Langau Welle 3/2017

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interner rundbrief der bildungs- und erholungsstätte langau 86989 steingaden www.langau.de

UNSER THEMA

Leben mit Kind mit Behinderung im Jahr 2017


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welle · ausgabe 3.2017

Wenn das Licht durch das raschelnde Blätterzelt In leuchtenden Tupfern ins hohe Gras fällt Tanzen im Spiel von Dunkel und von Helligkeit Bilder einer lang vergangenen Zeit Ich seh‘ Girlanden wehen, Und Menschen sich drehen, Ich hör‘ das Akkordeon und sehe sie Im Reigen sich wiegen, Die Röcke, die fliegen Zum Klang einer altmodischen Melodie.

Wir Kinder war‘n baden am Feuerwehrteich, Barfuß, halbnackt, und jetzt hol‘n sie uns gleich Zum Waschtrog am Haus, wo die Bierkannen kühl‘n, Uns eins nach dem anderen kalt abzuspül‘n. Eng zusammenkauernd, Noch immer erschauernd Da hocken wir auf der verwitterten Bank, Gänsehaut auf den Rippen Und blauschwarze Lippen Vom Baden und von den Brombeeren am Hang.

Ein paar Gartenstühle, zigmal schon lackiert, Ein wackliger Tisch, Wachstuch rot-weiß kariert, Kleine grüne Äpfel am weißen Spalier Und gläserne Krüge mit schäumendem Bier. Die einen spiel‘n Karten Im schattigen Garten, Das Taschentuch links, das Blatt rechts in der Hand. Die andern lesen Beeren Und füllen und leeren Emailleschüsseln mit angeschlagenem Rand.

Und lauter und lauter das Stimmengewirr, Das Lachen, das Singen, das Gläsergeklirr Schon rußen die Lampen, der Tag eilt davon, Und lauter und wilder das Akkordeon. Glänzende Gesichter Und flackernde Lichter, Und noch einen Tanz und ein randvolles Glas, Einander umfassen, Sich mißreißen lassen Erschöpft niedersinken in‘s taufeuchte Gras. Jetzt werden die Kinder zu Bette gebracht, Ein letztes sich Wehren und dann „Gute Nacht“. Ich ahn‘ die Musik im Traum, fröhlich und laut, Und den Duft von Sommer noch auf meiner Haut Und seh‘ Girlanden wehen Und Menschen sich drehen... Reinhard Mey, „Sommer“


Vorwort

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Liebe Leserinnen und Leser, Familien mit einem Kind mit Behinderung: Wie ist ihre Situation im Jahr 2017? Wie gehen Mütter, Väter, Geschwister mit dem Thema in der Familie um? Wo sind Gemeinsamkeiten? Wo sind Unterschiede? Wir haben versucht, in dieser Ausgabe der Welle das Thema Behinderung aus der Sicht der einzelnen Familienmitglieder zu beleuchten. Monika Seifert zeigt uns die Situation der Mütter auf. Luise Behringer beschreibt die Besonderheiten der Väter. Sonja Richter geht in ihrem Beitrag auf die Situation der Geschwister ein. Vielen herzlichen Dank unseren Autorinnen für ihre interessanten Einblicke! Außerdem haben wir in der Familienfreizeit eine Blitzumfrage unter den Familien durchgeführt. Wie sehen Familien im Jahr 2017 ihre Situation selbst? Die Ergebnisse finden Sie ebenfalls in dieser Ausgabe. Im internen Teil gibt es ebenfalls einige tolle Nachrichten. Die Handreichung zu Vätern ist im Juni erschienen, Sonja Richter hat mit ihren Angeboten für erwachsene Geschwister den ersten Preis der Stiftung Familienbande gewonnen. Schließlich gibt es noch ein paar Berichte von Veranstaltungen im Frühling. Wir wünschen Ihnen einen schönen und sonnigen (Rest-)Sommer! ó daniel wilms & simone linke

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Unser Thema

Mütter von Kindern mit Behinderung

Eine Herausforderung, die die Frauen meist unerwartet trifft und erhebliche Auswirkungen auf die eigene Lebensgestaltung und persönliche Zukunftsplanungen hat. Pflege und Betreuung des Kindes, Arztbesuche, Therapiestunden, Behördengänge und weitere Aktivitäten, die mit der Behinderung in Zusammenhang stehen, erfordern viel Zeit, Geduld und Energie, vor allem in den ersten Jahren. Im Mittelpunkt steht die Förderung der körperlichen, sprachlichen und sozialen Fähigkeiten des Kindes und die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Es braucht Unterstützung in der Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung, Hilfestellung beim Knüpfen sozialer Kontakte sowie Anregung und Gelegenheit zu eigenständigem und eigenverantwortlichem Handeln, damit es im Erwachsenenalter ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen kann. Daneben gibt es vielfältige andere Aufgaben: Der Haushalt muss erledigt werden, das Familienklima harmonisch gestaltet und die Partnerschaft gepflegt werden, die Ge-

schwisterkinder dürfen nicht vernachlässigt werden. Die eigene Gesundheit wird oftmals hintangestellt. Raum für eigene Interessen zu schaffen, Kontakte außerhalb der Familie zu pflegen, gelingt nur eingeschränkt. Bestehende Beziehungen zu Freunden, Verwandten und Bekannten erweisen sich in Krisensituationen teilweise als brüchig: Manche bieten Unterstützung, andere ziehen sich zurück. Erfahrungen mit der Umwelt bei gemeinsamen Aktivitäten mit dem Kind – z. B. beim Einkaufen, bei der Erkundung des näheren und weiteren Umfelds, bei öffentlichen Veranstaltungen, auf Reisen – sind teils ermutigend, teils bedrückend. Besonders belastet sind alleinerziehende Mütter mit einem behinderten Kind. Nur wenigen gelingt der (Wieder-)Einstieg ins Berufsleben. Bei geringem Verdienst sind die Frauen oft auf ergänzende Transferleis-

tungen angewiesen. Zur Entlastung stehen institutionelle Angebote zur Verfügung, z. B. Einzelfallhilfe, Kindergarten, Hort, Schule, Freizeitgruppen. Unterstützung über private Netzwerke gibt es nur punktuell. Permanente Überforderung durch fehlende soziale Unterstützung kann die Beziehung zwischen Mutter und Kind stark beinträchtigen, psychische und psychosomatische Beschwerden der Frauen sind keine Seltenheit. Stärkung im Alltag bringt der Austausch mit gleich Betroffenen, z. B. in Selbsthilfegruppen für Alleinerziehende mit behinderten Kindern. Beziehung zwischen Mutter und Kind Im Zusammenleben spielt die subjektive Wahrnehmung der Behinderung eine entscheidende Rolle. Sie ist geprägt durch persönliche Erfahrungen und Eigenschaften, erwartete Konsequenzen und möglichen Bewältigungsstrategien. Erste Weichen werden in der Kommunikation mit Ärzten gestellt,


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z. B. bei der Mitteilung der Diagnose. Die Art und Weise, wie Ärzte die Behinderung beschreiben, prägt die Vorstellung der Eltern über die Zukunftsperspektiven ihres Sohnes oder ihrer Tochter nachhaltig. Einseitige Darstellungen der Defizite werden zum Wahrnehmungsfilter und schaffen Problemwirklichkeiten, die sich nicht unmittelbar aus der Interaktion mit dem Kind herleiten. Demgegenüber stärken Hinweise auf Entwicklungspotenziale, auch bei schweren Beeinträchtigungen, die Beziehung zum Kind und das Bemühen um bestmögliche Förderung. Der Aufbau einer emotional positiv erlebten Beziehung zwischen Mutter und Kind ist die wichtigste Voraussetzung für die kindliche Entwicklung. Sie konkretisiert sich in vorbehaltloser Zuwendung zum Kind, im Erkennen und Aufgreifen seiner Signale, im Erschließen eines nonverbalen Dialogs und in der Entwicklung einer sicheren Bindung als Basis für Lebenszutrauen und Offenheit zur Erkundung der Welt. Bei schweren Beeinträchtigungen ist das Wahrnehmen und Interpretieren der kindlichen Signale oft erschwert. Probleme in der Interaktion nähren bei den Müttern Zweifel an der eigenen Kompetenz, insbesondere in der Anfangsphase.

Unser Thema Bewältigungsprozess Der Alltag wird begleitet durch einen intensiven Prozess der Auseinandersetzung mit der Behinderung und der Bewältigung der veränderten Lebenssituation. Dieser Prozess wird häufig im zeitlichen Verlauf als Phasenmodell dargestellt, das die Stufen der inneren Auseinandersetzung mit der Behinderung idealtypisch als Lernprozess beschreibt. Ausgehend von der Ungewissheit über die Gewissheit mit nachfolgenden heftigen emotionalen, auch aggressiven Reaktionen, der Suche nach „Heilung“ sowie depressiven Stimmungslagen erreichen die Eltern im günstigen Fall das Ziel: die Annahme der Behinderung, die in Aktivität und Solidarität mit Gleichbetroffenen münden kann (vgl. Schuchardt 1985).

