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SERIE: ERZIEHUNG - DER LANGE WEG (10)
Teens im Stress Dienstags Klavierunterricht, donnerstags Nachhilfe und am Wochenende Reitstunden: Jugendliche stehen nicht nur in der Schule, sondern auch in der Freizeit unter Dauerstress. Die typischen Zeitfallen und wie man sie vermeidet. LUDWIG HAAS telecran@telecran.lu
nna, 15, und Patrick, 16, haben ein anstrengendes Vormittagsprogramm in der Schule zu bewältigen. Auch die Nachmittage und Abendstunden sind jeden Tag verplant - bei P atrick mit Gitarreunterricht, Basketballtraining, Nachhilfe in Mathe und F ranzösisch. Am W ochenende kommen noch Punktespiele, Kinobesuch, Jugendclub und Skaten mit Freunden dazu. Bei Anna stehen Ballettschule, Jazzdance, Klavierstunden und ebenfalls Nachhilfe in der Agenda, am W ochenende Reitstunden, Discobesuch und Volleyball. Beide Teens haben auch Pfadfinderjahre hinter sich, verbringen ihre F erien mit Sprachaufenthalten im Ausland und sind oft im Winter beim Skilaufen in der Schweiz.
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Es ist heute schwierig, sowohl für Jugendliche als auch Eltern, sich im Angebot von Freizeit und Schule zurechtzufinden. Wie viel aktive F reizeit verträgt ein Kind neben der Schule überhaupt? Und sind Ju-
gendliche selbst in der Lage, ihre Aktivitäten zu managen? Verplante Kinder wie Anna und Patrick haben Eltern, die es gut mit ihnen meinen, den Nachwuchs aber dabei überfordern. So wie diese Eltern gibt es viele, die aus K onkurrenzgedanken oder aus Gründen des Sozialprestiges von Geburt des Kindes an dessen spätere Karriere planen. Oft sollen die Kids Sport, Musik, Tanz oder Theaterspiel unter Wettbewerbscharakter praktizieren, um den elterlichen Ehrgeiz zufrieden zu stellen. „Eltern haben oft ihr eigenes Bild davon, was ihr Kind erreichen und können soll, und versuchen ihrem Kind zu ermöglichen, was sie selbst nie hatten“, erklärt Tanja Kieffer , P sychologin am CPOS. „Sie sollten sich deshalb zuweilen fragen, ob sie das für ihr Kind oder eigentlich für sich selbst wollen.“ Im letzteren F all geht Kindern der Spaß an der Sache oft schnell verloren. Spätestens in der Pubertät rebellieren sie dann. Meist aber geht der Stress von den Heranwachsenden selbst
aus. „Sie sind überbeschäftigt, weil das F reizeitangebot so vielfältig ist“, so T anja Kieffer. Viele erlegten sich selbst ein Mammutprogramm an V erpflichtungen auf, hetzten von Einsatzort zu Einsatzort. Sei es, um T rends nicht zu verpassen – sei es, um mit den F reunden gleichzuziehen. Dazu kommen stundenlangen Fernsehen, Computerspielen oder Surfen im Internet. Die Folge: zu wenig Schlaf , zu kurze Erholungspausen.
Plädoyer für Muße Kinder und Jugendliche brauchen aber auch anforderungsfreie Mußestunden: zum Musikhören, Zeichnen, Lesen, Spielen, Nachdenken, Träumen oder einfachem Nichtstun. „Sonst tritt Stress zu tage - seelisch, geistig und körperlich“, erläutert die P sychologin. Stress kann natürlich nicht nur in der Freizeit, sondern auch in der Schule auftreten. Etwa, wenn
▼ ein Kind überfordert ist, ▼ das Verhältnis zu Schule, Lehrer und Mitschülern gestört ist,
>>.info Die Interviewpartner dieser Serie (siehe Seite 146) bieten Konferenzen zu den vorgestellten Themen im Rahmen der Elternschule Janusz Korczack der Stiftung K annerschlass an. Die Elternschule organisiert Konferenzen, Seminare und W orkshops zum Thema Erziehung, Familie und Entwicklung des Kindes und richtet sich an alle Eltern, Großeltern und andere P ersonen, die im Alltag mit Kindern zusammenleben. Weitere Informationen zum Programm unter Tel. 595959-59 (Jeannine Schumann, Koordinatorin), sowie unter www.kannerschlass.lu Télécran 11/2005
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Skaten, Lernen ... die Tage junger Menschen sind oft voll verplant. Beim Managen der Zeit müssen Eltern helfen, Jugendliche allein sind damit meist überfordert.
