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Interview

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EL AVISO: Welche kulturelle Bedeutung haben die Possessions (Landgüter) für Mallorca und darüber hinaus? Diego Zaforteza: Die Possessions haben die ländlichen Gebiete Mallorcas vom Mittelalter bis fast in die heutige Zeit geprägt, sie sollten jedoch nicht ausschließlich als architektonischer Komplex oder nur als produktive Einheit für die landwirtschaftliche Nutzung des Territoriums betrachtet werden. Die Besitztümer spiegeln etwas viel Tieferes wider, eine Art, die Insel zu begreifen, die Gesellschaft zu formen, die Zeit wahrzunehmen und das Leben zu verstehen. Jede Possessió war wie ein Mikrokosmos, der ein soziales System in sich vereinte und reproduzierte, das auf der für die Zeit zwischen dem 13. und 20. Jahrhundert charakteristischen agrarischen Sozialstruktur basierte. In jeder Possessió finden wir einerseits die Häuser und Nebengebäude, die das Zentrum des Gutes waren, andererseits der Bereich für die landwirtschaftliche Nutzung. Die Arbeit in den Besitztümern war durch den Jahresrhythmus und den Wandel der Jahreszeiten geprägt. Zur Erntezeit trafen sich dort viele Arbeiter, woraus die Bräuche und Sitten entstanden, die uns als rurale Gesellschaft charakterisieren, Folklore, Gastronomie etc. EA: Ein historisches Erbe, das ein ganz anderes Bild von Mallorca gibt, als es oft verbreitet wird. Ist das für Sie ein Schlüssel zu einem anderen Tourismus? DZ: In den letzten Jahrzehnten ist das Verschwinden der landwirtschaftlichen Produktion auf Mallorca aufgrund des entstandenen Massentourismus eine unbestreitbare Tatsache. Das Aufkommen der Teilzeit- und Freizeitlandwirtschaft sowie die Entdeckung des ländlichen Raums als Wohnsitz nuanciert das ganze lediglich etwas. Ein weiterer wichtiger Faktor der territorialen Besiedlung des Tourismus ist die Umwandlung alter Besitztümer in Landhotels, Agrotourismus und Ferienwohnungen. So werden landwirtschaftliche Parzellen nicht nach ihrem hypothetischen landwirtschaftlichen Nutzen bewertet, sondern nach ihrem potenziellen Immobilienwert oder nach der Rentabilität, die durch die Umwandlung einer Possessió in einen Agrotourismus, ein Landhotel oder eine Ferienwohnung erzielt werden kann. Der Anstieg der Bodenpreise und die Abscha ung landwirtschaftlicher Aktivitäten sind die letzte Konsequenz des oben Gesagten. In diesem Zusammenhang wird die Notwendigkeit einer Neupositionierung Mallorcas als Destination mit aktuell hoher Tourismusintensität, aber geringer Wertschöpfung deutlich. Die Priorität liegt darauf, innovativ zu sein und sorgsam ausgewählte Alternativen anzubieten. Andererseits müssen wir die durch Corona verursachte gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Situation als die größte und zudem einzigartige Chance akzeptieren, das Image Mallorcas zu verbessern. Unser Vorschlag, der auf dem historischen Erbe der alten Besitztümer basiert, ist, das aktuelle touristische Angebot zu ergänzen und beizutragen, ein Gleichgewicht zu erreichen, das wir momentan nicht haben. EA: Nach Ihren Planungen sollen die Land- güter des Mittelmeerraumes eine vom Europarat anerkannte Kulturroute werden. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden? DZ: Das Programm „Rutas Culturales“ (Kulturrouten) wurde 1987 vom Europarat ins Leben gerufen. Ziel ist es, mithilfe

einer Reise durch Raum und Zeit zu zeigen, wie das Erbe verschiedener Länder und Kulturen in Europa zu einem gemeinsamen kulturellen Erbe beiträgt. Die Kulturrouten setzen die Grundprinzipien des Europarats um: Menschenrechte, kulturelle Demokratie, Vielfalt und kulturelle Die Insel Identität, Dialog, gegenseitiger Austausch und Bereicherung über Grenzen und Jahrhunderte begreifen hinweg. In den letzten Jahren haben wir in folgenden Bereichen gearbeitet: Museu de Mallorca, Palma 1. Beteiligung der Bürger: Schulungsprogramme Diego Zaforteza Torruella ist Geschäftsführer der Fundación Itinerem, die und Führungen mit seit 2017 eines der historisch interessantesten Projekte im Mittelmeer-Raum Grund- und weiterfüh renden Schulen, Präsen vorantreibt: Die Wiederbelebung der meist mittelalterlichen Possessions tationen vor Verbänden, (Landgüter und Herrenhäuser), von denen es auf Mallorca rund 1.250 gibt. Vorträge und Führungen durch private Possessions für die breite Ö entlichkeit etc. 2. Teilnahme ö entlicher und privater Organisationen: Kurse und Vorträge für Erwachsene aus Verbänden und sozialen Einrichtungen, Workshops und andere Initiativen, die in Abstimmung mit den Gemeinden und anderen ö entlichen und privaten Organisationen usw. entwickelt wurden. 3. Verbreitung: Vereinbarungen mit Eigentümern von Besitztümern zur Entwicklung kultureller Aktivitäten, um zu ihrer Erhaltung beizutragen, Vereinbarungen mit den Medien: lokale Presse, Interviews in Radio und Fernsehen, umfassende Präsenz in sozialen Netzwerken. Im Moment konzentrieren wir unsere Arbeit auf die Bereiche, die der Europarat als Voraussetzung für jede Kulturroute betrachtet: • Europäisches Gedächtnis, Geschichte und Erbe. • Zusammenarbeit in Forschung, Entwicklung und Innovation. • Kulturaustausch für junge Menschen und für von Ausgrenzung bedrohte Gruppen. • Zeitgenössische kulturelle und künstlerische Arbeiten. Portraits von Joan Despuig Zaforteza (1788) • Kultureller und nachhaltiger Tourismus.