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für die häuslichen Aufgaben. Allerdings ist der Wiedereinstieg der Frauen in den Beruf in der Regel mit deutlichen Abstrichen verbunden, z. B. durch Reduktion des Umfangs der beruflichen Tätigkeit, Wechsel in eine Teilzeitbeschäftigung, Verzicht auf Schicht- und Bereitschaftsdienst, auf Fortbildungen oder einen beruflichen Aufstieg. Im Einzelfall werden auch niedrig qualifizierte und schlecht bezahlte Jobs angenommen, die nicht der Ausbildung der Frauen entsprechen. Phasenmodelle nehmen die psychischen Prozesse in den Blick und gehen von einem regelhaften Verlauf der Verarbeitung aus. Die Erfahrungen zeigen jedoch, dass der Bewältigungsprozess keineswegs in allen betroffenen Familien nach dem gleichen Schema läuft. Darum ist zu fragen, warum es unterschiedliche Verläufe gibt. Antwort darauf geben Bewältigungsmodelle, die das individuelle Erleben im Kontext der gesamten Situation der Familien betrachten und auf die Wiedergewinnung des familialen Gleichgewichts zielen – eine Zielsetzung, die in jeder Familie anders aussehen kann. Wesentliche Bedingungsfaktoren sind: • die subjektive Einschätzung der veränderten Lebenssituation (als „Unglück“ oder als Herausforderung, die alle Kräfte bündelt, um sie zu meistern) • die Lebensbedingungen (z. B. Wohnsituation, finanzielle Lage, Familienstruktur), • personbezogene Merkmale der Eltern (z. B. Gesundheit, Bildungsstand, psy-

Ein anderes Modell stellt das Erleben von Müttern als Trauerprozess dar (vgl. Jonas 1990). Es geht davon aus, dass Frauen die Geburt eines behinderten Kind als Verlust des ‚idealen’ Kindes erleben, das sie erwünscht haben. Ihre psychische Befindlichkeit äußert sich in ambivalenten Gefühlen: Zuneigung und Hoffnung vermischen sich mit Enttäuschung, Wut und Ablehnung – bis hin zu Todeswünschen gegenüber dem Kind. Negativ besetzte Emotionen wecken wiederum Schuldgefühle, da sie mit dem von der Gesellschaft erwarteten und von der Frau verinnerlichten Bild einer „guten Mutter“ nicht vereinbar sind. Um dem Mutter-Ideal dennoch nahe zu kommen, kann die optimale Förderung des Kindes zum Lebensinhalt werden – mit der nahezu zwangsläufigen Folge einer Reduzierung der eigenen Sozialkontakte und erheblichen Einschränkungen einer ANGELIKA ENGELBERT, AUTORIN „FAMILIEN IM HILFENETZ“ selbstbestimmten Alltagsgestaltung. Ziel des chische Disposition, Lebenseinstellung, Bewältigungsprozesses ist die Wiedergewinnung der eigenen Autonomie, ohne die biografische Erfahrungen, Lebenspläne, Bedürfnisse des Kindes zu vernachlässigen. Umgang mit Problemen), Denn: Nur eine zufriedene Mutter ist eine • die Qualität der Interaktionen und Beziehungen innerhalb der Familie, die das gute Mutter! Zusammenleben und den Zusammenhalt prägen, Ein Schritt auf dem Weg zur Rückgewinnung • kulturell und milieubedingte Werte, der eigenen Autonomie kann die (Wieder-) • die soziale, materielle und professionelAufnahme einer Erwerbstätigkeit sein. Das le Unterstützung, die der Familie zuteilErfahren eigener Lebensbereiche, die Distanz wird, zum Familienalltag und das Erleben persönlicher Wertschätzung und Anerkennung au• gesellschaftliche sowie gesundheits- und ßerhalb des familialen Kontextes gibt Kraft sozialpolitische Entwicklungen.

Es ist (...) nicht die Behinderung eines Kindes, die die Familie gefährdet, sondern vielmehr die Antwort der Gesellschaft auf diese Behinderung.


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Unser Thema

Kindheit – Jugend – Erwachsenenalter Mit zunehmendem Alter des Kindes verändern sich die Anforderungen an die Familien. Insbesondere an den Übergängen im Lebenslauf müssen immer wieder neue Entscheidungen getroffen werden: Welchen Kindergarten wählen wir? Welche Schule ist richtig für mein Kind? Wie können Freundschaften im Jugendalter initiiert und entwickelt werden? Welcher Arbeitsplatz entspricht den Fähigkeiten und Interessen der Tochter oder des Sohnes? Wann ist der günstigste Zeitpunkt für den Auszug aus dem Elternhaus? Welche Wohnform ist geeignet? Alle diese Übergänge müssen intensiv vorbereitet und begleitet werden. Sie sind mit Prozessen der Ablösung verbunden, die – auf beiden Seiten – eine Neudefinition der Rollen im jeweiligen Lebensbereich erfordern. Für die erwachsen gewordenen Kinder bringt das Wohnen außerhalb der Familie neue Erfahrungen, neue Kontakte und vielfältige Anregungen zur Weiterentwicklung seiner Fähigkeiten und seiner Persönlichkeit. Für Eltern – insbesondere für die Mütter – bedeutet die ‚räumliche’ Trennung eine Erweiterung ihrer Freiräume und ihrer persönlichen Lebensperspektiven. Sie tragen nicht mehr die alleinige Verantwortung, bleiben aber lebenslang Begleiter und Anwalt ihrer Söhne und Töchter. Durch regelmäßigen Kontakt bieten sie ihnen die Sicherheit vertrauter Beziehungen, Stabilität und Verlässlichkeit. Mit zunehmendem Alter der Eltern stellen sich Fragen nach der eigenen Geschichte im Zusammenleben mit dem behinderten Kind und Fragen nach seiner Zukunft. Werden die behinderten Söhne und Töchter nach dem Tod der Eltern im Prozess der Trauer unterstützt? Werden sich die nachfolgenden gesetzlichen Betreuer adäquat um die Belange des behinderten Menschen kümmern? Auch in dieser letzten Lebensphase können Gesprächskreise zu Fragen, die die Eltern bewegen, hilfreich sein. Viele sind von Vereinsamung bedroht, vor allem wenn der Partner nicht mehr lebt.

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Unterstützende Bedingungen Die Bewältigung der alltäglichen Herausforderungen gelingt am besten, wenn soziale Ressourcen zur Verfügung stehen und auch in Anspruch genommen werden. Neben verlässlichen Beziehungen zu Verwandten, Freunden, Nachbarn und Bekannten wird die Teilnahme an Selbsthilfegruppen für viele Familien zur Kraftquelle. Im Austausch mit Gleichbetroffenen bekommen sie nützliche Informationen zu bestehenden Unterstützungsangeboten und zum Einfordern von Rechtsansprüchen. Sie erhalten emotionale Unterstützung für den Umgang mit Schwierigkeiten in ihrem Alltag und finden in einem gemeinsamen Empowerment-Prozess Partner*innen für bildungs-, gesundheits- und sozialpolitisches Engagement zur Verbesserung der gegenwärtigen Situation. Zunehmend bedeutsam werden Internet-Plattformen für Eltern behinderter Kinder. Sie sind nicht nur Informationsquelle sondern ermöglichen auch Kommunikation und Vernetzung mit anderen Familien, i. S. einer „virtuellen Selbsthilfe“. Allerdings ist diese Form der Information und Kommunikation nicht allen Müttern und Vätern gleichermaßen zugänglich. Darum kann auf das herkömmliche Angebot der professionellen Beratung nicht verzichtet werden. Beide Angebote ergänzen sich und können voneinander profitieren. Das Hilfenetz für behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene und ihre Familien ist gut ausgebaut. In allen Lebensbereichen und Lebensphasen gibt es Unterstützungsangebote: Geld- und Sachleistungen, medizinische und therapeutische Leistungen, Beratungsangebote, Frühförderung, Familienentlastende Dienste, Angebote in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Freizeit und Bildung und anderes mehr. Von der Vielfalt der Angebote profitieren allerdings nicht alle Familien: • Familien entlastende bzw. unterstützende Dienste sind nicht flächendeckend verankert. • Strukturelle Unterschiede der regionalen Hilfesysteme führen zu Ungleichbehandlung hinsichtlich der Chancen für gemeinsames Spielen und Lernen. • Die Zersplitterung des Hilfesystems erschwert die Orientierung. Schnittstellenprobleme und Abgrenzungs- bzw. Zuständigkeitsstreitigkeiten bewirken,

dass Eltern behinderter Kinder häufig um ihre Rechte kämpfen müssen. • Informationsdefizite haben ungleiche Zugangschancen zum Hilfesystem zur Folge, z. B. bei niedrigem Bildungsstand der Eltern. Insbesondere Familien in Armut und Benachteiligung und Familien mit Migrationshintergrund werden von den Angeboten kaum erreicht

