WOHNTRAUM MÄRZ 2021
UNABHÄNGIGES MAGAZIN ZUM JUGENDMEDIENWORKSHOP IM DEUTSCHEN BUNDESTAG VOM 15. BIS 19. MÄRZ 2021
Foto, Titelfoto: Christopher Folz
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ZUR FLUCHT GEZWUNGEN SCHWUL UND ZUHAUSE NICHT WILLKOMMEN – WENN FLUCHT DIE EINZIGE MÖGLICHKEIT AUS DEM KRIEG MIT DIR SELBST IST.
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enschen, die der LGBTQ+ Community angehören, werden automatisch in die Schublade mit der Aufschrift „nicht normal“ gesteckt. Das Abweichen vom gesellschaftlichen Ideal hat einen hohen Preis: oftmals müssen die Betroffenen aus ihrem gewohnten Umfeld ausbrechen, um sich selbst zu entfalten. Der Schwule mit muslimischer Familie oder die transsexuelle Frau im Dorf, in dem es mehr Kühe als Menschen gibt – beide werden wohl nie in den Genuss der freien Selbstbestimmung kommen, außer sie lassen ihr altes Leben hinter sich.
OUTING AUF DEM LAND – „STÖRT MICH JA NICHT, SOLANGE DU MICH NICHT ANMACHST“ Das Problem: auf dem Land gibt es wenige bis gar keine Infrastrukturen, an die sich queere Menschen wenden können. In der Schule sind Beleidigungen als „Schwuchtel“ an der Tagesordnung und in der Dorfgemeinde wissen alle schon vor dem Outing, dass man „anders“ ist. Mit Toleranz oder gar Akzeptanz ist nicht zu rechnen. Outet man sich bei seinen Freund*innen, kommt meist ein „Stört mich ja nicht, solange du mich nicht anmachst.“ – so sieht Verständnis in der heteronormativen Gesellschaft aus.
ZWEI PARALLELWELTEN – UND DAZWISCHEN ICH
UNVEREINBARKEIT VEREINT
Liebe Leser*innen, dass Wohnraum begrenzt ist, zeigt nicht erst die Diskussion um Gentrifizierung oder den Berliner Mietendeckel. Es leben so viele Menschen in Deutschland wie nie zuvor. Während die Städte nahezu platzen, ist auf dem Land ein starker Bevölkerungsrückgang zu beobachten. Gerade die Kommunen überaltern immer mehr. Das bedeutet, dass diese altersfreundlicher werden müssen – und gleichzeitig attraktiver für junge Menschen, damit diese nicht in die Städte abwandern.
meiner Partner*in greifen, ohne mich vorher umgeschaut zu haben. Strukturen der LGBTQ+ Community sind vorhanden, wie aber soll es möglich sein, den eigenen Platz in diesen zu finden, ohne dass es die Eltern mitbekommen? Ich kann es euch verraten: Es ist fast unmöglich und unheimlich kräfteraubend.
Ich bin schwul und meine Familie ist muslimisch konservativ. Sexistische, homophobe oder anderweitig diskriminierende Aussagen, meist unbeabsichtigt und ohne bösen Willen, gehören zur Tagesordnung. Zwei Parallelwelten, zwischen denen ich hin und her wechsle: Das ist mein Leben. Bisher lief es glatt, wird aber zunehmend schwerer, da meine Welten natürlicherweise versuchen, zu einer zu werden. Mein wahres Ich will sich durchsetzen. Das ist gut, aber auch gefährlich. Schon immer war mir klar, dass etwas „nicht stimmt“. Doch dann, mit meinem Auslandsjahr und somit auch meinem Auszug von Zuhause, lernte ich, es zu definieren und zu akzeptieren. Meine liberale Gastmutter gab mir das Gefühl, genug zu sein. Nach dem Auslandsjahr zog ich nicht mehr in die alte Wohnung zurück. Stattdessen entschied ich mich für das Leben auf einem Inter-
EDI TOR I A L
Grafik: Eine Freundin des Autoren
und schaue, was passiert“. Was ist die beste Lösung? Alle Optionen haben Vor- und Nachteile – aber für welche letztendlich entscheiden?
AUSZUG – AUSBRUCH Nach dem Abitur so weit wie möglich von der Heimat wegziehen, um ein richtiges Zuhause zu finden – das ist mein jetziger Plan. Lange hat es gedauert, mir einzugestehen, dass ich den Wandel selbst in die Hand nehmen muss. Ich will ja nur das, was für die meisten system-konformen Menschen selbstverständlich ist. Weshalb muss ich mich also im Gegensatz zu dem Rest der Gesellschaft darum bemühen? Weil es meine Umstände nun mal erfordern. Ich muss meine Rahmenbedingungen selbst festlegen, nur so kann ich glücklich werden. Ohne Szenenwechsel und ohne Ausbruch aus den Erwartungen anderer, besonders derer meiner Eltern, geht das nicht. Ausziehen, egal wohin – das bedeutet, Selbstbestimmung und Freiheit zu gewinnen. Nur so kann ich dem Krieg mit mir selbst ein Ende setzen und meinen Frieden finden.
Die vorliegende Ausgabe beschäftigt sich mit genau diesen Herausforderungen: dem Stadtleben, dem Landleben, mit Wohnalpträumen sowie mit dem Wohnen der Zukunft. Die Teilnehmenden des diesjährigen Jugendmedienworkshops haben sich virtuell mit Abgeordneten getroffen, Interviews geführt und recherchiert. Herausgekommen ist ein abwechslungsreiches Magazin rund um Wohn(t)räume: Wie kann TikTok politische Teilhabe auf dem Land ermöglichen? Welcher Gewalt sind obdachlose Menschen ausgesetzt? Wie lebt es sich in einem Mehrgenerationenhaus? Immer wieder werfen wir dabei auch einen Blick in die Vergangenheit... So spricht eine Autorin mit einer Zeitzeugin über die Wohnungsnot in den 60ern und eine andere Autorin untersucht, welche Wohnformen in Zukunft entstehen könnten. Stadt – Land – Flucht, oder eher Stadt, Land, Zukunft?! Viel Spaß beim Lesen! Hannah Jäger im Namen der Chefredaktion
I NHA LT
»Landliebe« Von Berlin, einer Wassermühle und den 60km dazwischen. Seite 11
Ich – zur Flucht gezwungen.
