HANT - Magazin für Fotografie – Ausgabe 08 »DAS WEISSE RAUSCHEN«

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Ausgabe 08: Da s we i Ã&#x;e R ausc hen


Index Tom Callemin, fortlaufend


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wir bitten um Entschuldigung für das

Editorial

Liebe Lesende,

Schwarze Loch, in das ihr unversehens beim Anblick der ersten Seiten gefallen seid. Zu Recht haben sich einige von euch nach diesem uncharmanten, dunklen, Gedanken aufsaugenden Einstieg gedacht: Das kann doch nicht euer Ernst sein! Wo bleibt die hellauf begeisternde Berauschtheit?

I. In diesem Falle raten wir dringend zur Einnahme der neuen somaähnlichen Droge, die uns Psychoanalytikerin Sommering empfiehlt (Krämer, S. 42). Diese soll bei Einnahme die Gleichzeitigkeit aller Gefühle hervorrufen und verursacht damit ein emotionales weißes Rauschen. Das haben wir auch nötig, strebt die Natur doch, dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik folgend, die größtmögliche Unordnung an. Wo die Welt zwangsläufig an Struktur verliert, zerfällt sie in Chaos und informationsloses Rauschen, erklärt uns Oxen (S. 75).

A. Wir finden uns in einer undurchsichtigen Welt wieder, verlieren uns im gleichförmigen Strom austauschbarer Gebäude, egal ob leere Plattenbauwohnungen (Bohnhof / Weinert, S. 88) in Ostdeutschland oder — dank Globalisierung und Kolonialisierung — auswechselbare und verschmelzende Straßenzüge von Paris bis Neu-Delhi (Rosenkranz, S. 82). In dem Spiel des Lebens, dem Kreislauf aus Geburt, Werden und der ewigen Auseinandersetzung mit dem Ende (Pank, S. 32), sind wir eher damit beschäftigt, zu verbergen als zu zeigen (Brauer, S. 12), zu normieren als zu genießen (Müller, S. 49). Bilder helfen uns dabei, unbekannte Welten aufzuschließen, neue Geschichten und menschliche Abgründe zu thematisieren.

II. In dem Streben nach größtmöglicher Unordnung folgt diese Welt einem ordnungslosen Prinzip, welches es ziemlich unwahrscheinlich macht, dass konkrete Informationen aus dem gleich verteilten Rauschen heraustreten und in eine visuelle Form diffundieren. Obgleich ihre Werdung vom Akt hoher Zufälligkeit zeugt, sind Bilder gleichermaßen als Träger und Inhalt von Informationen wichtiger Ankerpunkt für unsere Erfassung der Welt. Im Pool aller gleichzeitig möglichen Bilder eines zu aktualisieren, sprichwörtlich zu schießen und damit für immer in eine Form zu geben, grenzt dabei fast an ein Wunder.

B. Diese latenten Bilder werden in chemischen Verfahren von der Dunkelheit ans Licht gebracht. Die Dunkelkammer, als Raum der Transzendenz, erweckt in alchemistischen Ritualen Tote wieder zum Leben (Gehring, S. 62) und wird somit zum Medium der Unendlichkeit. Weißes Rauschen geistert in der Zeit, die sich überlagert, gleichzeitig alles und nichts ist. Wie Geister spuken wir in den Filmstreifen unserer Vergangenheit, die unsere eigenen Erinnerungen (er)setzen (Systermans, S. 92). Aber was transportiert der Film, wenn Inhalt oder Medium einander bedingen und entweder als transparente Oberfläche funktionieren und / oder opak ihre materielle Bildoberfläche zeigen? 06


Bilder sind wohl weniger Abdruck der Wirklichkeit denn Masken, die eher auf den Schatten als das Licht verweisen: »In diesen dunklen Doppelgängern kommt das Unsichtbare, Ungesehene, das Optisch-Unbewusste auf geheimnisvolle Weise zum Vorschein« (Peschke, S. 72). Wenn diese Bildermasken gleichviel verhüllen, wie sie bloß legen, erzählen sie uns eher von ihrer janusähnlichen doppelten Identität. Ist die Reflexionskette am kollabieren, scheint der Befreiungsschlag gegen den kreativen Druck die Verbrennung der eigenen Bilder zu sein (Gotowała, S. 36).

III. Dabei trägt die Fotografie, als ziemlich unwahrscheinliche Reinkarnation von Information, sichtbar durch ihre Materialität oder den Inhalt, eben dieses Rauschen mit sich — quasi als Quellcode, Seinsbedingung, die uns dabei hilft, dem gewahr zu werden. Dabei ist das weiße Rauschen meist der ungeliebte Dritte, der ungebetene Gast, der Parasit (Keck, S. 10): Als Quelle der Störung ist er es, der im Kanal zwischen Sender und Empfänger sitzt und als Vermittler das Bild erst ermöglicht.

C. In der Vergangenheit war das weiße Rauschen in der Fotografie, sichtbar als blinde Flecken, keineswegs Zeichen der Unzulänglichkeit des Mediums. Vielmehr war es Ausdruck der Überlegenheit immer genauer werdender Technik, die in kürzeren Abständen Bilder machen konnte, welche sich irgendwann überlagerten und zu einer Gleichzeitigkeit von allem und nichts führten. Sie war Beweismittel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die Zeit in ihrer Undarstellbarkeit darstellbar machte (Keck, S. 10). Zeitgenössische Reaktionen auf das weiße Rauschen reflektieren die Störungen und suchen nach einer Ästhetik, um den Parasiten sichtbar zu machen. Solche Effekte, die durch Fehler im Datenstrom von Systemen erzeugt werden, sind für eine neue Bewegung kein störender Defekt, sondern Kunst. Hierbei geht es um den künstlerischen Missbrauch visueller Informationen in Dateien (Gutschmidt, S. 58). Diese neue Destruktion ist durchaus produktiv, wie das Beispiel der Hotpixels zeigt (Doeller, S. 08). Hotpixels als Selbstporträt des Kamerasensors bringen die Bildwelten wieder an ihren Ursprungsort: ins Innere der Apparate, ins Herz des Parasiten, in die Welt des weißen Rauschens.

Sich seiner gewahr zu werden, die Störung sichtbar zu machen, das weiße Rauschen bewusst einzusetzen — war Vergangenheit, ist Gegenwart und wird die Zukunft der Fotografie sein. Insofern, liebe Leserinnen und Leser, seid ihr bereit euch berauschen zu lassen?

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0730331879_Ue2 Auswahl, Christian Doeller, 2014

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Hotpixel entstehen durch elektronische Fehlfunktionen des Kamerasensors und äußern sich durch Ansammlungen von roten, grünen, blauen oder weißen Pixeln, die sich zufällig über den gesamten Bildraum verteilen. In dem Projekt »0730331879« werden diese Fehlfunktionen zum Ausgangspunkt einer ästhetischen Untersuchung. Das Experimentieren mit unterschiedlichen fotografischen Parametern erzeugt Bildwelten, die allein im Innern der Kamera entstehen. Auf diese Weise formuliert sich durch jedes Bild der Untersuchung gewissermaßen ein Selbstporträt des Kamerasensors.

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Rushing Horses ­­– Zur Un-  /  Überdeutlichkeit in der Chronophotographie Mareys

Linda Keck

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Movements of a White Horse (1885-1886), Étienne-Jules Marey, Collège de France, aus: Doane, Mary Ann: The Emergence of Cinematic Time. Modernity, Contingency, the Archive. Cambridge 2002, S. 53.