Resümee: Was brauchen die Mütter? Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass es einem großen Teil der Familien gelingt, sich mit der neuen Situation zu arrangieren, das familiale Gleichgewicht wiederherzustellen und den Alltag so zu gestalten, dass die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt werden. Im Zusammenleben mit dem Kind entwickeln Mütter vielfältige Kompetenzen. Die neuen Erfahrungen werden häufig als Gewinn für die eigene Entwicklung erlebt. Wichtige Voraussetzungen für eine gelingende Bewältigung der Herausforderungen sind: • eine Beratung, die Entscheidungshilfen bei der Auswahl individuell passender Unterstützungsangebote gibt und die Bedarfslagen und Bedürfnisse der ganzen Familie berücksichtigt; • praktische Entlastung / Unterstützung durch Dienste und Einrichtungen; • emotionale Entlastung / Unterstützung durch Elternselbsthilfegruppen, Müttergruppen, Vätergruppen, Geschwistergruppen die Einbindung in soziale Netze durch sozialraumorientierte Arbeit der professionellen Unterstützer*innen und das Engagement von freiwilligen Helfer*innen – als „Brückenbauer“ bzw. „Türöffner“ in die Gemeinde; • die Stärkung der eigenen Kräfte durch Empowerment, im Rahmen von Bildungsangeboten und durch Beteiligung an Selbsthilfegruppen; • ein gesellschaftliches Klima, das die Verschiedenheit von Menschen anerkennt und behinderungsbedingte notwendige Hilfen zur Teilnahme am allgemeinen Leben auch in Zeiten knapper Kassen nicht in Frage stellt. FOTO: SHUTTERSTOCK.COM/279PHOTO STUDIO


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Viele Mütter und Väter werden als Expert*innen in eigener Sache selbst aktiv, um ihre familiale Situation und die Entwicklungschancen ihrer Kinder zu stärken und deren Integration in allen Lebensbereichen zu unterstützen. Aktiv werden können Eltern jedoch nicht allein. In ihrem Engagement für die Rechte behinderter Menschen und ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft brauchen sie die Unterstützung ihres sozialen Umfelds und die Solidarität und Aktivität von Verantwortungsträgern in unterschiedlichen Bereichen. ó Eine vollständige Literaturliste erhalten Sie gern auf Anfrage bei der Redaktion.

Dr. phil. Dipl.-Pädagogin Monika Seifert, M.A. Vorsitzende der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft e.V., freiberuflich tätig als Sozialwissenschaftlerin, Fachreferentin, und Autorin. monikaseifert@gmx.de

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Unser Thema

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Väter von Kindern mit Behinderung Voll dabei wenn man sie lässt

Eine wachsende Zahl von Vätern wünscht sich eine aktivere Mitwirkung an der Kinderfürsorge i. S. einer körperlichen und emotionalen Versorgung der Kinder (Betreuung, Erziehung und Bildung) und signalisiert die Bereitschaft, beruflich zeitweise zurückzutreten, z. B. würde gerne ein Drittel der Väter ihre Arbeitszeit reduzieren (BMFSFJ 2015). In der Väterforschung wird für diesen Vatertyp heute meist der Begriff des „neuen“ Vaters (oder auch aktiven, engagierten oder involvierten Vaters) verwendet (Eickhorst 2005, 15), der im Gegensatz zum „traditionellen“ Vater, als Verantwortungsperson auch im Familienalltag in die Versorgung, Pflege und Erziehung der Kinder eingebunden ist. Für eine entsprechende Vaterschaft gibt es allerdings kein eindeutiges Modell. In Abstimmung mit ihren Partnerinnen entwickeln Väter vielmehr unterschiedlichste Arrangements, in denen sie aktiv Fürsorgeaufgaben übernehmen, auch solche, die über Spielen und Ausflüge hinausgehen. Väter unterscheiden sich aber danach, in welchem Umfang sie das tun und ob sie dafür ihre Berufstätigkeit antasten oder gar reduzieren, wenn es z. B. die Pflege kranker Kinder oder die Mitwirkung in der Hausarbeit erfordern; beides Bereiche, die bei Kindern mit Behinderung besonders ins Gewicht fallen (Possinger 2013). Auch in der Psychologie wird die Bedeutung der Väter für die Entwicklung der Kinder hervorgehoben. Sie sind von Geburt an eine wichtige Bindungsperson für ihre Kinder

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Forschungen zu Eltern bzw. Familien mit Kindern mit Behinderung beziehen sich weitgehend auf die Situation der Mütter. Denn sie sind es, die als Hauptbezugs- und Pflegepersonen ihrer Kinder im Mittelpunkt des Interesses stehen, wenn es um Belastungen und Bewältigung sowie Unterstützung im Alltag geht. Vätern wird dabei eine eher marginale Rolle zugewiesen, da sie als Hauptverdiener im Alltag weniger präsent sind. In den letzten Jahrzehnten ist in den Familien jedoch eine Menge in Bewegung geraten und für Mütter ist es ebenso wenig selbstverständlich ihre Berufstätigkeit für viele Jahre zurück zu stellen wie für Väter die fast ausschließliche Verantwortung für das Familieneinkommen. Das belegt auch der Familienreport 2014 (BMFSFJ 2015).

und sind ebenso in der Lage, feinfühlig auf ihre Bedürfnisse einzugehen und sie liebevoll zu versorgen. Dabei können sie sich durchaus von den Müttern unterscheiden, z. B. indem sie gelassener auf Weinen ihrer Kinder reagieren oder wilder und fordernder mit ihnen spielen. Diese Unterschiedlichkeit ist eine Bereicherung für das Kind, es kann vielfältigere Erfahrungen mit emotionaler Fürsorge und Regulation sowie Exploration Belastungen und Bewältigung machen (Ahnert 2016; Grossmann & Grossmann 2004).

Neuere Untersuchungen belegen, dass Väter das Bindungsverhalten unterstützen, wenn sie schon im Säuglingsalter in die Fürsorgearbeit aktiv einbezogen sind. Und eine sichere Vater-Kind-Bindung in der frühen Kindheit hat eine protektive Wirkung für eine gesunde emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes. Dabei ist ein positiver Einfluss des Vaters ist am ehesten dann zu erwarten, wenn auch die Qualität der Beziehungen innerhalb der Familie, zur Partnerin und zu anderen Kindern und Familienange-


Unser Thema

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hörigen positiv ist. Das beinhaltet auch, dass die Eltern sich über die Arbeitsteilung und das Engagement der Väter einig sind (Becker-Stoll 2014).

Väter von Kindern mit Behinderung Die eingangs kurz skizzierten Entwicklungen gelten auch für Familien und Väter von Kindern mit Behinderung. Auch Väter von Kindern mit Behinderung sind in erster Linie Väter eines Kindes und sie verstehen sich ebenso als Erzieher, die mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen möchten. Die Geburt ihres Kindes ist, wie bei jedem Paar mit einer Verunsicherung und Neuorientierung verbunden, die Anpassungsprozesse erfordert. Darüber hinaus stellt die Geburt eines Kindes mit Behinderung jedoch eine spezifische Herausforderung für Eltern dar, die sowohl ihre Vorstellungen bezüglich der Elternrollen als auch ihre geplanten Arrangements in Frage stellen können. Das kann dazu führen, dass sich traditionelle Rollen festigen, Väter sich aus der Versorgung des Kindes heraushalten (und von den Müttern herausgehalten werden), eine distanzierte Beziehung zum Kind entwickeln und Probleme haben, sich mit dessen Behinderung auseinander zu setzen. „Traditionale Väter“ - wie Hinze sie nennt, verdrängen ihre Gefühle und vermeiden es, Kontakt zu Fachleuten, Verwandten oder Freunden aufzunehmen. Dadurch erfahren sie weniger emotionale sowie soziale Unterstützung. Es fällt ihnen schwerer, die Behinderung zu bejahen und sie fühlen sich in ihrem Selbstwert und ihrer Rolle als Mann in Frage gestellt (Hinze 1993; Seifert 2003). In vielen Familien engagieren sich Väter jedoch trotz einer eher traditionellen Aufteilung der Zuständigkeiten. Entweder sie helfen in ihrer oft knappen Freizeit ihrer Frau bei der Versorgung, Pflege und Betreuung des Kindes oder der höhere Pflegebedarf des Kindes trägt zu einem veränderten Rollenverhalten der Väter bei. „Neue Väter“ Väter reduzieren ggf. ihre Arbeitszeit und beteiligen sich an der Hausarbeit sowie Pflege und Betreuung des Kindes. Wenn es erforderlich ist, übernehmen sie auch die Termine für Behandlungs- und Fördermaßnahmen ihrer Kinder. Durch ihr Engagement und ihre alltägliche Interaktion mit dem Kind entwickeln sie eine engere Bindung und sind für das Kind eine zentrale Bindungsperson. Da sie aber nicht den ganzen Tag in die Be-

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Ich hab‘ halt g’lernt, dass nicht der Mercedes im Leben wichtig ist, sondern dass man g’sund ist, dass man sich mit den Partner verträgt in der ganzen Familie, von A bis Z.