»Ungleichheit« ZWEI MENSCHEN IN ZWEI WELTEN
Guter Job, schlechte Karten. Seite 20
Grafik: Eine Freundin des Autors
Der Autor...
EINE STADT MIT VIELEN AUGEN
nat. Hier kann ich sein, wer ich wirklich bin. Aber da ich nun näher an meiner In der Stadt mag die Situation ange- Familie wohne, lebe ich mit der Angst, nehmer wirken, jedoch trügt der Schein. irgendwann aufzufliegen. Täglich denke Hat man etwa eine große Familie mit ich über die Zeit nach dem Abitur nach: konservativen Vorstellungen, so lauern „Ich ziehe um und breche den Kontakt ab“, in allen Ecken der Stadt Augen, die einen „Ich heirate einfach eine Frau und spiele beobachten. Nirgends kann ich die Hand hetero“, „Ich beichte es meinen Eltern
... hat diesen Text anonym geschrieben. Er ist bereit sich zu outen, aber seine Umstände sind es nicht.
»Zukunft« Stadt, Land, Zukunft. Seite 26
INFORM AT I ON LG BT Q + COMMU NI T Y
S C HW UC HTEL...
QUEER...
Die Abkürzung steht im Englischen für ...wird als Schimpfwort gegenüber Schwu- ...meint das Abweichen der eigenen Gedie Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- len oder solchen Männern genutzt, deren schlechteridentität und/oder sexuellen gender, Queer + Gemeinschaft. Das Plus Verhalten nach den gesellschaftlichen Rol- Orientierung von der (binären) Heteronorschließt das Spektrum aller weiteren sexu- lenbildern als feminin kategorisiert wird. mitivität. Früher als „sonderbar, suspekt“, ellen Orientierungen mit ein. Manchmal auch ironisierend als Selbstbe- heute als Selbstbezeichnung nicht-heterozeichnung genutzt. sexueller Menschen genutzt.
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VON DUNKLEN ECKEN UND UNÜBERSICHTLICHEN STRASSEN
„HALTEN SIE DEN SCHLÜSSEL BEREIT, AUCH WENN ES EIN SCHNELLER AUSFLUG VON IHRER HAUSTÜR ZU IHREM AUTO IST“, EMPFIEHLT EIN DEESKALATIONSCOACH FRAUEN, DIE ABENDS ALLEIN UNTERWEGS SIND. FÜR DIE EINEN IST DAS PARANOIA, FÜR DIE ANDEREN REALITÄT. LUISA VAN DONGEN ÜBER WIENS VERSUCHE, FRAUEN IN ÖFFENTLICHEN RÄUMEN SICHERHEIT ZU GEBEN.
Foto: Olexy Ohurtsov / Pixabay
STADTPLANER*INNEN
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ast ein Drittel der Frauen gaben in einer Umfrage des Bundeskriminalamtes aus dem Jahr 2017 an, Angst zu haben, wenn sie nachts allein unterwegs sind. Unter den befragten Männern gaben nur acht Prozent an, Angst zu haben.
DATEN, FAKTEN UND ZAHLEN ÜBER GEFÜHLTE SICHERHEIT Plan International, eine Organisation, die die Sicherheit von Kindern schützt, gab Bürger*innen in vier deutschen Städten über eine Website die Möglichkeit, Orte in ihrer Stadt als (un)sicher zu markieren. Die Ergebnisse waren ernüchternd: Gerade einmal 20 Prozent der in rund 21.000 Einträgen beschriebenen Orte wurden als sicher bewertet. Begründet wurden die negativen Bewertungen mit den immer gleichen Worten: dunkel, einsam, kaum einsehbar, regelmäßige Ansammlungen von Betrunkenen.
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GENDER PLANNING
DER SPÜRBARE ERFOLG
Das erklärte Ziel von Architekt*innen und Stadtplaner*innen, die Gender Planning betreiben, ist, dass junge Mädchen, Familien mit Kindern, ältere Menschen und Fußgänger*innen gleichermaßen von öffentlichen Räumen profitieren. Strategische Umgestaltungen der Orte sollen so Gefühle der Angst – nicht nur während der Nacht – drastisch senken. Umgesetzt wird das in Wien seit mittlerweile fast 30 Jahren. Im Jahr 2000 wurde aus der Freiwilligkeit Pflicht und alle Entscheidungen über Stadt- und Quartierplanung müssen unter Beachtung der Bedürfnisse der verschiedenen Geschlechter getroffen werden. In einem 2013 veröffentlichten Handbuch wurde das Ziel der „Herstellung von Räumen, die die Nutzer*innen in ihren unterschiedlichen Alltagszusammenhängen unterstützen“ formuliert und bereits umgesetzte Projekte vorgestellt.
Diese Wünsche werden seither in Wien durch umfassende Umfragen und Nutzungsstudien ermittelt und, beispielsweise im 5. Wiener Gemeindebezirk gelegenen Einsiedler-Park in konkrete Baumaßnahmen übersetzt. 2001 als Pilotprojekt gestartet, gibt es inzwischen in ganz Wien Grünanlagen, die ähnlich gestaltet werden. Entscheidend zu dem Sicherheitsgefühl tragen die gut ausgeleuchteten Wege ohne Versteckmöglichkeiten und eine uneingeschränkte Sichtachse durch den gesamten Park bei. Spielplätze, Sitzmöglichkeiten und die Begrünung von versiegelten Bereichen sind direkte Antworten auf die Lebensrealitäten von Familien und Ansprüche älterer Menschen. Wer einmal in diesem Park war, kann durch die vielseitige und regelmäßige Nutzung durch Töchter, Mütter und Großmütter erkennen, wie erfolgreich
die Maßnahmen sind. Der Kreislauf, der dadurch angestoßen wird, dass sich Mädchen mit Beginn der Pubertät immer weiter aus gemeinschaftlich genutzten Räumen zurückziehen und so die Flächen von Jungen und Männern dominiert werden und Frauen diese noch stärker meiden – er wird nachhaltig durchbrochen.