Weißes Rauschen ist alles, was von einer Reihe von Photographien und Anstrengungen übriggeblieben ist, die der französische Physiologe Étienne-Jules Marey (1830 – 1904) im Rahmen wissenschaftlicher Experimente hervor- bzw. aufbrachte. Sein Untersuchungsgegenstand war nichts Geringeres als die Bewegung, seine Technik, sie einzufangen: die Chronophotographie – die Photographie von Zeit, wie er sie treffend nannte. 1 Diese nämlich maß sich an, mittels der minutiösen Aufzeichnung von Bewegung die Zeit als solche zu Bilde zu bringen, oder genauer gesagt: sie in ihrer Objektivität überhaupt erst sichtbar zu machen. Zur Seite stand Marey die Fähigkeit der Photographie zu enthüllen, was dem bloßen Auge verschlossen blieb. So sollten die im Abstand von Sekundenbruchteilen geschossenen Photographien es nicht nur ermöglichen, die Bewegung in einzelne Schritte zu zerlegen, sondern zugleich die Zeit in ihrer Vollkommenheit darzustellen. Schließlich waren diese um die Jahrhundertwende überhandnehmenden Bewegungsstudien symptomatisch für eine Zeit, in der das Leben zunehmend undurchdringlicher wurde und sich der moderne Mensch, reizüberflutet von den Eindrücken, die unablässig auf ihn einprasselten, gezwungen sah, das Dickicht zu entwirren und Klarsicht zu gewinnen. Zeit zu photographieren hieß für Marey also in erster Linie, sie störungsfrei wiederzugeben. Doch wider Erwarten lieferte die immer differenzierter werdende Darstellung nicht mehr Informationen, sondern weniger denn je. Offensichtlich rief die serielle Photographie, die ursprünglich als Verfahren der Sichtbarmachung herangezogen wurde, das Gegenteil hervor: Das Bild verschwand im Kern. Anstelle des eigentlichen Referenten, der sich in der Substanz des Mediums aufzulösen drohte, beglaubigte die Photographie nunmehr seine Abwesenheit. Flüchtige Umrisse, Hufe, wie sie im ständigen Wechsel mit den grazilen Beinen, die zum Galopp ansetzen, Fuß fassen, verschwimmen zu einem diffusen weißen Fleck, der flimmerartig das gesamte Bildfeld wie eine Wolkendecke überzieht. Hier verbirgt sich nicht der Bildträger hinter seinem Abbild, sondern umgekehrt tritt das Repräsentierte zurück, während die Repräsentation selbst zum Vorschein kommt. Vergeblich hält man Ausschau nach der vielfach beschworenen reinen Repräsentation der Zeit, die sich der Sichtbarkeit entzieht.

Was stattdessen sichtbar wird, ist bloßes Rauschen, Störsignale, nichts weiter. 2 Die Chronophotographien zeugen allein von der Tatsache, dass all die Bestrebungen, eine objektive und lesbare Aufzeichnung der Zeit zu leisten, notwendigerweise zum Scheitern verurteilt sind. Selbst die präziseste Abbildung macht in ihrer Überfülle an Details lediglich eines deutlich: Zeit ist nur in ihrer Undarstellbarkeit darstellbar. Nur eine Spur lässt vage erahnen, was sich einst vor der Linse zutrug, ganz sicher kann man sich allerdings nicht sein. Denn wenn etwas rauscht, gibt es keine Klarheit. Klar ist nur, dass das Rauschen von einem Mangel zeugt und darum beseitigt werden will. Als Quelle der Störung („noise source“), welche die Übertragung der Botschaft, die sich im Kanal zwischen Sender und Empfänger abspielt, unvermeidbar unterbricht, wurde es bereits in der Informationstheorie der 1940er Jahre aufgefasst. 3 Allerdings blieb das Phänomen nicht auf die Nachrichtentechnik beschränkt. Schon bald sollte sich das Rauschen in Gestalt des Parasiten auch in die Welt der Medien einnisten. Der Parasit, wie ihn der Philosoph Michel Serres vom französischen „bruit parasite“ ableitet, vereine Rauschen und Schmarotzer in einem Wort, er sei „ein Gast, der die Gastfreundschaft missbraucht, ein unvermeidliches Tier und die Störung einer Nachricht.“ 4 Serres geht noch einen Schritt weiter, wenn er ausführt, dass dieser die Kommunikation nicht nur heimsuche, sondern allererst ermögliche. Ohne jenen Dritten, dessen Position das Dazwischen ist, gäbe es schlichtweg keine Kommunikation: „Kein System, ohne Parasit.“ 5 Auch bei Friedrich A. Kittler ist „dieser unaufhörliche und unaufhebbare Hintergrund von Information“ Fundament, oder wie er in Anschluss an Jacques Lacans Psychoanalyse deutet: „das unmögliche Reale am Grund aller Medien: weißes Rauschen, Ur-Geräusch.“ 6 Das Spezifische des Rauschens in Mareys Chronophotographien liegt deswegen gerade nicht in der Unzulänglichkeit des Mediums begründet, sondern ist im Gegenteil der Effekt seines Überschusses. Dass die Bewegung dermaßen unklar daherkommt, ist kurzum weniger der photographischen Undeutlichkeit als vielmehr ihrer Überdeutlichkeit geschuldet. Indem die Techniken ständig perfektioniert, die Intervalle zwischen den Aufnahmen verringert bzw. die Anzahl der Aufnahmen gesteigert wurden, verwischten die Positionen zu einem unver11

ständlichen Bewegungseindruck. Derart ineinander geblendet scheint es, als wolle sich der Galopp des Pferdes in der Reihe von Momentaufnahmen unaufhörlich fortsetzen. Man könnte sagen, das Pferd befinde sich wortwörtlich auf dem Sprung zum bewegten Bild, denn durch die (zu) hohe Frequenz entsteht eine fast schon kinematographische Bildfolge – der Film avant la lettre. Wenngleich all das Flimmern und Flackern vom Ende einer überholten Technik künden mag, ist es bei Weitem nicht nur destruktiv, sondern durchaus produktiv. Oder mit Serres gesprochen: „ … so ist das Rauschen der Sturz in die Unordnung, ist es der Anfang einer neuen Ordnung.“ 7

1

Die Chronophotographie bezeichnet im Wesentlichen die schnelle Folge photographischer Aufnahmen, die vor allem darauf abzielte, Bewegungsabläufe sichtbar zu machen. Im Anschluss an Muybridge, der mit mehreren, in einer Reihe aufgestellten Apparaten die Serienphotographie begründet hat, entwickelte Marey 1882 den sogenannten Chronophotographen, durch den die einzelnen Phasen eines Bewegungsablaufs erstmals auf einer einzigen Photoplatte fixiert werden konnten. Vgl. Marta Braun (1992): Picturing Time. The Work of Étienne-Jules Marey (1830 — 1904). Chicago: University of Chicago press.

2

Ein Kompendium von Stör-Fällen findet sich in Kümmel, Albert & Erhard Schüttpelz (2003) (Hg.): Signale der Störung. München: Fink Verlag.

3

Siehe das Kommunikationsmodell von Claude E. Shannon: A Mathematical Theory of Communication, in: The Bell System Technical Journal 27, 1948, S. 381.

4

Vgl. Serres, Michel (1981) : Der Parasit. Frankfurt am Main, S. 20.

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Ebd., S. 26.

6

Kittler, Friedrich (2003): Aufschreibesysteme 1800 / 1900, München: Fink Verlag, S. 322 f.

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Serres (1981): S. 121.


This is the worst party I’ve ever been to. Auswahl, M. Scott Brauer, 2015 — 2016

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Last-minute decorations, ill-fitting suits, bad food, too many cameras, the guest of honor is always late; the events are either too crowded or no one shows up, half the people are wearing khaki, everyone wants to talk about politics and religion ... The New Hampshire presidential primary is the worst party you can imagine. And it goes on for months.


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Also entscheide ich mich und verlasse mein Schloss, weil ich nicht länger durch den Fernseher beobachten kann, wie es draußen Winter wird und wie die Welt versucht, nicht kaputt zu gehen.

Florian Zach

Wintereinbruch

Während die Welt versuchte nicht kaputt zu gehen, habe ich mich dazu entschieden, mein Schloss zu verlassen, obwohl es draußen inzwischen Winter geworden war. Das Bedrohliche an diesem Winter ist, dass ich nicht weiß, ob er überhaupt noch enden wird. Und dann frage ich mich, was ich jetzt noch tun kann. Weil eben Winter ist und er tatsächlich nicht endet. Und weil dieser Winter den Menschen Kugeln in den Schädel jagt. Während sie in Cafés sitzen, Architektur angucken oder einfach nur falsch sind. Weil sie in einen Zug steigen oder am Flughafen auf ihre Rückflüge warten. Dabei sind sie einfach nur falsch und wissen gar nicht so recht was geschieht, wenn es plötzlich Winter wird. Das alles bedroht mich also. Deswegen sitze ich in meinem Schloss und beobachte durch den Fernseher, wie es draußen langsam Winter wird und die Welt versucht nicht kaputt zu gehen. Und weil es so viel einfacher ist, im Schloss zu sitzen, die Dinge zu beobachten und darauf zu hoffen, dass der Winter vorübergeht. Während sich vor den Fenstern der Himmel übergibt. Und dann frage ich mich eben, was ich jetzt noch tun kann. Weil es Winter ist. Und dieser Winter vergessen macht, dass gerade die Wiesenblumen blühen oder der Domplatz noch immer golden ist. Dass ich immer noch atme und eben noch diese süße Limonade getrunken hatte. Dann gebe ich zu, dass ich das alles nicht aufgeben will.