EIN VATER

treuung eingebunden sind, haben sie eine größere Distanz und oftmals eine optimistischere Sicht auf ihr Kind. Und durch die Erfahrungen mit ihrem Kind verändern sich auch ihre Werthaltungen (Hinze 1993). Ein Vater bringt das auf den kurzen Nenner: „Ich hab‘ halt g’lernt, dass nicht der Mercedes im Leben wichtig ist, sondern dass man g’sund ist, dass man sich mit den Partner verträgt in der ganzen Familie, von A bis Z.“ Insgesamt zeigt sich, dass eine Bewältigung der alltäglichen Aufgaben in einer Familie besser gelingt, wenn Väter in die Pflege- und Betreuungsaufgaben aktiv involviert sind. Ihre Beteiligung wirkt sich positiv auf das Belastungsempfinden und die Resilienz in der gesamten Familie aus (Retzlaff 2016). Gleichwohl berichten Väter von zum Teil massiven Belastungen.

Belastungen und Bewältigung Untersuchungen zu Belastung und Bewältigung belegen nicht nur einen Unterschied in der Reaktion von Vätern entsprechend ihrer Rolle und ihres Engagements in der Familie. Unterschiede bestehen auch zu den Bewältigungsstrategien der Mütter. Insgesamt reagieren Väter tendenziell weniger emotional und sind in ihrem Bewältigungshandeln eher kognitiv orientiert. Väter sind stärker auf der Suche nach Informationen und logischen Erklärungen zur spezifischen Behinderung, erkunden Behandlungsmöglichkeiten und setzen sich oft kämpferisch mit Behörden und Krankenkassen auseinander (Retzlaff 2016). Aufgrund ihrer rationalen Orientierung sehen sie in der Diagnose einen klaren Sachverhalt, der es erfordert, sich der veränderten Situation anzupassen und anzupacken, was ein Vater deutlich zum Ausdruck bringt „...und ich hab mir dann aber auch relativ schnell gesagt, akzeptier es oder zerbrich dran.“. Sie tragen ihre Gefühle weniger nach außen und vermitteln ihren Partnerinnen damit „wir schaffen das schon“. Damit geben sie ihren Frauen Rückhalt in der schwierigen und belastenden Situation (Roth 2013).

Dies ist eine wichtige Ressource, denn die Neuorganisation familiärer Lebensplanung, beginnend bei der Neustrukturierung des familiären Alltags, kann für die Familie mit einem behinderten Kind eine sehr anstrengende Phase darstellen. Die Betreuung und Pflege ihres Kindes, verbunden mit den Bemühungen um eine adäquate Förderung, die oft einhergeht mit vermehrter körperlicher Anstrengung, wirkt sich nicht nur physisch aus, sondern schränkt die für andere Aktivitäten verfügbare Zeit merklich ein. Der körperliche Zustand eines Kindes mit Behinderung führt zudem häufig dazu, dass nichts mehr langfristig geplant werden kann (Eckert 2002). Die Anpassung an die neue Situation sowie die erlebte Belastung bzw. das Stresserleben hängen mit unterschiedlichen Faktoren zusammen, wie dem Ausmaß und Schweregrad der Behinderung, der Qualität der Partnerschaft bzw. des Familienkohärenzgefühls sowie der sozialen Unterstützung. Die Belastungen verstärken sich im Laufe der Jahre häufig, z. B. weil die Kinder größer und schwerer werden und sich die Pflegeanforderungen dadurch erhöhen. Wenn die Kinder aus dem Freundeskreis sich weiter entwickeln und zunehmend autonomer werden, wird die Behinderung oftmals erst richtig bewusst und es zeigt sich immer deutlicher, dass eine gesellschaftliche Teilhabe mit erhöhten finanziellen Kosten verbunden ist. Laut der Langzeitstudie EICS (Early Intervention Collaborative Study, in Krause 2008) hat die Belastung nach zehn Jahren häufig einen Grad erreicht, der Beratung erforderlich macht. Da Väter problembezogenen Gesprächen eher aus dem Weg gehen, bekommen sie aber weniger emotionale Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit der Behinderung. Daraus lässt sich folgern, dass Angebote, die die spezifischen Bedürfnisse von Vätern berücksichtigen dringend erforderlich sind. Fröhlich (2007) stellte in einer Untersuchung zu Angeboten in der Frühförderung


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Um den Bedürfnissen der Väter Rechnung zu tragen, wurde an der Bildungs- und Erholungsstätte Langau e.V. ein vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration gefördertes Projekt

Das ist mal was Neues, würd‘ ich sagen, so ausgleichende Gerechtigkeit. Fand das schon ganz sinnvoll, Väter da auch mal einzubinden EIN VATER

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fest, „dass Väter erst in allerkleinsten Ansätzen als eine eigene Gruppe mit eigenen Bedürfnissen gesehen werden. In einigen Einrichtungen wird der Vater als ‚Elternbestandteil‘ sehr wohl gesehen und auch als Gesprächspartner gewünscht, man versucht ihm entgegenzukommen, z. B. durch größere zeitliche Flexibilität, die sich auch nach seiner Arbeitszeit richtet. Zum Erstgespräch werden Väter häufig namentlich eingeladen. Dann aber zeigt sich, dass darüber hinaus kaum Ideen vorliegen, wie man die Zusammenarbeit mit den Vätern spezifisch gestalten könnte“ (Fröhlich 2007, S. 100).

durchgeführt, in dem gemeinsam mit kooperierenden Einrichtungen Konzepte und Angebote für Väter von Kindern mit Behinderung entwickelt wurden. Zielsetzung war, gemeinsam mit kooperierenden Einrichtungen, wie z. B. Tagesstätte, Sozialpädiatrisches Zentrum, Wohnheim, Frühförderung, Nachsorgezentrum für den jeweiligen Kontext „maßgeschneiderte“ Angebote für Väter zu entwickeln. Der Leiter des Projekts Daniel Wilms stellte seine Kompetenzen den kooperierenden Einrichtungen für alle dabei notwendigen Schritte zur Verfügung: Von den ersten Überlegungen, über die Entwicklung der Ideen, der Planung und Organisation bis zur Mitwirkung bei der Durchführung (Ge-

naueres dazu in der Handreichung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziales, Familie und Integration 2017). Noch, so hat sich gezeigt, sind Einrichtungen auf Unterstützung angewiesen, wollen sie Väterarbeit entwickeln und implementieren. Mit der Fachstelle „Väter von Kindern mit Behinderung“ an der Bildungs- und Erholungsstätte Langau wurde eine solche Basis geschaffen, die vielleicht auch dazu beiträgt, irgendwann die Aussage eines Vaters obsolet werden zu lassen, da väterliches Engagement und Beteiligung normal und alltäglich ist: „Das ist mal was Neues, würd‘ ich sagen. Also bisher sind stärker die Mütter involviert in das Ganze und, na ja, so ausgleichende Gerechtigkeit fand ich das schon ganz sinnvoll, Väter da auch mal einzubinden.“ ó Eine vollständige Literaturliste erhalten Sie gern auf Anfrage bei der Redaktion.

Prof. Dr. Luise Behringer, Dipl. Psychologin Katholische Stiftungsfachhochschule München, Abteilung Benediktbeuern luise.behringer@ksfh.de

Handreichung zu Vätern von Kindern mit Behinderung erschienen Am 26. Juni 2017 wurde im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration die Handreichung „Das ist mal was Neues, würd‘ ich sagen.“ Angebote für Väter von Kindern mit Behinderung – eine Handreichung für die Praxis vorgestellt. Die Broschüre fasst die Ergebnisse und Befunde der Begleitforschung von Prof. Dr. Luise Behringer, Wolfgang Gmür und Gerhard Hackenschmied (beide Institut für Praxisforschung und Projektberatung München des Pilotprojekts „Väter von Kindern mit Behinderung“ an der Bildungs- und Erholungsstätte Langau zusammen. Zielgruppe der Handreichung sind Fachkräfte in der Behindertenhilfe, die sich dem Thema „Väter“ widmen möchten. Die Handreichung steht zum kostenlosen Download unter www.bestellen.bayern.de

V.l.n.r.: Daniel Wilms, Wolfgang Gmür, Prof. Dr. Luise Behringer, Peter Barbian, Ministerialrätin Dorothee Zwintz und Ministerialdirektor Burkard Rappl bei der Vorstellung der Handreichung im Bayerischen Staatsministerium. bereit. Wir freuen uns ganz herzlich, wenn Sie Einrichtungen der Behindertenhilfe, mit denen Sie im Kontakt stehen, auf die Handreichung, sowie auf die neu entstehende Fachstelle „Väter“ aufmerksam machen.