▼ sich ein Kind sich selbst unter Erfolgsdruck setzt oder ▼ die Eltern zu viel erwarten. Die F amilienstrukturen haben sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Jugendliche sind heute oft für lange Zeit sich selbst überlassen; es fehlt an Kontrolle, Hilfe und Zuwendung durch die Eltern. Chaotische Tagesabläufe, wie sie das Hin- und Herpendeln zwischen geschiedenen Elternteilen oft auslösen, sowie unregelmäßiges und ungesundes Essen zählen zu den weiteren Stressfaktoren. Die Schule versteht es oft nicht, sich auf die „neuen Kids“ einzu-
stellen. Deshalb gilt es, dem Heranwachsenden zu Hause beizubringen, wie er sich gegen die Fremdbestimmung durch Freunde und Medien behaupten und seine eigene Freizeit und Arbeitszeit planen kann. W enn Eltern selbst keine Hektik verbreiten, sondern als ruhender P ol fungieren, ist schon viel gewonnen. Ihnen fällt es auch zu, ihre Kinder und deren Tages -und Wochenprogramme zu beobachten:
Bleiben genügend Freiräume zum Relaxen? Fühlt sich das Kind noch wohl? Hilfreich dabei sind gemeinsame Gespräche, um mit den Kindern eine Rangfolge der Aktivitäten festzulegen, den Lebensstil der Sprösslinge zu überprüfen und falsche V erhaltensmuster abzuschaffen. Vor allem aber müssen junge Leute ebenso wie Eltern lernen, Fähigkeiten realistisch einzuschätzen. Im besten Fall helfen El-
ternhaus und Schule den Jugendlichen bei der Planung ihrer Freizeit. Allein sind die Heranwachsenden meist überfordert: Sie tappen in die Stressfalle, bewegen sich im Freizeitrad wie der Hamster im Laufrad. Aber es gibt gerade beim Stress einen Ausweg aus dem Dilemma: W as man zu viel hat, kann man auch wieder loswerden. Man muss nur lernen, Nein zu sagen. ■
>>.interview
Es gibt kein stressfreies Elternhaus Wieso sind Jugendliche heute so gestresst – und wie bringt man ihnen besseres Selbstmanagement bei? Fragen an die Psychologin TANJA KIEFFER. Télécran: Warum erleben Jugendliche Schule heute stressiger als wir früher?
auch, „Nein“ zu sagen, sich die Zeit einzuteilen und auf gute Arbeitsorganisation zu achten.
Kieffer: Weil sich Schulsysteme, Gesellschaft, Berufswelt, Freizeit und Sozialisierungsprozesse verändert haben. Die Orientierung ist komplexer, die Wahlmöglichkeiten größer und die Zukunft ungewisser geworden. Es werden auch mehr Anforderungen an die Jugendlichen gestellt, sie sollen zum Beispiel autonomer werden.
Télécran: Und wie müsste ein stressfreies Elternhaus aussehen?
Télécran: Und wie kann man diesem Stress reduzieren? Kieffer: Zuerst muss man analysieren, wie gestresst man ist und woher der Stress kommt. Dann gilt es, die Eigen- und F remderwartungen zu überdenken und zu sehen, wem man mehr verpflichtet ist: den Eltern, Lehrern, Freunden oder sich selbst? Jugendliche müssen lernen, Prioritäten zu setzen und Entscheidungen im Einklang mit sich selbst zu treffen. Dazu gehört
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Kieffer: Ein stressfreies Elternhaus ist weder denkbar noch anzustreben. Stress heißt auch, dass man lernt, mit nichtharmonischen Situationen umzugehen. Deshalb ist es eher Aufgabe der Eltern, konstruktive Grenzen zu setzen und auf ihre Einhaltung zu achten. Dazu gehört auch, den Kindern zuzuhören, V erständnis zu zeigen, die Auseinandersetzung nicht zu scheuen und seine eigenen Erwartungen zu hinterfragen. Télécran: Viele Jugendliche machen sich ihren Stress selbst – warum? Kieffer: Die Frage ist doch, ob es sich tatsächlich um selbst auferlegten Stress handelt, oder ob wir nicht alle dazu beitragen,
Télécran: „Selfmanagement“ lautet eines der Zauberwörter in der Stressbekämpfung. W er bringt dem Kind das bei?
Foto: Serge Waldbillig
dass unsere Kinder sich Stress „auferlegen“, um unsere Erwartungen zu erfüllen. Ist es denn unbedingt richtig, dass nur derjenige später einen anständigen Beruf findet, der gute Schulnoten vorweisen kann? Besteht nur derjenige in der Gesellschaft, der auch in der Schule besteht? Warum loben wir ein Kind für eine gute Note in Mathe, nicht aber in Sport, Kunst oder Musik?
Kieffer: Selfmanagement setzt voraus, dass ein Jugendlicher genügend Ressourcen hat, um Stress zu bewältigen. Wir wissen jedoch, dass dies eine ideale Situation ist, die nur in den seltensten Fällen der Realität entspricht. Wir erwarten einfach vom Jugendlichen, dass er urplötzlich über diese Ressourcen verfügen soll, ohne sie ihm beigebracht zu haben. Da verlassen sich Elternhaus und Schule jeweils auf den anderen. Der Jugendliche bleibt auf der Strecke, denn allein ist er überfordert. Er braucht die Hilfe beider Erziehungspartner – Eltern und Lehrer. Tanja Kieffer ist Psychologin und arbeitet am CPOS. Bei Fragen zu Schulproblemen und Berufswahl ist sie unter Tel. 456464-1 oder E-Mail Tanja. Kieffer@cpos.lu zu erreichen.