Und weil ich in meinem Schloss zwar sicher, aber nicht hilfreich bin. Weil wir wirklich alle brauchen, wenn es so einen langen Winter hat. Während die Welt versucht nicht kaputt zu gehen, verlasse ich mein Schloss und beginne damit, den Schnee zu schippen.


Blank Auswahl, Andreas Gefeller, seit 2010

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Chaussee '16 (Müller) Sebastian van Vugt

I. die wellen sind stehengeblieben und auf halbmast das schiff die tage des sturms brachen heran, die sonnenstrahlen und so manchen das genick. heute ist es ruhig. alles steht und der wind ist eine wolkenwand. über die straßen trotten nur hunde, die menschen vergangen. der starre blick durch den eigenen abgrund und das rauschen in den ohren, ein letzter hall. so enden die zeiten, gleich neue entstehen. vier uhr dreißig.

II. noch mehr blätter, die in sechs monaten auf dem boden liegen. gezeichnet von den gezeiten. die zeichen der zeit erkannt. so bricht das jahr auf und du vor die kloschüssel und an den rand. keine scheibe ein oval aus gestein oder plastik – mit aquarienoptik. schnitt. am hals platzt der schweiß aus den poren und offenbart den ethanolgeschmack der letzten nacht als geruch. fünf uhr zehn.

III. das gehört zum guten ton, gleich von der güte der ersten nacht zu sprechen. gerede im nebenzimmer, unterhaltungskonsum. lachen am nachbartisch. nein, wir haben uns nie geliebt. doch friede den hütten, krieg den terroristen. heute wie gestern haben wir nichts gelernt, aber was gelebt. ja, was denn? die aktienkurse fallen, sie steigen wie das öl aus den raffinerien und der zucker karamelisiert auf den glasigen zwiebeln zu harz. sechs uhr dreiunddreißig.

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Buy. Sell. Love. Michael Paul Romstรถck, 2016

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Die Rollen der Menschen verändern sich. Mit der Globalisierung werden Prozesse rationalisiert. In einer amazonisierten Welt frage ich mich: Wo ist der Mensch?


Über den Wolken Moritz Hartmann

1

Morin, Edgar (1958): Kino und Flugzeug. In: ders.: Der Mensch und das Kino. Stuttgart: Ernst Klett, S. 9 — 16, hier: S. 9.

2

Ebd., S. 10.

3

Vgl. Augé, Marc (2010): Nicht-Orte. München: Beck, S. 83.

4

Ebd., S. 90.

5

Ebd., S. 111.

6

Morin, a.a.O., S. 9.

7

Foucault, Michel (2006): Von anderen Räumen. In: Dünne, Jörg & Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt: Suhrkamp, S. 317 — 329, hier: S. 320.

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Vgl. ebd.


Während das Flugzeug abhebt, ich sanft in den Sitz gedrückt werde und sich ein leises Knacken in meinen Gehörgängen bemerkbar macht, blicke ich aus dem Fenster und sehe dabei zu, wie die Stadt unter mir immer kleiner wird. Ich verfolge den Verlauf des Flusses, der die zu einer einheitlichen Fläche verschmolzenen Dächer der Stadt in zwei Teile teilt, ich glaube das höchste Gebäude der Stadt zu sehen, das auf meinen täglichen Wegen durch die Stadt immer wieder zwischen den Häuserschluchten hervorlugt. Und ich sehe den großen Stadtpark mit seinen Wiesen, Wäldern und Teichen. Wir stoßen weiter gen Himmel vor und sind nun den Wolken nahe, das Licht der Sonne strömt durch die ovalen Fenster und das Blaue vom Himmel leuchtet mir entgegen. Das Flugzeug habe dem Menschen einen kindlichen Traum erfüllt, schreibt Edgar Morin. Vor der Erfindung des Flugzeugs „hatten allein die Geschöpfe seiner Einbildungskraft, seines Wunschtraumes, hatten allein die Engel Flügel.“ 1

Der Mensch träumte davon, alles von oben zu betrachten, mit den Füßen nicht mehr auf dem Boden zu stehen, den Blick in die Ferne gerichtet. Von hier oben wirkt alles so klein, so unwichtig. Federleicht scheinen wir gerade durch die Lüfte zu schweben. Doch eigentlich rast diese tonnenschwere Aluminiumröhre mit ohrenbetäubendem Lärm durch die Atmosphäre und hinterlässt Unmengen an Schadstoffen. Und es könnten jederzeit Turbulenzen auftreten, deswegen muss der Sicherheitsgurt während des gesamten Fluges angelegt bleiben, werden wir gerade über eine Lautsprecherdurchsage erinnert. Auf dem Gang herrscht nun hektisches Treiben, die Flugbegleiterinnen schenken Getränke aus und verteilen das Menü.

Das Bordentertainment beginnt. Man kann aus mehreren Filmen auswählen. Niemand interessiert sich hier oben für das Azurblau des Himmels, für die quadratischen Felder unter uns, für den

unglaublichen Fakt, dass wir gerade fliegen. Den Blick nach vorne gerichtet, wo die Hollywood-Bespaßung gerade begonnen hat, mampfen wir Flugreisenden stattdessen abgepackten Fertigfraß. Dem Traum des Fliegens ist die schiere Praktikabilität gewichen, der schnellen Überwindung von Entfernungen, dem schnellen Ankommen, der Reduktion des Weges auf ein Minimum, der Zerlegung der Reise in Start und Landung mit einem Becher Tomatensaft dazwischen. „Das Flugzeug, dieses Hobby von Träumern, dieses Spielzeug von Wolkenschiffern“, beklagt Morin, „ließ sich durch seine Nutzanwendung assimilieren und wurde zum dienenden Werkzeug für Reise, Handel und Krieg.“ 2

Vom Traum des Fliegens ist nichts mehr übrig geblieben. Er wurde perfekt in die Praktiken und Konventionen der modernen Welt eingegliedert. Flugzeuge und Flughäfen, aber auch Shoppingmalls, Krankenhäuser und Bahnhöfe, hat Marc Augé als Nicht-Orte bezeichnet, also Räume ohne Identität, ohne Geschichte, ohne Relation. 3 „Der Raum des Reisenden wäre also der Archetypus des Nicht-Ortes“ 4, schreibt er. In all diesen Räumen geht es zuallererst um die Praktikabilität, um Effizienz, um Schnelligkeit. Träumen passt nicht ins Programm. Besonders beim Fliegen wird alles dafür getan, dass bloß niemand beginnt, zu träumen: Die Allgegenwärtigkeit der Gefahr wird hier besonders betont. Die Sicherheitskontrollen beginnen gleich schon am Flughafen, dort hängen Listen aus mit Gegenständen, die nicht mit ins Flugzeug genommen werden dürfen; im Flugzeug geht es weiter: Bitte nicht rauchen, bitte schalten Sie Ihr Handy während des Starts aus, schnallen Sie sich an; die Crew zeigt die Notausgänge und erläutert, wie die Schwimmwesten funktionieren. Niemand kann träumen, wenn andauernd eine Gefahr lauert und beim Fliegen wird anscheinend alles dafür getan, dass man nicht vergisst, wie unglaublich gefährlich es ist, was wir hier ge-

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rade tun. Auch Marc Augé versäumt nicht, darauf hinzuweisen, „[d]ass Flughäfen und Flugzeuge, Einkaufszentren und Bahnhöfe besonders häufig zum Ziel terroristischer Anschläge gemacht werden“ 5.

Das Träumen soll im Flugzeug in begrenzten Bahnen gehalten werden. Unsere Träume im Flugzeug sollen auf eine rechteckige Leinwand passen oder in einen kleinen Monitor, eingelassen in die Lehnen von Flugzeugsitzen. Die Träume in luftiger Höhe sollen nicht von uns Flugreisenden produziert werden, sondern von einer Filmmaschinerie, von der sogenannten Traumfabrik. Der Blick des Flugreisenden wird nicht gen Himmel gerichtet, nicht in die Sterne oder in die Sonne, sondern auf ein Filmspektakel, abgepackt in 90-Minuten-Portiönchen.