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Gossalba, Sant Joan Gomera, Llucmajor Sestelrica, Artà Sa Pedrissa, Deià

EA: Welche Rolle spielen die heutigen Besitzer der Landgüter? DZ: Wie bereits erwähnt, haben wir mit den Eigentümern der Besitztümer Vereinbarungen über die Entwicklung kultureller Aktivitäten getro en, um deren Erhaltung zu unterstützen, was bedeutet, dass ihre Rolle von grundlegender Bedeutung ist. Wir haben auch mehr als dreißig Landhotels und Agrotourismus, die in der Vergangenheit als Besitztümer fungierten, in unser kommerzielles Netzwerk integriert. Ohne die Mitwirkung der Eigentümer wäre unsere Arbeit sinnlos,

EA: Die alten Besitztümer sind meist im späten Mittelalter entstanden. Gab es Parallelen zur Siedlungspolitik der im 13. Jahrhundert vertriebenen Mauren? DZ: Diese Frage sollte von einem Experten für Geschichte beantwortet werden, denn um zu wissen, ob die genannten Parallelen bestehen, muss man den historischen Kontext kennen, in dem diese Siedlungen entstanden. Was ich sagen kann ist, dass ein Großteil der Besitzungen aus alten islamischen Bauernhäusern oder Rafales entstanden, die es schon bei der Eroberung Mallorcas zwischen 1229 und 1231 gab. Diese Bauernhäuser oder Rafales waren typische Bauten für landwirtschaftliche Betriebe aus der Zeit der muslimischen Herrschaft zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert. Nach der Eroberung wurde in den meisten Fällen der Name der alten Gehöfte durch den Namen oder die Abstammung des neuen Besitzers ersetzt, dem der Partikel „Son“ vorangestellt wurde, eine Kurzform von açò d'en, was Eigentum bezeichnet. Auf diese Weise entstanden aus dem „Rafal des Herrn Gaspar Dureta" und dem „Rafal von Mossen Ferrando Moix" zwei Höfe oder Possessions, die als Son Dureta und Son Moix bekannt sind.

EA: Einige Hinterlassenschaften der Römer und Mauren wie die Mauern als Befestigung vor allem an Hängen wurden übernommen. Welche Einfl üsse der unterschiedlichen Herrscher Mallorcas sind heute noch sichtbar? DZ: Mallorca hütet eifrig römische Vorbilder, die ihre Gültigkeit behalten und zu bestimmenden Elementen unserer architektonischen Identität wurden. Dies bestätigt nur, dass die von der römischen Armee durchgeführte Arbeit zur Fehlersuche an Bautechniken fruchtbar und weitreichend war. Die mallorquinische mündliche Überlieferung erklärt jedoch immer wieder den Ursprung vieler alter Elemente, schreibt sie der islamischen Zeit zu und das liegt daran, dass ihre Spur als die entfernteste und daher als wahrscheinlicher Ursprung von allem wahrgenommen wird, was „wahrhaftig“ historisch ist. Allerdings ist es vielleicht zutreffender zu sagen, dass die Römer nicht die "Baumeister" schlechthin waren, sondern dass ihr Verdienst darin bestand, alles zu integrieren, zu verbessern und zu systematisieren, was zu ihrer Zeit wirklich e ektiv war. Daher sind die den Mauren zugeschriebenen Techniken vielleicht einfach römisch oder von früheren Kulturen geerbt, integriert und von römischen Baumeistern verbessert worden.

EA: Gibt es, historisch gesehen, Unterschiede unter den einzelnen alten Besitztümern, z.B. in der Bauweise oder der Bewirtschaftung der Ländereien? DZ: Die Hauptunterschiede beim Bau der Possessions hingen hauptsächlich von zwei Faktoren ab. Zum einen die Art der landwirtschaftlichen Produktion auf dem Gut. Zum Beispiel enthielten diejenigen, die sich der Ölherstellung widmeten, alle dafür notwendigen Bereiche, darunter die Ölpresse „Tafona“ (auf Spanisch "almazara"). Auf der anderen Seite, wenn sie sich der Weinherstellung widmeten, war der Weinkeller (auf Spanisch "bodega") der wichtigste Ort. Zum anderen war es notwendig, sich gegen Piratenangri e verteidigen zu können. Dies war besonders relevant für die Possessions, sie sich in Meeresnähe befanden. So zum Beispiel das Anwesen „Son Forteza“ in der Region Manacor, das so nah am Meer gebaut wurde, dass es eher wie eine mittelalterliche Burg als wie ein Bauernhof aussieht (Foto „Son Forteza“).

 Das Gepräch führte Frank Heinrich Fotos: Andrei Constantin, Fundación Itinerem

Weitere Informationen: www.fundacion-itinerem.org Hotel- und Eventbuchungen: www.itinerem.com/de/possessions/

Museu de Mallorca

Son Cosmet, Campos

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