Wir bedanken uns ganz herzlich beim Bayerischen Sozialministerium für die Förderung des Projekts, sowie für die weitere Förderung der Fachstelle Väter. ó daniel wilms


Hätte ich nicht meinen Bruder, wäre ich heute nicht wer ich bin und was ich kann! EIN GESCHWISTERKIND

Haben Sie Geschwister? Und hätten Sie gerne welche?

Die Beantwortung fällt nicht immer eindeutig aus. Je nach Lebensphase und Beziehung vielleicht mal ja und mal nein. Wie auch immer, zum Geschwister wird man gemacht. Man kann es sich nicht aussuchen. Entwicklungspsychologen und Familienforscher1 beschreiben die Geschwisterbeziehung als einen Bestandteil der persönlichen Sozialisierung und Selbstbildentwicklung. Sie kann nicht beendet werden und wirkt fort, auch wenn kein Kontakt mehr besteht.

So hat jedes Kind und Geschwister unterschiedliche Rahmenbedingungen – eine Art Startkapital, das individuell bewertet und genutzt wird.

Obwohl Geschwister einen Großteil gleiche Gene besitzen und in der Regel in der gleichen sozialen und kulturellen Umwelt aufwachsen, entwickeln sie sich ganz unterschiedlich. Sie prägen mehr oder weniger unterschiedliche Persönlichkeitseigenschaften, Interessen, Leistungen aus. Unterschiede entstehen durch verschiedene Einflussfaktoren. Die Reihenfolge der Geburt, das Geschlecht, der Altersabstand und die Geschwisterzahl sind solche Faktoren. Elterliche Erwartungen an die Kinder, Vorbilder, Werte, Normen, soziales Umfeld sowie Ressourcen spielen ebenfalls eine Rolle. Selbst wenn sie wollten, können Eltern nicht jedes Kind gleich behandeln. Unterschiedliche Entwicklungen, Lebensphasen und Eigenschaften machen unterschiedliches erzieherisches Vorgehen notwendig.

Circa zwei Millionen Geschwisterkinder leben in Deutschland.2 Für diese Kinder besteht ein leicht erhöhtes Risiko Verhaltensauffälligkeiten, emotionale oder soziale Probleme zu entwickeln. 70 Prozent der Geschwisterkinder nehmen einen gesunden Entwicklungsverlauf mit geringem Belastungsrisiko, 20 Prozent haben ein erhöhtes Risiko und bei 10 Prozent geht man von einem hohen Belastungsrisiko aus, bei dem es unter Umständen therapeutische Intervention bedarf.

Die Situation der „Geschwisterkinder“

Schwierigkeiten, die für Geschwisterkinder belastend wirken können, sind beispielsweise: • dem Alter unangemessene Betreuungsaufgaben und damit Überforderung

• Häufiges hinten anstellen der eigenen Bedürfnisse und Wünsche • Idealisierung des behinderten Geschwisters oder starke Rivalität und Aggression • Eingeschränkte Möglichkeiten eigene soziale Kontakte außer Haus zu pflegen • Diskriminierung in der Schule bzw. im sozialen Umfeld • Konflikte innerhalb der Familie • Reduzierte Aufmerksamkeit der Eltern • Loyalitätskonflikte • Leistungsdruck • Gefühle wie Scham, Schuld, Angst, Unsicherheit Dem gegenüber stehen Chancen und positive Lerneffekte für Geschwisterkinder: • Hilfsbereitschaft • Selbständigkeit • Selbstbewusstsein • Verantwortungsbewusstsein • Offenheit und Toleranz • Lösungskompetenz • Urteilsvermögen


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Rubrik

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Wir führten Interviews mit zwei erwachsenen Geschwistern, die gerne anonym bleiben möchten (das zweite Interview siehe Kasten nächste Seite): Als jugendliches / erwachsenes Geschwister bin ich heute:

Sozial, vorausschauend, verantwortungsvoll, Grenzen setzend, wütend, tolerant Ich bin mit einer Schwester / einem Bruder mit Behinderung groß geworden; deshalb bin ich / kann ich: Bilder sagen mehr als tausend Wort – deshalb arbeiten wir in den Geschwisterseminaren gern mit solchen Holzpuppen. • Menschenkenntnis • Widerstandsfähigkeit Eltern fragen sich, wie sie ihr Geschwisterkind positiv unterstützen können, was es braucht. Geschwisterkinder brauchen nicht mehr aber auch nicht weniger als andere Kinder auch. • Sicherheit, Klarheit und Orientierung – Geschwisterkinder brauchen klare Regeln und die Gewährleistung der eigenen Betreuung, möglichst durch feste Bezugspersonen. Kinder haben Fragen, die altersgerecht und ehrlich beantwortet werden sollten. • Vertrauen – Durch das altersgerechte Einbeziehen in das Geschehen und in Entscheidungen, durch Information und Wissensvermittlung kann das Geschwisterkind Vertrauen erlangen und sich als gleichwertigen Teil der Familie wahrnehmen. • Verständnis – Durch ein offenes Ohr für die Belange des Geschwisterkindes, für seine ganz persönlichen Interessen und Ideen erlebt sich das Geschwisterkind als eigenständiges und wichtiges Individuum, das sich frei entfalten darf. • Zeit – Geschwisterkinder schätzen Zeit, die sie mit den Eltern verbringen können. Vielen geht es dabei weniger um die Quantität als vielmehr um qualitativ wertvolle Zeit, die sich Eltern für sie nehmen. • Gerechtigkeit – Nicht immer hat das Kind mit Behinderung recht und Vorrang. • Außenkontakte – Die Möglichkeit für einen eigenen Freundeskreis und eigene Freizeitgestaltung.

• Praktische und emotionale Entlastung – Das Annehmen externer Unterstützungsund Hilfsangebote kann Entlastung schaffen. Ebenso der Austausch mit anderen, die in ähnlichen Situationen leben. • Eltern sind Vorbilder. Gelingt es ihnen die Behinderung oder schwere Erkrankung zu akzeptieren und einen angemessenen sowie ruhigen Umgang damit zu finden, profitieren Geschwisterkinder davon. • Gefühle und Bedürfnisse – Ein Kind, das unterstützt wird, seine eigenen Bedürfnisse zu kennen und dafür Sprache und Ausdruck zu finden, wird später leichter in der Lage sein, ein unabhängiges eigenes Lebenskonzept zu entwerfen.

Erwachsene Geschwister von Menschen mit Behinderung / chronischer Erkrankung In Workshops für Erwachsene Geschwister von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung begegnen mir Geschwister, die sich damit beschäftigen wie sie geworden sind wer sie sind. Sie merken, sie haben eine besondere Prägung erfahren. Manchen ist diese nicht wirklich greifbar und ihre Gefühlswelt empfinden sie diffus. Deshalb wollen sie mehr darüber wissen, um sich selbst besser zu verstehen und neu zu verorten. Das Altersspektrum der Geschwister, die das erste Mal einen Workshop besuchen, erstreckt sich von Mitte zwanzig bis Anfang fünfzig Jahre. Die meisten kannten bislang keine Angebote für Geschwisterkinder. Im Jugendalter und als junge Erwachsene stand dann für sie zunächst die Berufsfindung und die weitere eigene Lebensplanung im Vordergrund.

Siehe Frage 1 Aus meiner heutigen Sicht empfehle ich jüngeren Geschwistern:

Auf sich achten, Angebote für Geschwisterkinder suchen und besuchen, „Gleichgesinnte“ zum Austausch suchen. ... Eltern von Kindern mit Behinderung und Geschwistern

Auf sich achten, Angebote für Geschwisterkinder suchen und zum Besuch aufmuntern, „Gleichgesinnte“ zum Austausch suchen, Kinder auch Kinder sein lassen, die eigenen Erwartungen an die „gesunden“ Kinder reflektieren. ... Fachkräften:

Auf sich achten, Geschwisterkinder als Teil der Familie / Angehörige sehen, Was würdest Du Dir von Mitmenschen hinsichtlich des Umgangs mit Menschen mit Behinderung und Geschwistern wünschen?

Weniger Angst, offen für das „Andere“ sein. Fragen stellen, miteinander Reden und zwar „normal“


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welle · ausgabe 3.2017

Dem Entschluss, sich einem Treffen oder einem Workshop anzuschließen, geht meist ein längerer Prozess voraus. Sie merken, dass das Geschwister-Dasein in einigen Lebensbereichen Einfluss genommen hat, bei der Berufswahl, bei der Wahl des Wohnortes bis hin zur Partnerwahl. Das interessiert und macht neugierig. Sie suchen nach Gleichgesinnten, um mehr darüber zu erfahren und Erfahrungen auszutauschen. Einige glauben, ihre manchmal ambivalente Gefühlsund Gedankenwelt sei un-normal. Beim Treffen mit anderen Geschwistern machen sie die gegenteilige Erfahrung, denn andere berichten von ähnlichen Gedanken und Gefühlen.