Statt von der Freiheit zu träumen, sehen wir die Leinwand, die „die irdische Wirklichkeit unmittelbar [...] spiegel[t]“ 6 und die vom Leben auf der Erde erzählt. Das Flugzeug lässt uns also nicht selbst träumen, sondern pflanzt uns Träume ein, die von der Erde mitgenommen werden und die von ihr produziert wurden. Für Michel Foucault ist das Kino eine Heterotopie. Heterotopien sind Orte, „die in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten stehen“ 7. Sie wurden von den Institutionen der Gesellschaft hervorgebracht und sind gewissermaßen reale Utopien. 8 Doch anders als die Utopie kann sich die Heterotopie nicht von der Erde lösen, nicht von den Praktiken, nicht von unserem Alltag, der uns durchdringt, nicht von den Strukturen der Gesellschaft.

Das wirkliche Träumen ist nur ohne all das möglich, weit weg davon. Im Himmel nämlich. Doch den sollen wir vergessen. Er soll uns nur als gefährlicher Ort in Erinnerung bleiben und wir sollen die Minuten zählen, bis wir wieder festen Boden unter den Füßen haben.


Awe

Auswahl, Dennis F. Arnold, 2015 — 2016

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den nackten bergen (*Killi, Killi*) Ole Schwabe

(leipziger alpinisten, verwehungen im park) du bäckst die kuchen für ein café folgst nachts den ottoz richtung funkhaus vogel brätst am fuße eines dampfers leise in der sonne verstehst die welt nicht mehr im brüchigen kalk der schweiz unter den brauen der bastei ist es schlicht physische präsenz du sehnst dich nach den engen hosen der stadt. den dünnen jungs vom stern jedoch ich kam nicht auf das wort mont blanc

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Video Home System Lina Gräf, 2016

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Das Video flimmerte unzählige Male über unseren Röhrenbildschirm. Noch immer kann ich Passagen auswendig nachsprechen. Ein Magnet löschte beim letzten Umzug den Film vom Band.

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Haja. Hilde Pank, 2016

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»Seit meinen OPs habe ich viele Narben, die meinen Körper äußerlich entstellt und innerlich geheilt haben. Als mein Leben bedroht war und ich es von seinem Ende her begreifen musste, begann ich meinem Körper mehr und mehr mit Ehrfurcht zu begegnen und ihn zu lieben. Damals habe ich begonnen, kleine nackte Frauen aus Ton zu formen. Das war mein Dialog mit meinem Körper und meiner Sehnsucht nach Nacktheit ­— im Sinne von Ursprünglichkeit.« Meine Großmutter — Haja

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Things image Auswahl, Agnieszka Gotowała, 2015 — 2016

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After three years of Photography studies, I decided to burn all the images from the individual laboratories to transfer them to nothingness and leave the space, that a picture describes. Incineration, in particular such material, that photos and the photo paper itself are, is a symbol of forgetting. However, rather it is only an illusion.

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Osten Tomoya Imamura, 2016

Knittriges PappmachÊ auf Raufasertapete in seiner Symbolik so direkt, dass keine wertige Aussage zu finden ist. Eine osteuropäische Beschreibung ohne Informationen.

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Als Gott den Menschen erschuf, war er bereits mĂźde Auswahl, Tim Dechent, 2016

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Die Sommering-Vermutung Thorsten Krämer

Dr. Anna Sommering studierte parallel Physik und Medizin, sie ist Fachärztin für Psychiatrie und ausgebildete Psychoanalytikerin mit eigener Praxis in München. Das Gespräch mit ihr fand statt am Rande der Charité Conference on Psychiatric Research: Emotional Neuroscience im August 2016 in Berlin.

Frau Dr. Sommering, was besagt die Vermutung, die Ihren Namen trägt?

Wie viele verschiedene Emotionen gibt es denn überhaupt?

Dazu muss ich erst etwas ausholen: In der Physik gibt es das Phänomen des weißen Rauschens. Dabei ist die Rauschenergie über alle Frequenzen konstant verteilt. Man hat herausgefunden, dass es einen heilsamen Effekt auf den Menschen hat, ein solches weißes Rauschen zu hören; es wird beispielsweise in der Medizin gezielt eingesetzt. Als ich anfing, mich mit der menschlichen Psyche auseinanderzusetzen, kam mir die Idee, dass unsere Emotionen sich ebenfalls über ein ganzes Spektrum erstrecken. Doch für gewöhnlich nehmen wir immer nur einzelne Frequenzen wahr, um im Bild zu bleiben. In der therapeutischen Situation gibt es oft den Moment, wenn der Klient zum ersten Mal die Erfahrung macht, zwei widersprüchliche Gefühle gleichzeitig zu erleben. Das wird meist als sehr befreiend erlebt. Ein klassisches Beispiel ist etwa die Beziehung zu den Eltern: Der Klient ist ihnen einerseits dankbar, andererseits empfindet er aber auch Wut — ­ Sie merken, wie ich hier ein „aber“ verwende — und die Erfahrung, die ich meine, ließe sich auch beschreiben als der Moment, in dem aus diesem „aber“ ein „und“ wird. Der Klient ist dankbar und wütend; das eine Gefühl muss das andere nicht verdrängen oder kleiner machen, um zur Geltung zu kommen. Und jetzt stellen Sie sich vor, wie der Effekt wäre, wenn es möglich wäre, nicht nur zwei, sondern eine Vielzahl von widersprüchlichen Emotionen gleichzeitig empfinden zu können!

Das ist vielleicht die entscheidende Frage. Manche versuchen, das herunterzubrechen auf ein kleines Set von Basisemotionen, aber ich habe den anderen Weg gewählt. Ich versuche, eine möglichst umfassende Sammlung von Gefühlen aufzustellen, gewissermaßen aus einer eher anthropologischen als psychologischen Perspektive. In anderen Kulturen gibt es Bezeichnungen für komplexe Gefühle, die im Deutschen nur umschrieben werden können. Mit meinem Team zusammen arbeiten wir seit fünf Jahren an einer entsprechenden Datenbank. Wir versuchen uns gewissermaßen an einer Kartographierung der menschlichen Gefühlswelt. Doch ist das letztlich nur ein Zwischenschritt. Das Ziel ist es, anhand dieser gesammelten Informationen eine synthetische Droge herzustellen, die ihrem Nutzer eine möglichst umfassende Gefühlserfahrung bietet — die ultimative Droge, wenn Sie so wollen.

Und welchen Effekt versprechen Sie sich von dieser Droge? Es gibt in der Tradition der dystopischen Literatur immer wieder Drogen, die gezielt eingesetzt werden, um die Bevölkerung ruhig und unmündig zu halten, das bekannteste Beispiel ist sicher das Soma aus Huxleys „Brave New World“. Unsere Droge soll jedoch den genau gegenteiligen Effekt haben, eine Freisetzung nämlich, die zu einer neuen Mündigkeit führt. Die Erfahrung, alle Gefühle gleichzeitig zu erleben, befreit uns von dem Druck, bestimmten, kulturell favorisierten Gefühlen hinterherzujagen, da wir nun erlebt haben, dass alle Gefühle ihren Wert haben. Dieses antihierarchische Element wird in der Folge dann auch gesellschaftlich wirken und zu einer grundlegenden Transformation des Sozialen führen. Das ist zumindest meine Vermutung. In ein paar Jahren, so hoffe ich, wird man sehen, ob sie stimmt oder nicht. 42


Mirror Auswahl, Julia Neundorf, 2016

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Pavilion Auswahl, Sabine SchrĂźnder, 2015

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Bei der Entstehung der Serie »Pavilion« war die Idee der Formbarkeit und Transparenz von inneren und äußeren Welten richtungsweisend. Ich fotografiere Nähe, Intimität, Angst, Ungewissheit — ohne dies an einzelne Personen zu knüpfen. Mit meinen Bildern möchte ich mein Staunen zeigen und Fragen aufwerfen: Was machen wir hier eigentlich und warum noch mal? Ich zeige Fremde in der Fremde, doch vielleicht sind wir uns stetig selbst fremd in unserer Spezies als Mensch. 48


Sessions Auswahl, Florian Müller, 2008 — 2015

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Rintfleisch Nothschrei 2f Ausschnitt, Steffen Greiner