Luisa van Dongen 19, Karlstadt Heßler … floh vor kurzem selbst vor langsamen Internet und fehlenden Busverbindungen.
AUTOFREI IN DIE ZUKUNFT
LAUT. STINKEND. ENG. UNSERE STÄDTE HABEN SCHON LANGE DEN RUF, NICHT SEHR LEBENSFREUNDLICH ZU SEIN. DIGITALISIERUNG UND VERKEHRSWENDE KÖNNEN DAS ÄNDERN, FINDET GIDEON MÄRZ – ALLERDINGS NUR, WENN POLITIK UND WIRTSCHAFT RICHTIG (RE-)AGIEREN.
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akt ist: Das Auto muss weg! Uns wurde in den letzten Jahren oft vor Augen geführt, wie schädlich die Abgase von Verbrennungsmotoren sind. 13.000 vorzeitige Tode verursachen sie laut einer Studie der gemeinnützigen NRO International Council on Clean Transportation jährlich allein in Deutschland. Doch wie kann der vermeintliche „Schlüssel zur Mobilität” aus den Städten verschwinden? Verbrenner aus den Städten zu verbannen, so wie man es in europäischen Metropolen wie London und Paris plant, kann nur eine kurzfristige Lösung sein. Mit zunehmender Verbreitung von Elektrofahrzeugen wären die Straßen schnell wieder so voll wie vorher. Wenn auch zumindest schon einmal ruhiger und frei von Abgasen.
MIT INNOVATIONEN IN DIE ZUKUNFT Es braucht also innovative Lösungen. Bei vielen Tech-Konzernen stehen autonome Fahrzeugflotten bereits in den Startlöchern. Wenn die PKW untereinander kommunizieren, erhöht das die Verkehrssicherheit und verringert die Anzahl der Staus. Außerdem kann so nicht nur die Zahl der Autos pro Kopf, sondern auch deren Standzeiten auf ein Minimum reduziert werden. Dadurch könnten wiederum Straßen und Parkflächen umgewidmet werden.
Dieser Raum stünde dann Stadt- und Verkehrsplaner*innen zur Verfügung. Mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) können diese schon heute neue Wohngebiete und Verkehrswege so planen, dass Städte besser für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen erschlossen werden können. Darüber hinaus kann durch das gezielte Anlegen von Grünflächen die Bildung von Hitzeinseln verhindert und so das Klima in der Stadt verbessert werden. Außerdem kann KI die Anzahl der Wohnungen auf einer bestimmten Fläche maximieren und könnte so sogar der Gentrifizierung entgegenwirken, indem sie Grundstücke besonders effektiv aufteilt.
GRUNDLAGEN MANGELHAFT Um solche Ideen umzusetzen, braucht es jedoch entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen – und den Willen der Politik, sagen Expert*innen wie etwa Reinhard König, Professor an der Bauhaus-Universität Weimar. „Aktuell“, meint König, „macht das Baurecht es Stadtplanern und Architekten schwer mit der Anwendung neuer Konzepte.” Aus dem Verkehrsministerium dringt währenddessen ein kleiner Hoffnungsschimmer. Schon 2017 wurde im Koalitionsvertrag ein Gesetz zum autonomen Fahren angekündigt, welches bis Mitte 2021 beschlossen werden soll. Bei all der Euphorie bleibt jedoch zu berücksichtigen: für viele Menschen ist
EMMA – INTELLIGENTES FAHREN IN MAINZ
Foto: Christopher Folz
heute ein Leben ohne Individualverkehr nicht vorstellbar oder sie sind sogar auf die Freiheiten angewiesen, die aktuelle Angebote wie ÖPNV und Car-Sharing im Vergleich zum eigenen PKW noch nicht bieten können. Auch diese Menschen müssen bei der Planung der Konzepte gehört werden. Wie perfekt könnte sonst eine Zukunft sein, die nicht für alle geschaffen wurde?
Gideon März 18, Sangerhausen … lebt meist in der Zukunft. Weiß nicht, wo er politisch steht. Prokrastination ist sein Talent.
FRUCHTFLEISCH WAS MACHT FÜR DICH LEBEN AUF DEM LAND AUS?
Fotos: Bent Holzmann
»MITEINANDER«
NIKLAS KLEIPSTIES, 23, STEIMBKE, STUDENT UND BÜRGERMEISTERKANDIDAT NEBEN DER NATUR VOR MEINER HAUSTÜR UND DER RUHE SCHÄTZE ICH BESONDERS DAS SOZIALE MITEINANDER UND DEN ZUSAMMENHALT. HIER WIRD NIEMAND ALLEINE GELASSEN.
»FREIHEIT«
»RUHE«
KATJA KEUL, 51, MARKLOHE, BUNDESTAGSABGEORDNETE VON BÜNDNIS90/ DIE GRÜNEN (UND RECHTSANWÄLTIN)
BJÖRN LINDEMANN, 37, MÜNCHEHAGEN, EHEMALIGER FUSSBALLPROFI ICH LIEBE DIE RUHE UND DIE GEMEINSCHAFT IN MEINEM DORF.
GERADE IN DER PANDEMIE HABE ICH DAS LEBEN AUF DEM LAND ALS BESONDEREN FREIHEITSGEWINN ERLEBT.