Eine bewusste Rückschau und Reflexion zum Geschwister-Dasein wird oft dann aufgenommen, wenn Übergänge in nächste Lebensphasen bevorstehen. Zum Beispiel, wenn die eigene Familienplanung in den Blick genommen wird oder wenn sich abzeichnet, dass die Eltern alt und nicht mehr so leistungsfähig werden. Dann kommen neue, ganz praktische, Fragestellungen auf. Beispielsweise Fragen zur Versorgung des behinderten Geschwister, wenn die Eltern einmal nicht mehr sind; Fragen zur gesetzlichen Betreuung und Erbschaft; Fragen zur Wohnsituation des behinderten Geschwister; Erwachsene Geschwister wünschen sich hierüber offene Gespräche mit den Eltern und auch einen Austausch mit anderen Geschwistern, um von deren Erfahrungen zu profitieren. Es sind besondere Themen, denen sich erwachsene Geschwister stellen. Gleichzeitig berichten sie auch von den positiven Lebenserfahrungen und Fähigkeiten, die sie im

Erwachsene Geschwister suchen nach Antworten auf unterschiedliche Fragestellungen. Sie überprüfen ihre Persönlichkeitsentwicklung: „bin ich zu sozial, zu nachgiebig, zu hilfsbereit oder gar zu kalt geworden?“ Bin ich wirklich die Person, die ich bin und sein will? Was sind meine ureigenen Bedürfnisse und Wünsche. Darf ich mir diese gestatten und erfüllen? Dabei möchten sie ihre Herkunftsfamilie nicht im Stich lassen. „Für mich war immer klar, dass ein Partner in meinem Leben keinen Platz findet, weil ich später einmal meinen Bruder betreuen werde“, beschreibt eine Kursteilnehmerin (45) ihre Situation. „Ich habe die Möglichkeit eines beruflichen Auslandsaufenthalts abgelehnt, um nahe bei der Familie zu sein“, erzählt ein 28-jähriger Doktorand, „insgeheim wurmt mich das sehr“. Ein 31-jähriger angehender Vater fragt sich, ob er sich nicht Verhaltensweisen angeeignet hätte, die für die künftige Erziehung seines Kindes ungünstig seien. „Ich habe praktisch zuhause nicht stattgefunden, außer ich war als Helferin meiner Schwester tätig“, bedauert eine angehende Förderlehrerin. Und eine 36-jährige Mutter sieht besorgt: „Meine kleine Tochter ist auf meinen behinderten Bruder eifersüchtig, weil ich mich um ihn so viel kümmere. Genau wie ich als Kind“.

Ich war sehr früh auf mich allein gestellt. Heute kommt mir das zugute, ich kann Dinge, die haben andere Klassenkameraden nicht drauf. EIN GESCHWISTERKIND

Laufe ihres Lebens durch die Behinderung des Geschwister erlangen konnten. Für sich das richtige Maß an Verbundenheit und Autonomie zu finden, ist wahrscheinlich die besondere Herausforderung und Lebensaufgabe für Geschwister von Menschen mit Behinderung.3 ó sonja richter Eine vollständige Literaturliste erhalten Sie gern auf Anfrage bei der Redaktion.

www.langau.de www.erwachsene-geschwister.de www.geschwisternetz.de www.geschwisterkinder.de www.stiftung-familienbande.de

Als jugendliches / erwachsenes Geschwister bin ich heute:

in vielen Dingen selbständiger und selbstbewusster wie manche Geschwister ohne behinderte Geschwister Ich bin mit einer Schwester / einem Bruder mit Behinderung groß geworden; deshalb bin ich / kann ich:

sensibler für hilfsbedürftige Menschen / kann ich das Leben aus einer anderen Perspektive betrachten. Aus meiner heutigen Sicht empfehle ich jüngeren Geschwistern:

Kontakte zu anderen Geschwistern zu ermöglichen ... Eltern von Kindern mit Behinderung und Geschwistern

die nicht behinderten Geschwister nicht zu sehr zu fordern und ihnen nicht indirekt das Gefühl zu geben, helfen zu müssen. ... Fachkräften:

Ansprechpartner für Lösungsansätze bei Problemen für die ganze Familie zu sein und möglichst frühzeitig viele Perspektiven und Alternativen aufzuzeigen. Und ganz generell: Aus meiner heutigen Sicht empfehle ich von Beginn an sehr offen mit dem Thema Behinderung umzugehen und den Freundes- und Verwandtenkreis von Beginn an in die Thematik zwanglos mit einzubeziehen um Vorurteile und Berührungsängste abzubauen. Was würdest Du Dir von Mitmenschen hinsichtlich des Umgangs mit Menschen mit Behinderung und Geschwistern wünschen?

Mehr Verständnis und Wahrnehmung, insbesondere für die Belastung der einzelnen Familienmitglieder und der Auswirkung auf das alltägliche Leben.

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Langau erhält Förderpreis

Die Bildungs- und Erholungsstätte Langau erhält FamilienBande-Förderpreis in Höhe von 4.000 Euro für das Seminar „Erwachsene Geschwister“ FOTO: STIFTUNG FAMILIENBANDE

Zwischen zwei und drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben mit einem schwer chronisch erkrankten oder behinderten Geschwisterkind. Jede 5. Familie mit zwei oder mehr Kindern ist betroffen. Oft machen sich die speziellen Herausforderungen von Geschwisterkindern erst im Erwachsenenalter bemerkbar. Um den gesunden Geschwistern und ihren Familien eine systematische, am Bedarf ausgerichtete und flächendeckende Unterstützung zu gewähren, lobt die Novartis Stiftung FamilienBande regelmäßig einen Förderpreis aus. Der FamilienBande-Förderpreis 2016/2017 war insgesamt mit 15.000 Euro dotiert, die in zwei Kategorien vergeben wurden: • die Kategorie GeschwisterCLUB, ein übertragbares modulares Versorgungskonzept • die Kategorie „Erwachsene Geschwister“. Eine Fachjury wählte die Preisträger aus insgesamt 21 Bewerbungen aus. Die Preisverleihung fand im Rahmen der FamilienBande-Fachtagung „Geschwisterkind ist man ein Leben lang“ am 23. Juni in Nürnberg statt. Die Bildungs- und Erholungsstätte Langau e. V. erhielt die Auszeichnung in der Kategorie „Erwachsene Geschwister“ für das „Wochenend-Seminar für ERWACHSENE GESCHWISTER von Menschen mit Behinderung bzw. mit chronischer Erkrankung“

Angebot ist mit den Geschwistern erwachsen geworden Seit Mitte der 90er Jahre gibt es in Langau die ersten Geschwisterprojekte für Kinder und Jugendliche. Inzwischen sind die Angebote gemeinsam mit den Geschwistern „erwachsen“ geworden. Da sich die Lebenssituation der Geschwister im Laufe der Jahre ändert, stellen sich immer wieder neue Herausforderungen und Fragen. Und Angebote, die sich auf die spezielle Lebenssituation erwachsener Geschwister beziehen, existieren im deutschsprachigen Raum kaum.

Sonja Richter (2. v.l.) freut sich über den FamilienBande-Förderpreis in Höhe von 4.000 Euro ihre Arbeit mit erwachsenen Geschwistern. V.l.n.r.: Mark Grossien, (Stiftung FamilienBande), Sonja Richter, Christoph Gräf (Stiftung Liebenau), Irene von Drigalski (Stiftung FamilienBande)

Die Jury hob besonders hervor, dass das ausgezeichnete Wochenendeseminar sehr professionell ist, mit einem systemischen Ansatz arbeitet und überregional aufgestellt ist. Mit dieser Preisverleihung soll die Bedeutung dieses speziellen Angebots für erwachsene Geschwister gewürdigt werden sowie die Beständigkeit der Geschwisterangebote in „der Langau“, die inzwischen als generationenübergreifend bezeichnet werden können. Das Preisgeld in Höhe von 4.000 Euro soll für die Weiterentwicklung des Angebots verwendet werden sowie für die Konzeptentwicklung zur gezielten und geplanten Schulung von jungen erwachsenen Geschwistern als Begleiter*innen für Geschwisterkinder und jugendliche Geschwister. Die Fachjury: • Dr. phil. Dipl.-Psych. Birgit Möller (Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, - psychosomatik und -psychotherapie Münster) • Andreas Podeswik (Bundesvereinigung Bunter Kreis gGmbH/ISPA – Institut für Sozialmedizin in der Pädiatrie Augsburg) • Dipl. Sozialpäd. Eberhard Grünzinger (systemischer Supervisor, Autor und

langjähriger Leiter zahlreicher Angebote für Geschwister von Menschen mit Behinderung aller Altersstufen)