Metall: Türen und Schwerter und Platten und Gift und Ringe. Dein Blick ist blau, nicht stählern, sondern – ich werde bessere Worte finden, wenn ich glücklich werden darf – als – menschlich. Dein schönes fragmentiertes Gesicht, dessen Teile Sinn ergeben, das ich nie begriffen habe, mich noch immer überfordert, aus dessen Lippen und der Luft dazwischen ich meine Blicke ziehen muss – Verbannung der Liebe aus den Lippen, aus den Lidern, was ist drinnen, was draußen, Spuren von Metall, Löcher, magnetisch vergiftet. Friedrich Krauß blutet der Kopf wie von innen die Freude des Kindes an Weihnachten, schon schiebt sich Hitze von links nach rechts oben, und da besann er sich und schrie: Hinfort, hinfort! Wir glauben nicht an euch, aber sie gingen nicht, sie gingen nicht, zwackten ihn in die Ohren! Kratzten die Augenbrauen ab & tropften durch die Augenhöhlen & sagten: Willkommen, willkommen! Es ist ja der Kopf, das ist es ja aber doch, der Kopf, der sich da loslöst, du bist ja gar nicht Kopf, du bist ja Körper! Aber anders, weil der Körper, Krauß schaut ins Dunkle, ist ja weg, ja gegangen, siehst du ihn denn, na,

hä, deinen Körper? Es spiegelt sich in den Scheiben zum Gässlein sein Blick nicht, obschon es schwarz ist, draußen, und er die Kerze neben das Bett geschoben nun hat & im Zimmer umherblickt und den Schrank sieht & den Tisch, den Stuhl & die Schale, aber nicht den Janeke, den dann doch nicht, der ist ja nicht hier, der zwickt nur und zieht, greift durch den Haarschopf hinein ins Hirn wieder und rührt das Blut durch die Zellen, streichelt sanft, auch, entlang der Wülste, es könnte Liebe sein, denkt er sich, kurz, löscht das Licht, Janeke, Metall, Metall, vielleicht nicht, niemand trägt einen Ring, niemand sagt: Ich liebe dich, nicht mit deinen Augen, nicht einmal mit deinen Augen, die ja wirklich so groß sind, da kann ich ja nun auch nichts machen, groß und stahlblau und warm, und während ich an dich denke, wird es wärmer, vielleicht heben die anderen Arme jetzt, vielleicht ein Augenlid, während ich dich greife, langsam greife, begreife, be-greife, na, du weißt schon, und wie schön es aussieht, wie die sich küssen, neben uns, so von der Seite, ich werfe den Kopf in den Nacken, und dann bekommt Krauß es mit der Angst zu tun.

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Neue Destruktion Auswahl, Juliane Gutschmidt, 2015

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Der Stream bei Youtube stockt, der Upload auf einer Website läuft schief, die Kamera erleidet einen Wasserschaden, das E-book fällt auf den Boden: Bizarre Farben, irritierende Pixel und Verzerrungen entstehen. Solche Effekte, die durch Fehler im Datenstrom von Systemen erzeugt werden, sind für eine neue Bewegung kein störender Defekt, sondern Kunst: Neue Destruktion. Damit bekommt die digitale Kunstbewegung einen Namen, die bislang nur in fragmentierter Form kleiner Communities existiert. Hierbei geht es um den künstlerischen Missbrauch visueller Informationen in Dateien. Dies führt zu einer neugewonnenen Ästhetik, welche durch abstrakte Objekte, Strukturen und umsortierte Pixelblöcke hervorgebracht wird. Der Reiz ist der Überraschungseffekt, der uns in seinem Bann auffordert, immer weiter zu experimentieren. Destruktion verweist auf den Akt des künstlerisch-intendierten Störens, der Einblicke in das Innenleben der Datei gewährt. Durch Eingabe und Manipulation von Hexadezimal-Codes wird die binäre Funktion erforscht. 61


Messages from the Darkroom Auswahl, Alexander Gehring, 2011

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Roland Barthes (1989): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 22.

Im Grenzgebiet von visueller Einbildung und fotografischer Wirklichkeitsauffassung befasst sich „Messages from the Darkroom“ mit den Aspekten der Fotografie, die der Fotografie seit ihrer Erfindung anhaften: dem Geheimnis und dem Wunder. Im Mittelpunkt steht die Dunkelkammer als Raum der Transzendenz, in dem Tote auf einem Bild wieder auferstehen dürfen; wo in alchemistischer Tradition fotografische Transformationsprozesse in Gang gesetzt und latente Bilder durch ein chemisches Ritual aus der Dunkelheit ans Licht gebracht werden. Ausgehend von historischen Fotografien, die vermeintlich übernatürliche Phänomene zeigen und beweisen sollten, versucht die Arbeit dem Wunsch nachzugehen, magische Prozesse mittels eines technischen Apparates aufzeichnen zu können und der damit verbundenen — scheinbaren — Unmöglichkeit dieses Vorhabens. Hierbei werden Verknüpfungen von Fotografie und Okkultismus herausgestellt, um im Grenzgebiet von fotografischer Wahrheit und möglicher Fiktion die Fotografie auf ihr magisches Potenzial hin zu betrachten.

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„In der Phantasie stellt die Photographie (die, welche ich im Sinn habe) jenen äußerst subtilen Moment dar, in dem ich eigentlich weder Subjekt noch Objekt, sondern vielmehr ein Subjekt bin, das sich Objekt werden fühlt: ich erfahre dabei im kleinen das Ereignis des Todes (der Ausklammerung): ich werde wirklich zum Gespenst.“ 1


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Mostly Ghostly Auswahl, Matthias Schneck, 2014

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»Mostly Ghostly« erforscht digitale Ästhetiken und skulpturale Momente im zweidimensionalen Raum. Der uns umgebende immaterielle Signalraum dient als Ausgangsmaterial, welches mittels technischer Verfahren manipuliert und in einen abstrakten, digitalen Raum zurückgeführt wird.

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Maschera Auswahl, Marc Peschke, 2014 — 2015

Dunkle Doppelgänger — Gedanken zur Serie Hat das Negativ – in Zeiten digitaler Fotografie, in denen es nicht mehr der Vervielfältigung dient – eine eigene künstlerische Relevanz? Das Negativ ist ein Abdruck der Wirklichkeit. Ein Abdruck, aber auch eine Maske. Diese Bilder sind in gewisser Weise „Masken“ des Originals, nicht Abdrucke, sondern Umdeutungen oder Schatten. Diese Masken verhüllen in gleichem Maße, wie sie etwas bloßlegen. Sie erzählen von einer doppelten Identität der Bilder, von einem zweiten Janusbild, das jeder Darstellung innewohnt. In diesen dunklen Doppelgängern kommt das Unsichtbare, Ungesehene, das Optisch-Unbewusste auf geheimnisvolle Weise zum Vorschein. 72


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Spread-to-Enlarge Nicolas Oxen In der kulturtechnischen Evolution des Schreibens ist der Daumen das schwächste Glied. Zehn Finger fliegen mühelos über die Tastatur. Der tumbe Daumen übernimmt nicht ganz ohne anatomischen Grund nur den blinden Schlag auf die Leertaste. Evolutionär ist der Daumen für Handgreiflichkeiten ausgelegt, die den Gegendruck anderer Finger verlangen. Analog hat das mit Stiften noch wunderbar funktioniert. Beim digitalen Schreiben wird es für den Daumen jedoch problematisch. Jeder, der schon einmal den stechenden Schmerz eines sogenannten „Handy-Daumens“ erlebt hat, weiß, dass dem behäbigsten der fünf Finger die Schreibanforderung stundenlanger Smartphone-Konversationen tüchtig zu schaffen macht. Echte Digital Natives, wie computersozialisierte Nintendo-Freunde, können gegenüber solch schwächlichen Anpassungsleistungen an das digitale Zeitalter natürlich nur müde lächeln oder kurz mit ihren feinmotorisch abgehärteten Daumen zucken. Damals in den 80er Jahren war 75

auch der tschechische Medienphilosoph Vilém Flusser fasziniert von dem fingerfertigen Zusammenspiel von Mensch und Technik. Dieses Verhältnis, als ein konkretes, schreibendes Verhältnis, war für ihn keineswegs eine lässige „Zuhandenheit“ (Heidegger) von „Interfaces“ für souveräne „User“, wie man sich die reibungslose Einfügung digitaler Technik in den Alltag vorstellt, sondern ein immer auch etwas dämliches und dilettantisches Tippen, Drücken und Herumspielen. „User“ gibt es für Flusser noch nicht, eher „Funktionäre“, die durch das blinde Drücken auf die Knöpfe sogenannter „Apparate“ automatische Programme ablaufen lassen. Flusser schrieb sein Plädoyer „Für eine Philosophie der Fotografie“ noch für mechanische oder schon elektronische Foto-Apparate, die – zumindest was ihr Design betrifft – wirklich noch „Black Boxes“ waren, also schwarze Kästen, bei denen man nicht genau weiß, was drinnen genau vor sich geht, wenn man die Knöpfe an ihren Außenseiten drückt.


