ei als herzhaftes Frühstück.22 Zu seinen Kunden gehörten Präsident Calvin Coolidge, Procter & Gamble, CBS, General Electric und Dodge Motors. Neben seiner Arbeit für diese berühmten und mächtigen Kunden revolutionierte Bernays die PR durch die Verbindung der traditionellen Presseagentur mit Techniken aus Psychologie und Soziologie, um daraus etwas zu schaffen, was ein Autor »die Wissenschaft des Ballyhoo«, des Marktschreiens, nannte.23 »Wenn jemand Bernays zum ersten Mal begegnete«, so Cutlip, »dann dauerte es nicht lange und Onkel Sigmund wurde ins Gespräch gebracht. Seine Beziehung zu Freud spielte in seinem Denken und seiner Tätigkeit als PR-Berater immer eine entscheidende Rolle.« Ein anderer Autor, Irwin Ross, meint, Bernays habe sich »als eine Art Psychoanalytiker für in Schwierigkeiten geratene Unternehmen gesehen.« In den frühen Zwanzigerjahren veranlasste Bernays für den USMarkt die englische Übersetzung von Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Zum einen propagierte er Freuds Ideen, er nutzte aber auch seine Verbindung zu Freud, um sich selbst einen Namen als Denker und Theoretiker zu machen – einen Namen, dessen Ansehen noch einmal wuchs, als Bernays selbst einige Bücher veröffentlichte, die zu Klassikern wurden, vor allem Crystallizing Public Opinion und Propaganda.24 Bernays definierte seine Arbeit als »angewandte Sozialwissenschaft« eines »PR-Beraters«, dessen »Kompetenz der eines Industrietechnikers, eines Management- oder Anlageberaters ähnelt.« 25 Für die Unterstützung ihrer Kunden würden PR-Berater das »Wissen verschie-
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dener Arten von Verhaltensforschung« anwenden – »Soziologie, Sozialpsychologie, Anthropologie, Geschichte, etc.«26 Diese Definition von PR war Welten entfernt von den alten Zeiten der Presseagenten und den Reklamezetteln im Zirkus. In Propaganda, seinem wichtigsten Buch, behauptet Bernays, dass die wissenschaftliche Manipulation der öffentlichen Meinung nötig sei, um Chaos und Konflikte in der Gesellschaft zu überwinden: »Die bewusste und intelligente Manipulation der alltäglichen Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in einer demokratischen Gesellschaft. Die Leute, die jene verborgenen Gesellschaftsmechanismen manipulieren, bilden eine unsichtbare Regierung, die in Wahrheit herrschende Macht in unserem Land. (...) Wir werden überwiegend von Menschen regiert, von denen wir nie etwas gehört haben, sie formen unser Denken, prägen unseren Geschmack und flüstern uns Ideen ein. Das ist eine logische Folge der Organisation unserer demokratischen Gesellschaft. Riesige Menschenmengen können nur auf diese Weise zusammenwirken, wenn sie in einer reibungslos funktionierenden Gesellschaft zusammen leben sollen. (...) Bei fast jeder Handlung in unserem Leben, ob in Politik oder Wirtschaft, im Sozialverhalten und bei ethischen Überlegungen, werden wir von einer relativ kleinen Personengruppe beherrscht ... die über die mentalen Abläufe und sozialen Verhaltensmuster der Massen Bescheid weiß. Sie ziehen die Fäden, die das öffentliche Denken bestimmen.«27 Verglichen mit Ivy Lees Behauptung »Unsere Arbeit geschieht in aller Öffentlichkeit«, sprach Bernays, was den geheimen manipulierenden Charakter der PR-Arbeit angeht, bemerkenswert unverfroren Klartext. Mit seiner Verherrlichung der Propaganda konnte man PR zwar besser definieren, nicht aber Sympathien für die Industrie gewinnen. In einem Brief an Präsident Franklin Roosevelt beschrieb Felix Frankfurter, Richter am Supreme Court, Bernays und Lee als Typen, die »professionell das Denken der Öffentlichkeit vergiften und Dummheit, Fanatismus und Selbstsucht ausbeuten.«28 Die Geschichte schließlich führte vor Augen, warum Bernays’ Behauptung, die »Manipulation der Massen« sei ganz natürlich und sogar nötig in einer