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LAND, STADT, LAND
DREI BRASILIANER*INNEN ERZÄHLEN IHRE GESCHICHTE. EINE REPORTAGE VON TOM GERNEMANN ÜBER DEN GESCHEITERTEN TRAUM VOM BESSEREN LEBEN IN DER GROSSSTADT SÃO PAULO UND UNERWARTETEN NEUANFÄNGEN AUF DEM LAND.
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ähnende Leere, verfallene Bauernhöfe und löchrige Straßen auf der einen, übervolle Restaurants, hektische Menschenmassen und horrende Mieten auf der anderen Seite. Dieses Bild kennt wohl jede*r von uns. Städte wie München oder Berlin platzen aus allen Nähten, während viele Dörfer wie leergefegt sind. Ortswechsel: Die nahezu gleiche Situation finden wir in Brasilien, dem größten Land Südamerikas, in das Deutschland 24 Mal hineinpassen würde. In den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro pulsiert das Leben, immer mehr Menschen verlassen hingegen die Dörfer. Zwei Länder, ein Phänomen: Landflucht. Laut dem Statistikportal „Statista“ lebten 2019 in Deutschland circa 77 Prozent der Bevölkerung in Städten, in Brasilien sogar 87 Prozent.
ESMAEL – WASSER MIT NEUER HOFFNUNG Esmael Souza war zwei Jahre lang einer dieser Stadtbürger*innen und nannte São Paulo sein Zuhause. Ursprünglich kommt er aus Paraíba, einem Bundesstaat im Nordosten Brasiliens, der in einer Dürreregion liegt. Auf dem Land war das Leben für ihn aussichtslos: „Viele Menschen haben ein riesiges Problem. Sie müssen mit wenig Wasser ihre Felder bewirtschaften“, erklärt Esmael, „Hier regnet es in wenigen Monaten des Jahres sehr viel und dann den Rest des Jahres gar nicht.“ Techniken zur Wasserspeicherung, wie die Sammelzisterne, fehlen bis heute flächendeckend, meint Antonio Cleide. Er ist Vorsitzender der CPT, der Kommission für Landpastoral in Paraíba, einer Organisation der brasilianischen katholischen Bischofskonferenz, die sich für Landlose und Kleinbauern- und Bäuerinnen stark macht. Er und sein Team unterstützen die Menschen auf vielfältige Weise. Bei Esmael hat das geklappt. Heute baut er mit angepasster Bewässerungstechnik Bio-Lebensmittel an und konnte nach Paraíba zurückkehren: „Ich bin sehr froh, dass ich wieder hier sein kann. In der Großstadt steht man ständig unter Druck. Man muss die teure Miete bezahlen und sehr hart arbeiten, um den Job zu behalten.“
Mann hat mich dann zur Arbeit gebracht. Allein zu gehen, wäre zu gefährlich gewesen.“ Dabei hatten sie sogar noch Glück, sie durften in eine vom Staat subventionierte Wohnung ziehen: „Ansonsten frisst einen die Miete auf. Wenn man dann auch noch Geld an die Verwandten schickt, bleibt am Ende fast nichts mehr übrig“, erzählt Maria, „deswegen leben sehr viele Geflüchtete vom Land unter Brücken oder in Favelas, den Armenvierteln am Rande der großen Städte.“ Antonio Cleide von der CPT bestätigt, dass viele Menschen nur deshalb in die Stadt ziehen, weil sie dort betteln können. Feste Arbeitsverträge bekämen sie sehr selten. Stattdessen geraten Dutzende in den Sog von Kriminalität oder Prostitution: „Das Leben auf dem Land ist so hoffnungslos für sie, dass selbst das noch besser ist. Dagegen müssen wir doch etwas tun! Wir kämpfen dafür, dass sie auf dem Land bleiben und vom Land leben können.“
FRANCINEIDE – „WIR MUSSTEN UM UNSER LAND KÄMPFEN“ Im Falle der 43-jährigen Francineide de Sousa Alvarenga ist der CPT das gelungen. Das Problem hier: Die Familie Sousa Alvarenga bewirtschaftete schon seit Generationen ihr Land in Paraíba, hatte aber keine offizielle Besitzurkunde: „Man wollte uns vertreiben.“, erklärt Francineide. Nur dank der Hartnäckigkeit ihres Bruders und dem Engagement der CPT gelang es der Familie, den Kampf um ihr Land zu gewinnen und Francineide, die ihre Familie während dieser Zeit finanziell aus der Stadt unterstützte, konnte in ihre Heimat zurückkehren. „Glücklicherweise gibt es für die Bauern einige Gesetze, die sie schützen und wir konnten den Verkauf des Landes an ein Großunternehmen verhindern. Die landwirtschaftlichen Betriebe müssen nämlich eine soziale Funktion erfüllen.“, erklärt Antonio Cleide, „oft fehlen den Kleinbauern aber die Ressourcen, um eine Vertreibung zu verhindern.“ Auch deshalb haben sich viele Kleinbauern und -bäuerinnen in der nach
MARIA – EINE RENTNERIN KEHRT ZURÜCK Auch Maria de Sousa Pereira lebte lange Zeit in São Paulo, bis sie 2020 als 60-Jährige zurück in die Heimat zog: „Als ich fortging, hatte ich keine Wahl. In Sitio Novo Horizonte, meinem Heimatort im Bundesstaat Paraíba, gab es keine Arbeit. Mein Vater und ich mussten also nach São Paulo, um unsere Familie zu versorgen.“ 34 Jahre lang blieb sie in der DE SOUSA PEREIRA größten Stadt Brasiliens: „Jeden Morgen MARIA MIT IHREM EHEMANN IN bin ich um vier Uhr aufgestanden. Mein DEREN HAUS IN PARAÍBA
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AUCH DER BUNDESSTAAT PARAÍBA, HEIMAT DER PROTAGONISTEN DIESES ARTIKELS, LIEGT IN DER HIER HELL MARKIERTEN DÜRREREGION BRASILIENS