Zwar weiß man bei heutigen „Black Boxes“, wie den Smartphones, immer noch nicht, welche Prozesse drinnen vor sich gehen, noch dazu, weil hier nicht mehr mechanisch-automatische Kausalitäten, sondern komplexe mathematische Algorithmen am Werke sind. Aber zumindest verfügen die fotografierenden Telefone von heute über ein Fenster zur Welt, das gleichzeitig Spiegel des Selbst sein kann und damit im Bereich der Bildtheorie Realisten wie Psychoanalytiker gleichermaßen entzücken dürfte. Noch dazu, weil sich das Ganze auf einer sensiblen Oberfläche abspielt, die sich nicht nur betrachten, sondern auch berühren lässt. Die Bilder entstehen nicht mehr in der dunklen Kammer des Apparates und müssen in einer weiteren dunklen Kammer unter fremden Händen von Fotofachkräften entwickelt werden, sondern erscheinen mit einer suggestiven Unmittelbarkeit auf dem Display. Dort lassen sie sich nicht nur mit einer Fingerberührung verändern, sondern auch direkt verschicken. Fotografie wird damit als technischer Prozess nicht begreifbarer, aber handgreiflicher und das fotografische Verhältnis von Subjekt und seiner (sozialen) Wirklichkeit zu einem fortlaufenden Prozess der Aktualisierung und Anpassung.

Hier kommt auch wieder der (schmerzende) Daumen ins Spiel, allerdings nicht nur in seiner heroischen Funktion für den Aufstieg der Schriftkultur, sondern als führender Finger der digitalen visuellen Kultur. Genau zwischen Daumen und Zeigefinger – dort wo früher der Stift eingeklemmt wurde – entsteht eine neue technische Geste. Dieses subtile, sinnliche Spreizen von Daumen und Zeigefinger auf einem Touchscreen bezeichnen Interface-Designer etwas profan als „Spread-to-Enlarge“. „Pinch-to-Shrink“ heißt das gestische Gegenteil. Diese technischen Gesten werden dann wichtig, wenn man beispielsweise mit fotografischer Neugierde wissen möchte, wer denn der Typ da auf dem Bild ist, der neben der da steht, die man gestern da gesehen hat. Oder Ähnliches.

Schon Flusser hatte in der ersten Zeile seiner „Philosophie der Fotografie“ geschrieben, dass Bilder „bedeutende Flächen“ seien und später, dass es im „Universum der technischen Bilder“, so der Titel seines darauffolgenden Buches, beim Bildermachen um die „Raffung von Punktelementen“ ginge.

Damit aus Silberhalogeniden ein Foto wird, braucht es präzise programmierte Fotoapparate und Menschen, die ihre Knöpfe drücken oder später im Labor zum richtigen Zeitpunkt diese automatische ablaufenden Prozesse anhalten. Für Flusser war das ein dramatisches Geschehen, eine anthropologische Geste der Auflehnung. Denn zumindest physikalisch ist es sehr wahrscheinlich, dass das Universum, dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik folgend, unumkehrbar in ein strukturloses, gleich verteiltes Gewusel zerfällt. Dieser „Ameisenfußball“ auf dem Bildschirm ist jedem Fernsehzuschauer vertraut. Es handelt sich um die bloße rauschende Präsenz des Kanals, auf dem im Wortsinn „nichts läuft“. Ein solches „Bild“, oder im Falle des Fernsehens müsste man es eher einen technischen „Zustand“ nennen, ist vielleicht eine ganz gute Metapher für das weiße Rauschen: ein uninformativer, weil strukturloser und eben nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik auch ein höchst wahrscheinlicher Zustand. Wahrscheinliche Zustände sind wenig informativ, „langweilig“, wie im Fernsehen. Wegen dieser Überschneidung von (visueller) Information und deren (Un-) Wahrscheinlichkeit interessieren sich nicht nur Fernsehtechniker, sondern auch Informatiker und natürlich auch Medienwissenschaftler für rauschende Zustände.

Vilém Flusser geht in seiner bildphilosophischen Diagnose davon aus, dass wir in einem Universum leben, das entropisch an Struktur verliert und immer weiter zu einem solchen informationslosen Rauschen zerfällt. Um sich diesem Zerfall entgegen zu stellen, muss man Bilder machen, „blindlings realisierte Möglichkeiten“, wie Flusser über die Fotografie schreibt. 76

„Informieren“ heißt hier konkret, dem gleich verteilten Rauschen wieder eine unwahrscheinliche visuelle Form zu geben. Dafür braucht es nach Flusser vor allem eines: einen Knopfdruck, damit (Foto-)Apparate in automatisch ablaufenden Programmen unwahrscheinliche Situationen produzieren. Das heißt bei Flusser noch mit Bezug auf das fotografische Korn: Punktelemente zu Bildern raffen. Unerwartete Formen und Erkenntnisse aus einem seiner Bilder gewinnt auch Thomas, Fotograf und Hauptfigur in Michelangelo Antonionis „Blow Up“. Vielleicht nicht ganz umsonst spielt Antonionis Film im Swinging London der 60er Jahre, einer Zeit, die für das Unvorhersehbare und Zufällige viel übrig hatte.

„Random“, könnte man sagen, schwankt auch die Handlung zwischen Zufall und Notwendigkeit und, nebenbei gesagt, wurde Kontingenz nirgendwo schöner verfilmt, als in einer der letzten Szenen dieses Films, in dem verkleidete Fantasiefiguren auf einem sauberen englischen Tenniscourt mit einem imaginären Ball ihr Match austragen. Und auch Thomas entdeckt Überraschendes. Eigentlich ist er nur durch die Stadt gelaufen – natürlich ziellos und eher vom Zufall und den Entdeckungen seines fotografischen Blickes getrieben. Auf der Suche ist er nach ein paar Fotos, die er als Füllmaterial für einen Fotoband über ein Obdachlosenheim braucht. In einem Park trifft Thomas auf ein Paar, das er mit zögerlichem Voyeurismus fotografiert. Die Frau vor seiner Kamera ist damit alles andere als einverstanden, auch weil es sich nicht um ihren Partner, sondern um ihren Geliebten handelt, wie sie es Thomas später in seinem Atelier gesteht und von ihm den Film zurückfordert. Die Bilder werden wichtig. Deshalb speist Thomas die Frau mit einem falschen Film ab und entwickelt die Aufnahmen aus dem Park selbst.


Aus der körnigen Struktur des Bildes zeichnen sich mit jeder Vergrößerung, jedem „Blow Up“, das Thomas anfertigt, neue und unerwartet informationsträchtige Details ab. Warum schaut die Frau auf dem Foto zu dem Zaun am Rande der Wiese und was verbirgt sich dort im Gebüsch? Diese Narrativierung der körnig-fotografischen Bildstruktur zeigt der Film seinen Zuschauern wiederum mit seinem eigenen filmischen Blick. Eine Montagesequenz setzt die einzelnen Fotos zusammen, die Thomas nebeneinander in seinem Atelier aufgehangen hat und narrativiert deren Bilddetails plötzlich zu einem kriminalistisch interessanten Zusammenhang. Dies nur soweit zum Inhalt, um nicht zu „spoilern“, was bedeuten würde, die narrative Plausibilisierung ganz normaler Unwahrscheinlichkeiten durch den Film zum Rauschen zu bringen. „Blow up“ — 1966 ist das noch ein relativ komplexes fotografisches Verfahren. Mit der technischen Geste des „Spread-to-Enlarge“ spielt sich das Ganze zwischen den kulturtechnisch hochgradig wichtigen Gliedmaßen von Daumen und Zeigefinger ab. Was diese beiden Bildoperationen verbindet, ist ihre Beziehung zum Bild. Dabei geht es nicht nur um die Beziehung von Information und Rauschen, die aus der körnigen Struktur des Bildes herausgelesen werden muss. Es geht auch um eine Form des nicht rein visuellen, sondern haptischen Kontakts von Bild und Betrachter. In „Blow Up“ nähert sich Thomas seinen Bildern noch ganz optisch mit einer Lupe. Mit „Spread-to-Enlarge“ wird das Bild selbst aktiviert. Auf dem Smartphone-Display lässt es sich nicht immer so einfach (be-)greifen, sondern springt herum und muss erst einmal im Ansichtsmodus vor schwarzem Hintergrund ruhig gestellt werden.