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demokratischen Gesellschaft, nicht ganz stimmen konnte. Der Aufstieg der Faschisten in Deutschland demonstrierte, dass Propaganda nicht nur zur »Lösung von Konflikten«, sondern auch zur Aushöhlung der Demokratie benutzt werden konnte. In seiner Autobiografie erinnert sich Bernays an ein Abendessen bei sich zu Hause im Jahr 1933, bei dem »Karl von Weigand, Auslandskorrespondent der Hearst-Presse, ein intimer Kenner Europas und gerade zurück aus Deutschland, uns über Goebbels erzählte, und was er zur Konsolidierung der Nazi-Herrschaft alles plante. Goebbels hatte Weigand seine Propaganda-Bibliothek gezeigt, die beste, die Weigand je gesehen hatte. Goebbels, so Weigand, benutzte mein Buch Crystallizing Public Opinion als Grundlage für seinen Vernichtungsfeldzug gegen die deutschen Juden. Das war ein Schock für mich. (...) Das Vorgehen gegen die Juden in Deutschland erwuchs bei den Nazis offenbar nicht aus emotionalen Gründen, sondern war eine wohlüberlegte, gezielte Kampagne.«29
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Im Dienst der Tabakindustrie »Ich sage Ihnen, warum ich das Geschäft mit Zigaretten so mag. Die Herstellung kostet fast nichts, aber die Gewinne sind gewaltig. Zigaretten machen süchtig. Und die Bindung an die Marke ist fantastisch.« Warren Buffet, ehemaliger Hauptaktionär der Tabakfirma R. J. Reynolds Einer der ersten großen Kunden der PR-Industrie war die Tabakbranche. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nutzten die Tabakfirmen das psychologische Marketing der PR, um zuerst Frauen und später Kinder von ihrer Droge abhängig zu machen. Edward Bernays, Ivy Lee und John Hill arbeiteten alle in der PR für Tabak und entwickelten Techniken, die noch heute zum festen Repertoire der PR-Branche gehören: »Unabhängige« Experten, unterschwellige Botschaften, wissenschaftlicher Schrott, »unabhängige« selbstfinanzierte Interessengruppen, unterstützende Werbung und der Kauf von positiven Berichten in den Nachrichten aus den Mitteln des Werbeetats. Vor dem Ersten Weltkrieg galt das Rauchen von Zigaretten als unfein für Frauen und als verweichlicht für Männer, die sich entweder an Zigarren oder Kautabak zu halten hatten. Im Krieg wurden Zigaretten für Männer modern, und in den stürmischen Zwanzigern nutzte die American Tobacco Company für ihre Marke Lucky Strike die PR, um einen riesigen neuen Markt zu erschließen – die amerikanischen Frauen. Die Firma stellte zuerst einen Reklamefachmann ein, A.D. Lasker, der die Lucky Strike als gesunde Zigarette vermarktete: Lasker mixte Umfragen mit gefälschten Daten und behauptete, die Lucky sei laut Urteil der Ärzte die »verträglichste« Marke. Dazu entwickelte er eine Werbekampagne mit weiblichen Opernstars aus der New Yorker Met, die mit ihren vom Rauchen völlig unbeeinträchtigten Sopranstimmen treuherzig versicherten »Zigaretten sind gut für ihren Hals« und »Ich schütze meine wertvolle Stimme mit Lucky Strikes«.1 Edward Bernays wurde von Liggett & Myers angeheuert, dem Produzenten der Marke Chesterfield. Um die Konkurrenz bei American Tobacco durch den Kakao zu ziehen, gründete er eine Organisation
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