Foto: Lisa Binder nach Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
eigenen Angaben größten sozialen Bewegung Brasiliens vereinigt, dem Landless Ein besonderer Dank geht an Udo Worker Movement (MST). Deren Ange- Lohoff vom Aktionskreis Pater Beda, der hörige wehren sich gegen die unrechtmä- Interviewpartner*innen vermittelt und ßige Inanspruchnahme von Land durch die Lebensläufe der Protagonist*innen Großunternehmen. Nach brasilianischem übersetzt hat. Recht ist es gestattet, Land zu besetzen, Der Aktionskreis Pater Beda kümdas keine soziale Funktion erfüllt. Bis mert sich in Brasiliens Großstädten um heute hat die Organisation durch diese Kinder- und Jugendförderprojekte und Besetzungen nach eigenen Angaben 1,5 im Landesinnern um Kleinbauern und Millionen Hektar Ackerfläche für Fami- -bäuerinnen sowie Landlose. Der Verein lien gewonnen. ist nach seinem Gründer und Träger des Esmael, Maria, Francineide – alle Bundesverdienstkreuzes, dem Franziskadrei zeigen, wie vielschichtig das Phäno- ner Pater Beda, benannt. Wer sich mehr men Landflucht ist. Und was es für viele über die Arbeit der Hilfsorganisation inMenschen bedeutet, die Heimat auf dem formieren möchte, kann dies auf folgender Dorf hinter sich zu lassen, um unter teils Website tun: https://www.pater-beda.de menschenunwürdigen Bedingungen in der Großstadt zu leben. Antonio Cleide betont jedoch, dass die Eindämmung der Landflucht möglich ist: „Wenn wir zum Beispiel allen die Wasserspeicherung ermöglichen, müssten viele Menschen nicht mehr hier wegziehen.“ Und wer weiß, vielleicht sähen wir dann schon bald beTom Gernemann lebte Bauernhöfe und frisch geteerte Stra17, Coesfeld ßen auf der einen Seite und große Städte, ohne die sie heute umgebenden Favelas, … Stadt oder Land – ist ihm momentan egal. auf der anderen. Homeoffice gibt’s überall.
Foto: CPT (Kommission für Landpastoral im Bundesstaat Paraíba)
GANZ GROSSE EUROPAFREUNDSCHAFT
STOCKHAUSEN, BERLIN, STRASSBURG, BRÜSSEL: EUROPA HAT WEIT MEHR ALS NUR EINE HAUPTSTADT. AN GANZ VERSCHIEDENEN ORTEN DER EUROPÄISCHEN UNION SETZEN SICH BÜRGER*INNEN FÜR DEN ZUSAMMENHALT EIN. ABER WIE UNTERSCHEIDET SICH DAS IN DORF UND GROSSSTADT? EIN FEATURE VON JOSCHA F. WESTERKAM.
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n STOCKHAUSEN, sagt Gerd H. Niemeyer, da könne man richtig was bewegen. Da wohne er schon ewig auf dem Bauernhof, da kenne er die Leute, wisse, sie zu erreichen. Da habe er damals schon den Bundestagsabgeordneten im Geschichts-Leistungskurs unterrichtet, wenn auch im Nachbarort. In Stockhausen, da könne man vielleicht nicht so viele Menschen überzeugen wie in der Stadt, aber wenn man hundert in eine Aktion eingebunden habe, dann sei das schon ein Siebtel der Bevölkerung. Vor über 15 Jahren hat Niemeyer (78) begonnen, sich in Stockhausen, im nordrheinwestfälischen Kreis MindenLübbecke, für die EU einzusetzen. Damals mit einer kleinen Ausstellung und einem Quiz im Nebenraum des Europawahl-Lokals. Drei Wahlperioden später dann mit einem großen Open-Air-Konzert am Freitag vor der Europawahl – und dem eigens gegründeten Verein Stockhausen für Europa. Pressewirbel, knapp tausend Konzertbesucher*innen, Wahlbeteiligung fast 75 Prozent: Niemeyer ist begeistert von dem Erfolg. „Wir haben nicht die Welt verändert mit unserem BEFORE BRÜSSEL – AN ERSTER STELLE DER EU STEHT DIE INITIATIVE DER BÜRGER*INNEN Foto: Christian Lue / unsplash Konzert. Aber wir haben Punktuelles versich ändern.“ Und das wird es auch, verändert und die Leute haben gesehen, dass Achim Post, Bundestagsabgeordneter des gibt es die Europa-Union Berlin; mit 750 auch auf dem Dorf so was möglich ist.“ Kreises Minden-Lübbecke (61, SPD) – Mitgliedern in der Hauptstadt und über mutlich noch in diesem Halbjahr, auf ihre Etwa 70 Mitglieder hat sein Ver- eben der Abgeordnete, dem Niemeyer in 7.000 in ganz Deutschland die mitglieder- Initiative hin. Wie Berlin von der EU profitiert? ein heute, von 20 bis 85 Jahren, gut die den Siebzigern schon Geschichte gelehrt stärkste Pro-Europa-Bürgerbewegung des Hälfte davon aus Stockhausen. Fast jede hatte – ist Gründungsmitglied und steht Landes. In Berlin zu leben, sei dabei ein „Enorm“, sagt Manuel Knapp. „Als Land, Partei ist vertreten – bis auf die AfD, mit selbst, wie er sagt, in einem sehr engen großer Vorteil, so Vorstandsmitglied Ma- als Stadt, als Kiez. Auch durch die Grenznähe nach Polen. Wir wohnen hier so eng der ließe sich ihr Konzept einfach nicht Verhältnis zum Verein. „Engagement nuel Knapp (34): Da sei man im direkten vereinbaren. Gelegentlich gibt es Diskus- spielt eine immens große Rolle. Ich kann Kontakt zu Parlament und EU-Koalition, aufeinander, da wird viel direkter spürbar, käme gut an die Botschafter*innen der wie hoch die Unterstützung durch die sionsrunden und andere Veranstaltungen, nicht beurteilen, ob es einen Unterschied EU ist. Auf dem Land hängt hier und da der Verein besteht also auch nach dem zwischen Land und Stadt gibt, was die anderen Länder heran und habe mehrere Konzert weiter. Die EU-Politiker Elmar Einflüsse der EU betrifft. Viel wichtiger Lobby-Verbände, die hinter einem stün- mal ein Schild mit EU-Fonds-Logos, aber den. hier ist die Chance hoch, an der nächsten Brok und Martin Schulz kommen nach ist, dass es vor Ort Initiativen gibt, die Wie auch Stockhausen für Europa Ecke direkt noch eins zu finden.