In beiden Bildoperationen verhält es sich so, dass je näher man dem Bild kommt, je weiter man es im Wortsinne zu „begreifen“ versucht, es sich mehr und mehr entzieht. Sehen und Berühren – der Sinn der Distanz und der Übersicht und der Sinn der Nähe und des Kontakts – lassen aus dem Rauschen keinen „Sinn“ sichtbar oder spürbar werden. Dass man durch Sehen körperlich etwas spüren kann und das sinnliche Phänomen, das der Fernsinn des Sehens sich mit dem Nahsinn des Tastens verschränkt, hat

die Filmwissenschaftlerin Laura Marks als „haptisches Sehen“ beschrieben. Die Paradoxie dieses Kontakts, die Erfahrung von etwas körperlich berührt zu werden, obwohl das Sehen gar keine direkte Berührung zulässt, wird durch das digitale Bild noch in anderer Weise gesteigert. Analoges Korn oder elektronischer Pixel, beide können gerade in den instabilen Zuständen des Bildes für haptisches Sehen sorgen, jedoch ist der „Sinn“ des digitalen Bildes keine „Informierung“ wie Flusser sie denken würde, kein materielles In-Form-Bringen mehr. So indirekt der sinnliche Kontakt von Bild und Betrachter in Formen des „haptischen Sehens“ verläuft, so indirekt verläuft auch die nicht-sinnliche, weil schlichtweg unsichtbare, Strukturierung und Operationalisierung des digitalen Bildes. Metadaten bestimmen nicht nur die Form des Bildes in unterschiedlichen Formaten und auf verschiedensten medialen Oberflächen, sondern halten beispielsweise auch mit einer ganz anderen Form fotografischer Indexikalität den Ort und Zeit der Aufnahme fest. „Blow Up“ und „Spread-to-Enlarge“ sind Gesten, die die Diskrepanz zwischen einem analog haptischen und digital nicht-sinnlichen Zugriff auf die „Information“ des Fotos deutlich machen. Die Spannungen und Paradoxien des Bildes als eine Form zwischen Rauschen und Information, vollziehen sich immer auf technischen Oberflächen. Eine dieser Oberflächenspannungen bezeichnet man in der Bildtheorie als Opazität und Transparenz.

Fotografien sind nicht nur oberflächlich, sondern auch doppelseitig. Sie haben die Eigenschaft entweder wie transparente Oberflächen zu funktionieren und Bildobjekte zu zeigen oder opak zu werden und ihre Bildoberfläche als eine materielle Oberfläche hervorzukehren, zum Beispiel dann, wenn das Bildobjekt von Bildartefakten überdeckt wird. Thomas nimmt nicht ohne Grund die Lupe zur Hand, um festzustellen, ob es sich bei dem, was er auf dem Bild zu sehen glaubt, um „Fakt oder Artefakt“ um eine „Entdeckung oder Rauschen“ handelt. Der Fototheoretiker Peter Geimer sieht genau in diesem Verhältnis den semiotischen Spannungszustand des fotografischen Bildes, das zuerst einmal ganz faktisch zeigt, 77

dass etwas dort gewesen ist, wobei die Entscheidung was es ist, das dort gewesen ist, einer weiteren Deutung bedarf. Die spezifische Zeitlichkeit des rauschenden, gestörten Bildes liegt in der Potenzialität in jedem Rauschen, eine Information entdecken zu können. Jedes Rauschen birgt die Potenzialität einer neuen Entdeckung, gleich einer kleinen informativen Kontur im gleichförmigen Chaos. Und wie unsicher dieser kontingente Sinn des Bildes ist, wird ebenfalls in „Blow Up“ deutlich. Nachdem Unbekannte Thomas' Atelier durchwühlt haben, bleibt auf seinem Sofa ein Bild zurück, dessen visuelle Struktur durch die Vergrößerungen so unscharf und verrauscht ist, dass es nicht mehr als Beweis taugt, sondern nur noch für Thomas' erkennendes Auge Sinn ergibt. Das Rauschen lässt sich von keinem Bild trennen, weder die Materialität der Farbe von der Malerei, noch die Schlieren und die Vibrationen von analoger Fotografie und Film oder die Kompressionsartefakte und „Glitches“ vom digitalen Bild, das noch stärker und ständiger zeitlichen Umformungsprozessen unterworfen ist. Darüber hinaus geht es bei instabilen, rauschhaften Bildzuständen auch nicht immer nur epistemisch um die Feststellung, was dort sichtbar ist, sondern auch ästhetisch um eine hintergründige und unsichere Sinnlichkeit des Bildes. Zu jedem „Look“ gehört ein „Feel“ und gerade in Zeiten von Instagram wird die ästhetische Bedeutung von warmfarbigen Unschärfen, „Retro-Looks“ und anderen träumerischen Dämmerzuständen des Bildes überdeutlich. Mit nur einer Fingerberührung auf einer sensiblen, technischen Oberfläche wird das Bild mit einem „Filter“ überdeckt und es entsteht eine digitale, hybride Schichtung aus unterschiedlichen Zeitlichkeiten und Spürbarkeiten. Anfänglich sollten Filteroptionen nur die schlechte Auflösung der ersten Handybilder kaschieren, mittlerweile sind sie allerdings auch entscheidend dafür, welches Foto aus dem überbordenden digitalen Bilduniversum von etwa 60 Millionen täglich bei Instagram hochgeladenen Fotos heraustritt und durch seinen „Look“ kommerziell verwertbar wird. Das alles spielt sich zwischen zwei Fingern ab und macht jede Berührung zu einer technischen, ästhetischen und nicht zuletzt auch ökonomischen Geste.


pixcellstills Robert Krischan ter Horst, 2016

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Die Bilder basieren auf den Kinofilmen Mad Max 1, Matrix 1 und Shining. Die jeweiligen Filme wurden in ca. 6000 Einzelbilder zerlegt. Dafür wurde der erste Frame in jeder Sekunde des Films entnommen und anschließend die Pixelanzahl (1920 x 1080 = 2 Mpx) des Bildes durch die Menge der Frames geteilt. In entsprechender Breite wurde von jedem Frame ein kleiner Teil entnommen, bis das berechnete Bild chronologisch gefüllt war. Jeder entnommene Pixel sitzt dabei wieder an seinem ursprünglichen Platz (z. B. der Himmel im oberen Teil des Bildes). Die Abbildungen können auch als theoretische Zwischenbilder beschrieben werden. Durch die systematische Zersetzung wird die Informationsstruktur des Ausgangsmaterials zerstört. Trotzdem beschreiben die Bilder eine Welt, welche zwar nicht sichtbar oder gegenständlich ist, die aber durch die zugrunde liegenden neuen Informationen vorhanden ist und somit potenziell möglich wäre. 79


Doppelreise Auswahl, Eric Pawlitzky, 2015 — 2016

»Doppelreise« beschreibt den Selbstversuch, durch Störungen des Biorhythmus Zeitverschiebungen erlebbar zu machen. Zum Beleg hat der Autor mit einer präparierten Kamera und hypersensibilisiertem Film die eigene Netzhaut durch die Pupille nach entsprechenden Konzentrationsübungen (Zeitfixierungen) abfotografiert.

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Contemporary City

“Contemporary City” is the title of a city planning concept published by the architect and city planner Le Corbusier in 1922. This concept constitutes an important part of global urbanism ideologies. The ideologies and tendencies of urbanism are mirrored pictorially in the ever more similar looking cities of the world. Currently, different places in the world are playing through various stages of the history of European cities. Paris is the starting point for Le Corbusier’s work and Dakar was the capital of the colony French Western Africa. Just like the British in India, the French used their colonies in northern and western Africa as experimental ground for city planning. Not only in Algeria were spacious axes easier to defend against riots than organic, labyrinth-like city structures. Spatial strategies developed in colonial contexts were implemented in Paris already in 1870 under the direction of Georges-Eugène Haussmann to reorganize the capital. “Contemporary City” seeks to illustrate this complex of colonial laboratories producing European spatial knowledge and the hegemonic discourse of globalism. The pictures aspire to be and invite to a critical reflection upon the themes of city, space and power in the world.