Über die Stiftung FamilienBande Die Stiftung ging 2012 aus einer Initiative der Novartis-Gruppe Deutschland hervor und wird seither von dieser unterstützt. Ziel der Stiftung FamilienBande ist es, dass sich Geschwister von chronisch kranken oder behinderten Brüdern und Schwestern und ihre Familien ungestört entwickeln können. FamilienBande klärt über die besondere Familiensituation auf, entwickelt mit Experten aus Wissenschaft und Praxis Angebote, sorgt für Vernetzung und Know-how-Transfer und macht wissenschaftliche Erkenntnisse verfügbar. Dazu arbeitet die Stiftung mit Partnern aus dem Gesundheits-, Sozial- und Familienbereich zusammen. Angebote für Geschwisterkinder können sehr unterschiedlich sein: Thematische Gruppenangebote oder auch erlebnispädagogische Freizeiten, regelmäßige Seminare oder einmalige Veranstaltungen nur für Geschwisterkinder. ó www.stiftung-familienbande.de


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Viele Fortschritte und noch ein langer Weg

Wie beurteilen Familien von Kindern mit Behinderung ihre Situation heute? Wie sehen Familien mit einem Angehörigen mit Behinderung ihre Situation heute? Wo gab es in den letzten Jahren Verbesserungen? Wo erleben Familien mit einem Kind mit Behinderung im Jahr 2017 noch Schwierigkeiten? Wir haben in der ersten Familienfreizeit eine kleine Umfrage unter den teilnehmenden Familien gestartet. Auch wenn diese Umfrage nicht repräsentativ ist, gibt es doch einige überraschende und einige erwartbare Ergebnisse. Die große Routine der Familien spiegelt sich auch in den Antworten der Familien wieder: Wir haben zunächst nach den Fortschritten, die in den letzten 5-10 Jahren in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung entstanden sind, gefragt. Hier wurden von den Familien v.a. die Verbesserungen hinsichtlich der baulichen Barrierefreiheit gewürdigt, sowie besonders große Fortschritte in der Lobby für Menschen mit Behinderung, sowie im öffentlichen Auftreten von Menschen mit Behinderung gesehen. Weiterhin werden Verbesserungen bei der Flexibilität von Wohnformen, sowie im Diskurs um die Inklusion genannt. Es scheint also zumindest in den Köpfen allmählich eine Wahrnehmung für die Belange von Menschen mit Behinderung zu entstehen. Als Schwierigkeit und Hindernis erleben Familien im Jahr 2017 nach wie vor Verhandlungen mit Kostenträgern. Die Auseinandersetzungen mit Kostenträgern belasten die Familien am meisten, wird dies doch fünf mal genannt. Weitere Schwierigkeiten betreffen die Familien rund um das Thema Inklusion, hier ist jedoch nicht nur von schulischen Fragestellungen die Rede (z. B. Schul-

Wir haben alle 14 Familien, bzw. Angehörigen der ersten Familienfreizeit befragt und dabei einen Rücklauf von 64% gehabt, d.h. absolut haben 9 Familien an der Umfrage teilgenommen. Die Teilnehmenden der Rückmeldungen wiesen folgende Behinderungen auf: Stoffwechselerkrankung, Epilepsie (2x), Autismus-Spektrum-Störung (2x), mehrfache Behinderung, Trisomie 21 (2x), geistige Behinderung, Tuberöse Sklerose, Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas

ausschluss bei Autismus-Spektrum-Störung), sondern v.a. der Bereich der Freizeit. Bemängelt werden v.a. (6x) inklusive Sport-, Freizeitund Urlaubsangebote, sowie Spiel- und Kontaktmöglichkeiten im häuslichen Umfeld. Teils begegnet Familien auch eine offene Ablehnung bis hin zu Rechtfertigungsdruck für ein behindertes Kind. Beschrieben wird diese Ablehnung („Ist denn so etwas heute noch nötig“) im Zusammenhang mit der Diskussion um die Pränataldiagnostik bei Trisomie 21.

Ausstattung, die große Bürokratie und die fehlenden Entlastungsmöglichkeiten im Alltag werden sechs Mal als Bedarf genannt. • Weiterhin spielen Verbesserungen bei der Inklusion, v.a. der schulischen Inklusion für Familien eine besonders wichtige Rolle. (4 Nennungen) • Fast ebenso (3 Nennungen) häufig wird das Thema barrierefreies Wohnen, sowie innovative Wohnprojekte genannt.

Die größte Belastung ist die soziale Isolation und Diskriminierung in der Gesellschaft. Das wird nicht besser, sondern schlechter. EINE FAMILIE MIT KIND MIT BEHINDERUNG

Weiteren Handlungsbedarf sehen Familien in der Qualifizierung von medizinischem Personal, sowie in der Personalbesetzung und damit eng verwobenen hohen Fluktuation von pädagogischem Personal in Einrichtungen der Behindertenhilfe.

• Außerdem wird noch Kritik an der Wertediskussion an der Diskussion um Pränataldiagnostik artikuliert, sowie ein zu geringes Bewusstsein bei Arbeitgebern, sowie ein zu geringer Praxisbezug bei politischen Entscheidungen moniert.

Nicht verwunderlich ist, dass die meisten Wünsche der Familien an die Politik genau um Verbesserungen in den genannten Bereichen artikuliert werden:

Die größten Unterschiede zu Eltern mit einem Kind ohne Behinderung sehen Familien heute nach wie vor in der nicht endenden Verantwortung für das eigene Kind, sowie in den hohen allseitigen Abhängigkeiten an medizinische (v.a. häufige Termine), therapeutische und pädagogische (z. B. lange Schließzeiten) Institutionen sowie den sozialen Aspekten (z. B. ständige Bereitschaft in jeder Lebensphase, Einsamkeit durch Ausgeschlossenheit von sozialen Kontakten), die ein Kind mit Behinderung mit sich

• So liegen Verbesserungen der finanziellen Ausstattung, der Bürokratie, sowie ein weiterer Ausbau der Entlastungsmöglichkeiten (v.a. hinsichtlich der Kurzzeitpflege, Präventive Kuren, Leihomas und -opas etc) v.a. Alleinerziehenden besonders am Herzen. Die finanzielle

Das Alter der Teilnehmenden bewegte sich zwischen 8 und 54 Jahren. Im Schnitt waren die Teilnehmenden 21,4 Jahre alt. Das Durchschnittsalter der Eltern lag bei 52,8 Jahren, wobei erwähnt werden muss, dass diese Zahl nur bedingt aussagekräftig ist, da nicht alle genannten Eltern an der Freizeit teilgenommen haben (alleinerziehende Elternteile, erwachsene Geschwister, die mit ihrem behinderten Geschwister teilgenommen haben)

Fazit In dieser Freizeit haben vor allem sehr erfahrene Eltern teilgenommen. Das Durchschnittsalter der Kinder und der Eltern zeigt, dass die Eltern meist schon viel Routine mit ihrem Kind mit Behinderung mitbringen. Sechs Familien kamen aus Bayern (meist Nord- und Ostbayern), drei Familien kamen aus dem weiteren Bundesgebiet (Hamburg, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg).


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Aus der Langau

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Die spinnen, die Römer! Die Barbaren kommen!

Beim Teutates: Ein Vater-Kind-Keltenwochenende im Keltendorf Gabreta im Bayerischen Wald. Fünf Väter und acht Kinder nahmen beim inklusiven Vater-Kind-Keltenwochenende in Gabreta, einem experimentalarchäologischen Keltendorf im Bayerischen Wald teil. Los ging es mit einer Einführung eines Archäologen im steinzeitlichen und mittelalterlichen Feuermachen (Zündhölzer gibt es erst seit rund 200 Jahren!) und in der Bearbeitung von Feuersteinen. Außerdem, wir sind ja schließlich im Jahr 2017, wurde ein „Steinzeithandy“ gebaut. Mit diesen einfachen Hilfsmitteln konnten die Menschen bereits in der Steinzeit über große Strecken kommunizieren und einander vor Gefahren warnen.

Am Nachmittag ging es dann in die Buchberger Leite, einer unglaublich schönen, naturbelassenen Schlucht bei Ringelai. Ge-

BEIM ! ATES TEUT

Der Samstagvormittag war dann einer Führung durch das Museum vorbehalten. Dabei wurde auch im Original-Lehmofen ein Fladenbrot gebacken und natürlich warm verspeist. (Kulinarisch sehr zu empfehlen!) Wir erfuhren, dass sich die Römer und Kelten tatsächlich oft bekriegten, nicht nur in dem uns wohlbekannten gallischen Dörfchen. Allerdings waren die Kelten den Römern jahrhundertelang überlegen und wurden erst 52 v. Chr. von den Römern unterworfen.

rastet wurde natürlich an einem „Druidenplatz!“. Die Kinder kletterten derweil flink und schnell über alle Felsen im Fluss. Da blieb so manches Hosenbein nicht ganz trocken, was aber nicht weiter störte. Am Abend wurden dann die ersten Pfeile gebaut. Stephan Zimmermann, der Leiter des Wochenendes der Umweltbildungsstätte Waldzeit hatte dazu extra Holzstäbe und Gänsefedern mitgebracht. Am Sonntagmorgen wurden dann aus Haselnussund Weidenstecken die dazugehörigen Bögen geschnitzt, bevor die Kinder (und auch Väter) sich dann auf dem Schießstand ans Ausprobieren machen durften und natürlich Wildschweine jagten (zumindest in der Phantasie so mancher großer und kleiner Kelten...). Überraschend, welch hohe Geschwindigkeiten und Kraft auch schon ein einfacher Kinderbogen so entwickelt!