“ Und KaStockhausen; das Dorf wird zur Europa- sich um Europa kümmern. Und besser als Hochburg. „Hier hingen 40, nein 50 Euro- Stockhausen kann man es für Europa gar ist die Europa-Union Berlin parteiüber- tharina Borngässer betont: „Berlin ist eine greifend – „natürlich bis auf die AfD“. Die super bunte und vielfältige Stadt. Es gibt pafahnen“, sagt Niemeyer, „bei mir in der nicht machen.“ Nachbarschaft an jedem Haus.“ Elmar Posts Parteikollegin, Bundestags- lehne gerade die Wünsche der Europa- so viele Bürger aus anderen Ländern, das Brok, das habe er sich erzählen lassen, vizepräsidentin Dagmar Ziegler (60), er- Union Berlin ab: keinen Staat mit Gesetz- wäre ohne die EU nicht denkbar.“ soll mal gesagt haben: „Wenn es überall gänzt: „Ohne europäische Fördermittel gebungskompetenz und einer eigenen so gut aussähe wie in Stockhausen, dann würde es auf dem Land sehr traurig aus- Regierung, ebenso keine „Vereinigten sähe Deutschland anders aus.“ sehen. Ländliche Entwicklung ohne Euro- Staaten von Europa“, fordern sie auf ihrer Website. Das momentan größte Ziel der Die Stockhauser*innen sind eben pa ist schier unmöglich geworden.“ Europa-Union Berlin: Europa in der Berdie ganz großen Fans von Europa und liner Verfassung zu verankern. „Hamburg dieser Bewegung. Nur die ansässigen „SUPER BUNTE UND VIELFÄLund Berlin sind die letzten beiden BunLandwirt*innen stehen der EU wegen ei- TIGE STADT“ desländer, in denen Europa nicht in der niger Verordnungen eher kritisch gegenüber. „Aber auch die sind nicht prinzipiell In BERLIN sieht vieles anders aus – doch Landesverfassung steht“, so Vorstandsnicht das Verhältnis zu Europa. Dort mitglied Katharina Borngässer „das muss gegen Europa“, so Niemeyer.
EINWOHNER*INNEN VEREINSMITGLIEDER VEREINS-GRÜNDUNGSJAHR OBERSTES VEREINSZIEL BEKANNT FÜR
STOCKHAUSEN
BERLIN
700
3.700.000
70
750
2018
1949
Zusammenhalt in Europa
europäische Einigung
den Europa-Verein
Currywurst
Joscha F. Westerkamp 17, Preußisch Oldendorf … reimt um sein Leben gern, ob in der Stadt, Land oder fern, ob auf der Erde oder einem Stern.
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TIKTOK-TANZ GEGEN RASSISMUS?
POLITISCHE BILDUNG AUF TIKTOK – KANN DAS FUNKTIONIEREN? JA, WEISS QUANG PAASCH, DENN DIE OFT MISSVERSTANDENE PLATTFORM BIETET MEHR ALS TANZENDE KINDER. ANNIKA SCHWARZE HAT DEN CONTENT CREATOR IN SEINER WOHNUNG BESUCHT
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uang Paasch steht in seinem Berliner WG-Zimmer. An der weißen Wand hinter ihm lehnt ein Stativ samt Ringlicht für sein Smartphone. Der Raum ist klein, das schmale Fenster bietet Ausblick aus dem vierten Stock eines Altbaus. Auf Paaschs vollgepacktem Schreibtisch findet sich gerade so noch Platz für seinen Laptop, um den sich aktuell sein ganzes Leben dreht. Der 20-Jährige studiert Politik und Sonderpädagogik in Berlin. Er ist Pressesprecher bei Fridays For Future und neuerdings verdient er sein Geld als Moderator des bildungspolitischen Formats „What.Politik“ auf TikTok.
TIKTOK ALS NEUES SPRACHROHR Als die großen Bühnen, auf denen Quang in der Vergangenheit oft die Aufmerksamkeit auf den Klimanotstand richtete, mit dem Beginn der Pandemie verschwanden, wurde TikTok zu seinem Sprachrohr. In Zusammenarbeit mit der Konferenz für digitale Jugendkultur, der TINCON, klärt er nun bei „What.Politik“ über politische Themen wie Aktivismus, Identität oder Diskriminierung auf. „Ich habe mir das Ziel gesetzt, aufzuzeigen, dass unsere Generation das Privileg hat, über sich selbst nachzudenken, aber anderswo Demokratie nicht selbstverständlich ist. Diese Ambivalenz möchte ich aufschlüsseln.“ Quangs grauer Hoodie fällt bis zu seiner schlichten Anzughose. Seine schwarzen Haare liegen im Mittelscheitel, eng am Zeitgeist also. Er scrollt auf TikTok herum, um zu sehen, wie viele Follower*innen „What.Politik“ aktuell hat. Es sind mehr als 13.000. Dass einzelne Videos hunderttausende Aufrufe generieren, ist bedingt durch den präzisen Algorithmus der Plattform leichter, als eine Zielgruppe dauerhaft an sich zu binden. Bis zum Erfolg des Kanals war es nicht immer leicht. Selbst Quang, der schon immer viel Zeit auf der Plattform verbrachte, zweifelte zunächst an der Idee. „Ich habe mir gar nicht vorstellen können, auf TikTok Bildungsvideos zu machen. Wer hat dort schon die Aufmerksamkeitsspanne, um etwas zu lernen?”