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TOUR (Paris, Dakar), 2016

Auswahl, Alexander Rosenkranz, 2015 — 2016



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BRIDGE (Dakar, Paris), 2016


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SPARKASSE (Berlin, New Delhi), 2016


Gravity Daniel Sebastian Schaub, 2016

Mit einem neuen Medium verbindet sich eine neue Lebensform. Das Digitale strebt nach Optimierung und Idealisierung. Es ist dem Geistigen wesentlich näher als jedes Medium zuvor, das macht die Faszination und das Begehren nach ihm aus. Unsere Begeisterung beruht auf dem Verlangen, mit diesem Medium den Tod zu überwinden. Die digitale Fotografie zeigt jedoch, dass die Ewigkeitssimulation durchbrochen werden kann. Die Bilder wurden aus einer sehr weiten Entfernung mit einer Kompaktkamera aufgenommen. Die hohe Distanz und die technische Begrenztheit des Kamerachips führen zur Einebnung der Personen und des Raums. Die Ortlosigkeit der Subjekte sowie die Auflösung aller Details und Gegenständlichkeiten markieren den Einbruch des Todes. Denn hinter der Simulation von Ewigkeit offenbart sich das Digitale als ein Medium des Todes. Folglich kann dieses Bildmotiv als Vorausschau auf eine kommende Seinsform gewertet werden. Denn das digitale Medium ermöglicht fotografische Bilder, die nicht mehr retrospektiv gelesen werden müssen, sondern prospektiv gesehen werden können. So werden sie zu Ideal- und Vorbildern. Digitale Bilder stehen nicht im Dienste der Repräsentation. Für sie gilt nicht das Grundprinzip der Referenz. Sie sind von der Last des Dokuments befreit.

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WHH17, Baujahr 1984 Anja Bohnhof / Karen Weinert, 2003

Die Arbeit »WHH 17« besteht aus zwölf Innenaufnahmen eines Hochhauses. Der Titel ist der Name des Gebäudetyps, ein Plattenbau aus der DDR-Zeit. Als Neubau ein äußerst begehrtes Wohnobjekt für jedermann, nach der Wende zunehmend durch Leerstand geprägt, zeigt diese Arbeit über eine streng formale und grafische Ästhetik den Wandel der Zeit. Die leeren Wohnungen, die sich nicht zuletzt über die standardisierten und überaus typischen »Hellerauer Glasvitrinen« eindeutig als Neubauwohnungen Ostdeutschlands aus den achtziger Jahren identifizieren lassen, zeigen individuelle Spuren ihrer letzten Mieter. 88


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Genese Auswahl, Marvin Systermans, 2016

Wie hat es sich angefühlt ein Kind zu sein? Wie sehen Erinnerungsbilder einer Zeit aus, in der wir noch keine bewussten Erinnerungen machten? Die Grenzen zwischen der magischen Welt unserer Imagination und der äußeren Welt waren damals noch nicht klar umrissen. Jedes Spielzeug erwachte vor unseren Augen zum Leben; die großen Menschen waren Riesen, zwischen denen wir uns einen Weg bahnen mussten und der Besuch im Zoo wurde zu einer Reise um die ganze Erde. Unsere Erinnerungen werden im Laufe des Lebens durch jede neue Erfahrung verzerrt. Mit der Zeit vermischen sie sich, verblassen, werden ergänzt und idealisiert. Die Fotografien wechseln zwischen magischer Wahrnehmung und Dokumentation. Das Medium der Fotografie digitaler Videostills kommuniziert die zeitliche Einordnung des Abgebildeten allein durch deren charakteristische Bildästhetik. In dem unscharfen Rauschen, den offenen Konturen und vibrierenden Farben lösen sich die Erinnerungsbilder langsam auf und manches kann nur noch erahnt werden.

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Impressum

HANT — Magazin für Fotografie Ausgabe 08 Erscheinungsdatum: 11. November 2016 ISSN 2196-6079

Herausgeber FOTOINIT e.V. Salinenstraße 34, 99086 Erfurt

Redaktion HANT — Magazin für Fotografie Salinenstraße 34, 99086 Erfurt E-Mail: kontakt@hant-magazin.de www.hant-magazin.de fb.com/hant.magazin

Autoren Dennis F. Arnold, Anja Bohnhof, M. Scott Brauer, Tom Callemin, Tim Dechent, Christian Doeller, Andreas Gefeller, Alexander Gehring, Agnieszka Gotowała, Lina Gräf, Steffen Greiner, Juliane Gutschmidt, Moritz Hartmann, Tomoya Imamura, Linda Keck, Thorsten Krämer, Florian Müller, Julia Neundorf, Nicolas Oxen, Hilde Pank, Eric Pawlitzky, Marc Peschke, Michael Paul Romstöck, Alexander Rosenkranz, Daniel Sebastian Schaub, Matthias Schneck, Sabine Schründer, Ole Schwabe, Marvin Systermans, Robert Krischan ter Horst, Sebastian van Vugt, Karen Weinert, Florian Zach

Redaktionsmitglieder — V.i.S.d.P. Dominik Bönisch, Anita Grey, Alexander Grüner, Friederike Günther, Paul-Ruben Mundthal, Bernadette Peil, Christiane Preuß, Björn Schorr, Kristin Schulze, Maria Wolff

Korrektorat Stephanie Schettler

Cover: Tom Callemin (S. 01 ff.)

Vielen Dank an alle Einsendenden, Saline34, Druckerei Starke, Familie Grey, Familie Wöhmann, Thüringer Staatskanzlei, Kulturstiftung des Freistaates Thüringen, Christian Müller-Rieker, home-rent.de, alle stillen HelferInnen und Förderer

Druck Starke Druck und Werbeerzeugnisse, Sondershausen

Typografie Helvetica Neue Volkhov

© 2016 FOTOINIT e.V. Erfurt Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Magazins darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion reproduziert werden.

HANT ist ein unabhängiges Magazin, das die zeitgenössische Fotoszene beleuchten, fördern und abbilden will und dabei komplett werbefrei ist. Damit das so bleibt, freuen wir uns über euer Vertrauen in unsere Arbeit. Ihr könnt uns unterstützen, indem ihr ein Abonnement abschließt und das neue HANT-Magazin stets druckfrisch direkt zu euch nach Hause geschickt bekommt. Informationen und Bestellung unter abo.hant-magazin.de

FOTOINIT e.V. wird gefördert und unterstützt:

Auflage: 300 Stück Edition:

C


Index Tom Callemin 01 Editorial 06 0730331879_Ue2 Christian Doeller 08 Rushing Horses Linda Keck 10 This is the worst party I’ve ever been to. M. Scott Brauer 12 Wintereinbruch Florian Zach 19 Blank Andreas Gefeller 20 Chaussee '16 (Müller) Sebastian van Vugt 23 Buy. Sell. Love. Michael Paul Romstöck 24 Über den Wolken Moritz Hartmann 26 Awe Dennis F. Arnold 28 den nackten bergen (*Killi, Killi*) Ole Schwabe 29 Video Home System Lina Gräf 30 Haja. Hilde Pank 32 Things image Agnieszka Gotowała 36 Osten Tomoya Imamura 38 Als Gott den Menschen erschuf, war er bereits müde Tim Dechent 40 Die Sommering-Vermutung Thorsten Krämer 42 Mirror Julia Neundorf 43 Pavilion Sabine Schründer 44 Sessions Florian Müller 49 Rintfleisch Nothschrei 2f Steffen Greiner 57 Neue Destruktion Juliane Gutschmidt 58 Messages from the Darkroom Alexander Gehring 62 Mostly Ghostly Matthias Schneck 68 Maschera Marc Peschke 72 Spread-to-Enlarge Nicolas Oxen 75 pixcellstills Robert Krischan ter Horst 78 Doppelreise Eric Pawlitzky 80 Contemporary City Alexander Rosenkranz 82 Gravity Daniel Sebastian Schaub 86 WHH17, Baujahr 1984 Anja Bohnhof  /  Karen Weinert 88 Genese Marvin Systermans 92 ISSN 2196-6079 [DE] 12 €

9 772196 607004 D


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