FOTO: SHUTTERSTOCK.COM/ DEDMAZAY

FORTSETZUNG VON SEITE 13

bringt. Die Teilhabe ist v.a. im Freizeitbereich für Familien, in denen ein Kind mit Behinderung lebt, noch nicht gegeben. Hinzu kommt, das das Verständnis von Menschen, die Kinder ohne Behinderung haben, teils sehr zu wünschen übrig läßt. („Wir werden oft schräg angeschaut, weil unsere Kinder auffallen und unterstellt wird, wir erziehen nicht gut genug“). Dies führt jedoch auch zu einer Reflexion und Verschiebung der eigenen Werte, sowie zu einem gewissen Verhalten, um die eigenen Interessen nicht zu vergessen. („Wir lernen, unsere Kinder leistungsunabhängig zu lieben und uns einen Platz zu schaffen.“) Weitgehend einig sind die teilnehmenden Familien, dass es insbesondere zu wenig

Urlaubs- und Erholungsangebote für Familien, für Paare (!) mit einem Kind mit Behinderung gibt. Ergänzend muss noch hinzu gefügt werden, dass nicht nur Bildungsund Erholungsangebote für die ganze Familie als zu gering erachtet werden, sondern auch inklusive Freizeit- und Sportangebote für die Kinder vor Ort als dringend erforderlich angesehen werden.

des bayerischen Ministerpräsidenten zu äußern, was auch ausführlich getan wurde. Themen waren u.a bessere Unterstützungsmöglichkeiten, finanzielle (z. B. bezahlbarer barrierefreier Wohnraum) und rechtliche (z. B. bei Betreuung, persönliches Budget) Verbesserungen, sowie Fragen rund um die Inklusion (v.a. inklusive Sport- und Betreuungsangebote vor Ort).

Weiterhin werden das Thema „Wohnen“ und Fragen um das finanzielle Angelegenheiten (z. B. persönliches Budget, Behindertentestament u.ä.) als wichtige Themen für die Familienbildung erachtet.

Zusammenfassend lassen sich die Herausforderungen für Familien mit einem Kind mit Behinderung vielleicht in folgendem Zitat einer Familie: „Die größte Belastung m.E. ist die soziale Isolation und Diskriminierung in der Gesellschaft. Das wird nicht besser, sondern schlechter durch die extreme Leistungsorientierung und Pränataldiagnostik. Die Politik konnte die Werte überdenken und mehr auf soziale Werte setzen!“ ó daniel wilms

Beim Besuch der Bayerischen Beauftragten für Menschen mit Behinderung in der Langau, Irmgard Badura am 3. Augsut 2017 in der Langau hatten die Eltern die Möglichkeit, ihre Anliegen direkt an der Stabstelle


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Rubrik

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Nach dem Mittagessen stand dann die Abreise an, hatten doch alle eine teils mehrstündigen Heimfahrt! Vielen Dank insbesondere an Stephan Zimmermann für das ungemein spannende und kurzweilige Wochenende, sowie Pfarrer Günter Kusch von der Männerarbeit der Evangelischen Kirche Bayerns und Hanni Reischl von Waldzeit für die äußerst angenehme Zusammenarbeit! Fortsetzung folgt im Juni 2018! ó daniel wilms

FOTO: NORBERT GATTER

FOTO: NORB ERT GATTER


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Aus der Langau

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Pfingsten an der Ostsee

Oder: „Kann man die Langau mitnehmen?“ Wir nehmen seit ca. 15 Jahren an einer der Familienfreizeiten (Ostern, Winter, Sommer) in der Langau teil. Dieses Jahr haben wir an dem „Experiment“ Langau an der Ostsee teilgenommen. Wir, das sind Eva und Matthias mit unserem Sohn Jonas (20 Jahre).

Das Ergebnis des Experiments können wir vorwegnehmen: Für uns ist das Experiment gelungen. Das „Geist der Langau“ kann transportiert werden. Der Charme des Hauses in Blowatz kommt zwar nicht an die Langau heran. Aber es hat sich für uns wieder gezeigt, die Langau, das sind vor allem die Menschen, die an den Freizeiten teilnehmen; sei es als Hauptamtlicher, Ehrenamtliche, Teilnehmende oder Familien.

Die Pfingstfreizeit war in Bezug auf die Gruppengröße anders als die bekannten Freizeiten. Wir fanden die Gruppengröße gerade für eine einwöchige Freizeit ideal. Auch die geteilte Betreuung fanden wir sehr angenehm.

Wir haben in der Woche viel erlebt: Von einem aufregenden Segeltörn bis zu einer wilden Stierjagd (Details gerne auf Nachfrage) war alles dabei. Lagerfeuerabende mit neuen Freunden und ein lebendiger Austausch untereinander haben uns wieder das Gefühl gegeben: Wir Langauer sind eine große Familie, die auch fernab vom „Mutterhaus“ entstehen kann. ó eva und matthias knoll aus nürnberg


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Aus der Langau

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Wir machen die Türen auf: Am „Türöffner-Tag“ 2017 Wer in den letzten Tagen und Wochen in der Langau war, hat sich vielleicht gewundert, warum man an verschiedenen Stellen immer wieder auf die Maus, den Elefanten und die Ente trifft. Die Langau nimmt am 3. Oktober 2017 am „Türöffner-Tag 2017“ der Sendung mit der Maus teil. Wer also Lust und Zeit hat, unseren Rollstuhlparcours auszuprobieren, ist herzlich von 10.00 – 15.00 Uhr eingeladen, uns zu besuchen. Für die älteren Besucher bieten wir auch Führungen durchs Haus an, während die Kinder durch den Brunnenhof rollen. Wir freuen uns auf Sie und Euch! Weitere Infos und Anmeldungen nimmt Daniel Wilms unter Tel. 08862 9102-13 oder vaeter@langau.de entgegen und finden sich unter www. wdrmaus.de Auch ehrenamtliche Helfer sind noch willkommen! ó

Junge Leute mit grünem Daumen gesucht! Welch tolle Arbeit unsere Gartengruppe nach dem Umbau geleistet hat, wurde erst wieder im Vorfeld der Einweihung sichtbar. Die Außenanlagen erstrahlten wieder in altem Glanz, Rankhilfen für die Blumen wurden rechtzeitig montiert, Beete im Brunnenhof und vor dem Gartenzimmer angelegt oder schon wieder gereinigt. So präsentierte sich die Langau in bestem Licht! Vielen herzlichen Dank dafür, v.a. auch an Rudi Eder, der noch bis zur letzten Minute eifrig die Beete reinigte.

Impressum · welle 3 / 17

Nachdem sich das Durchschnittsalter der Mitarbeitenden in der Gartengruppe jedoch stark dem Pensionsalter annähert, sind wir auf der Suche nach jüngerem Nachwuchs! Wer also einen grünen Daumen hat und sich in der Langau engagieren will, gerne auch sporadisch, melde sich bitte bei den beiden neuen Leiter der Gartengruppe Andreas Bartsch andreas-bartsch@t-online.de oder Volker Hofmann vma-hofmann@online.de ó

Herausgeber Bildungs- und Erholungsstätte Langau e. V., 86989 Steingaden, Tel. 08862 9102-0, www.langau.de Redaktion Simone Linke, Daniel Wilms, Tel. 08862 9102-13, vaeter@langau.de Gestaltung pixelversteher UG, www.pixelversteher.de Spendenkonto Langau IBAN DE 53 7345 1450 0036 0644 18 BIC BYLADEM1SOG Konto Hedwig Döbereiner Stiftung IBAN DE 43 5206 0410 0202 2031 03 BIC GENODEF1EK1 Interner Rundbrief der Bildungs- und Erholungsstätte Langau e.V. Verteiler: Kreis der Freunde und Förderer, Älterengemeinschaft des BCP, Leitungsteamer EV, Hauptamtlich Mitarbeitende. Es gelingt uns nicht immer, alle Menschen gleichzeitig zu erreichen – insbesondere wenn wir die Welle per Post verschicken, kann es sein, dass Sie ihn ein paar Tage später bekommen – hier bitten wir um Nachsicht. Sollte sich Ihre Adresse geändert haben bitten wir um Benachrichtigung, auch wenn Sie eine neue E-Mail Adresse haben.


FOTO: SHUTTERSTOCK.COM / BETO CHAGAS

Ein herzliches Dankeschön Allen, die unserer Arbeit wohlwollend gegenüber stehen:

„Vergelt’s Gott!“


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