„MIR FIEL ES SCHWER, DER ENTERTAINING, NIEDRIGSCHWELLIGE, KURZE TIKTOK-VIDEOSTYP ZU SEIN.” So, wie er dasteht, wirkt Quang zurückhaltend. Er musste nicht zuletzt an sich selbst arbeiten, um dem TikTokAlgorithmus zu entsprechen. „Mir fiel es erst sehr schwer, der entertaining, niedrigschwellige, kurze TikTok-Videos-Typ zu sein.“ Von den anfänglichen Schwierigkeiten zu Beginn des Projekts im vergangenen September ist nichts mehr zu spüren. Der Kanal ist gewachsen und
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mit ihm auch Quang selbst. Die Videos wurden knapper, seine Sprache schneller und die Inhalte persönlicher. Manchmal auf Konfrontation angelegt, manchmal ganz humorvoll. Nun erreichen seine Videos tausende Nutzer*innen. „Die Lücke, die ‚What.Politik‘ füllt, ist ja, dass die Moderator*innen einfach jung sind. Unsere Zielgruppe ist in weiten Teilen so alt wie die Moderator*innen selbst. Jugendliche wie du und ich, das schafft Nähe.” Seine Arbeit auf TikTok trifft nicht immer auf Verständnis. „Wenn ich sage, ich mache politische Bildungsvideos auf TikTok, dann fragen sie ‚Tanzt du dann da?‘ Nein, tue ich nicht, aber auch wenn, wäre es doch voll cool, dann hätte ich trotzdem noch eine Message dahinter.” Der Arbeitsaufwand für informative Angebote auf TikTok wird oft unterschätzt, sagt Quang. Sein Arbeitstag führt von der Recherche und Redaktionssitzungen über die Anfertigung eines Skripts bis hin zur Aufnahme sowie Post-Produktion des Videos. Schnitt, Untertitelung, Hintergrundmusik, Thumbnail, Videobeschreibung. Erst, wenn alles sitzt und sein Team das Video abnickt, wird es hochgeladen.
DEN GRUNDSTEIN LEGEN FÜR EINE DIVERSERE GESELLSCHAFT Während man mit gesellschaftspolitischen Kontroversen in großen Städten, insbesondere in Berlin, dem politischen Epizentrums Deutschlands, meist zügig konfrontiert wird, sieht das in ländlichen Regionen oftmals ganz anders aus. Doch durch das Internet ist es ein Leichtes, jedem die Inhalte, die Quang auf TikTok produziert, zugänglich zu machen – egal ob in der Stadt oder auf dem Land. „Ich glaube, die Lebensrealitäten sind schon komplett unterschiedlich. Ich bin gebürtiger Berliner, aber auch PoC, also Person of Color, mit Migrationshintergrund. Trotzdem erreichen wir viele unterschiedliche Menschen. Selbst in meinem privaten Umfeld nutzen plötzlich Personen, die gar nicht so politisch sind wie ich, im Gespräch mit mir Begriffe, die ich mal erklärt habe. Dann erzählen sie mir, dass sie das bei mir gelernt haben, bei TikTok. Und das motiviert mich total.” Wird TikTok in Zukunft auch Einfluss auf die deutsche Politiklandschaft haben? Quang will mit seiner Arbeit den Grundstein für eine diversere Gesellschaft legen – davon können auch Politiker*innen profitieren. „Allein dadurch, dass auf TikTok über diese Themen gesprochen wird, könnte der Prozess angestoßen werden, dass mit den Eltern am Esstisch oder mit Freund*innen auf dem Schulhof über sie geredet wird.” Seine Arbeit bei „What.Politik” mag nur ein Rädchen sein – aber sie ist mehr als eine bloße Spielerei im Internet. Schließlich muss Aufmerksamkeit erzeugt werden,
SEINE VIDEOS NIMMT QUANG IMMER MIT SEINEM SMARTPHONE IN SEINEM BERLINER WG-ZIMMER AUF
Foto: Annika Schwarze
um gesellschaftliches Umdenken möglich zu machen. Damit hat Bildungsarbeit auf TikTok das Potenzial, den Schneeball zu mehr Diversität ins Rollen zu bringen.
Annika Schwarze 18, Berlin ... hat sich erst mit Beginn der Pandemie auf TikTok verirrt.
CORONA ALS CHANCE FÜR MEHR LANDLIEBE?
VERÄNDERT DIE CORONA-PANDEMIE AUCH UNSERE VORLIEBEN FÜR DEN WOHNORT? ANNA HOHLWEGER HAT MIT VIER MENSCHEN IN UNTERSCHIEDLICHSTEN LEBENSSITUATIONEN GESPROCHEN.
LUKAS SPECKBACHER, 18 JAHRE SCHÜLER, DER SEIT SEINER KINDHEIT AUF DEM LAND LEBT
THOMAS WOLFF, 49 JAHRE KAUFMÄNNISCHER ANGESTELLTER, DER IN BERLIN WEDDING AUFGEWACHSEN IST
VALERIA KRAMAR, 18 JAHRE SCHÜLERIN, DIE VON DER STADT AUF‘S LAND GEZOGEN IST
DAVID RIEGGER, 19 JAHRE STUDENT, DER FÜR SEIN STUDIUM VOM LAND IN DIE STADT ZOG
Ich bin auf dem Land aufgewachsen und habe wenig Erfahrung mit dem Leben in der Stadt. Für mich ist ein Vorteil hier, dass nicht alles auf engstem Raum ist. Man hat neben mehr Freiraum auch Ortsvereine, wodurch eine richtige Gemeinschaft entsteht, bei der jede*r die anderen kennt. Durch Corona habe ich all diese Vorteile mehr zu schätzen gelernt. Bei mir zuhause beispielsweise gibt es alles an Natur, was man sich wünschen kann, egal ob einen See, Wald oder Berge. In der Stadt hat man häufiger ungewollt Kontakt mit anderen, etwa in der U-Bahn. Das fällt auf dem Land weg, sodass sich einfacher die Kontakte reduzieren lassen. Von Nachteil ist jedoch das begrenzte Angebot von Geschäften, das man vor allem während des Lockdowns zu spüren bekommt: Wenn es nur einen Bäcker im Dorf gibt und dieser geschlossen ist, kann man natürlich nicht zu einem anderen fahren. Ich kann nachvollziehen, dass sich durch Corona der Trend, auf das Land zu ziehen, weiter verstärkt. Der Freiraum wird mehr wertgeschätzt und die hohen Mieten machen vielen jetzt noch mehr zu schaffen.
Ich bin in Berlin zuerst in einem Haus in der Brunnenstraße mit Blick auf die Mauer aufgewachsen. Dort waren Anonymität und wenige Freund*innen mein Alltag. Wir hatten als Kinder kaum Platz, wodurch es sehr schwer war, Freund*innen zu finden. Für mich brachte die Stadt mehr Nachteile als Vorteile. Das einzig Positive war das Jobangebot für meine Eltern. Ich persönlich kann nicht nachvollziehen, warum Menschen in der Stadt wohnen wollen und bin mittlerweile auch von dort weggezogen. Ich genieße das persönliche Verhältnis zu anderen, bei denen das Wort noch etwas zählt, und natürlich auch, dass man in der Natur ganz andere Möglichkeiten hat. Durch Corona ist die Stadt für mich noch unattraktiver geworden. Zusätzlich sehe ich das Problem, dass man in der Stadt durch die Anonymität versucht, Probleme allein zu lösen, und dann eher zu Alkohol oder Drogen greift. Bei der coronabedingten Flucht aus der Stadt, geht es den Menschen primär, denke ich, um den sozialen Kontakt.
Die gut ausgebaute Infrastruktur und die daraus resultierende Mobilität sehe ich als enormen Vorteil am Leben in der Stadt. Man kommt autofrei an jeden Ort und das ohne lange Wartezeiten. Egal, ob man neue Kontakte knüpfen möchte oder nach Ausgehmöglichkeiten und Restaurants sucht, in der Stadt wird man immer fündig. Natürlich sehe ich auch die Anonymität, den höheren Lärmpegel, den Smog und die Wohnkosten als Nachteil. Am Landleben schätze ich es sehr, die Möglichkeit zu haben, sich im Wald eine Auszeit zu nehmen – und die Gemeinschaft, beziehungsweise das „Jede*rkennt-jede*n-Gefühl“. Natürlich bleibt dort von dem gut ausgebauten Nahverkehr in der Stadt nicht mehr viel übrig. Während Corona bietet das Land deutlich mehr Vorteile für mich und ich kann es wirklich sehr nachvollziehen, dass einige sich entscheiden, aus der Innenstadt in das Umland zu ziehen. Die Unsicherheit über die Dauer der Pandemie spielt dabei, denke ich, auch eine große Rolle. Ich würde mich jederzeit wieder für ein Leben auf dem Land entscheiden.
Ich bin auf dem Land aufgewachsen und dann für mein Studium weggezogen. Als Kind findet man alles Wünschenswerte auf dem Dorf, später möchte man dann mobiler sein und mit mehr Menschen in Kontakt treten als nur mit der Dorfgemeinschaft. Während des Lockdowns bieten sich all diese Möglichkeiten nicht in der Stadt. Keine ablenkenden Geschäfte, Partys oder Treffen mit Freund*innen zu haben, die einen an der Arbeit im Studium und in Klausurenphasen hindern könnten – das ist durchaus ein Vorteil für mich als Student. Es ist jedoch schwierig, sich in der Stadt draußen zu bewegen. Die Fußgängerzonen sind leer und überall herrscht Maskenpflicht. Die Bewegung in der Natur hat mir sehr gefehlt, weshalb ich für ein paar Wochen wieder auf das Land zurückgekehrt bin. Dauerhaft ist das für mich aber keine Lösung, denn es entstehen lange Wege zum nächsten Supermarkt, man ist immer vom Auto abhängig und am Internetausbau fehlt es teilweise noch sehr.
Anna Hohlweger 18, Bayern/Traunstein … findet, dass manchmal ein leeres Blatt besser ist, als ein volles mit nichts drauf.
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VON BERLIN, EINER WASSERMÜHLE UND DEN 60 KM DAZWISCHEN
„ZWEI ZIMMER, KÜCHE, BAD UND ‚N KLEINER BALKON“, SO SINGT HENNING MAY VON ANNENMAYKANTEREIT ÜBER DAS LEBEN IN DER STADT. ABER WAS, WENN DAS NICHT MEHR REICHT, WEIL DER LÄRM ZU GROSS, DIE WOHNUNG ZU KLEIN UND DER TRUBEL ZU HEFTIG WIRD? YVONNE BLASCHKE WIRFT EINEN BLICK NACH BRANDENBURG: ÜBER DIE LIEBE ZUM LAND UND MENSCHEN, DIE DEN SCHRITT WAGTEN.
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eit der Industrialisierung sind Städte zu einem immer attraktiver werdenden Wohnort geworden. Mittlerweile gibt es aber viele Leute, die vom Landleben träumen. Oft gilt es, abzuwägen: Was für Angebote gibt es dort? Muss ich pendeln? Wie gut ist die Anbindung in die nächste Stadt? Das Leben in der Stadt – meist ist es ganz einfach praktischer. Alles ist erreichbar und im Fall der Fälle ist der öffentliche Nahverkehr so gut ausgebaut, dass jede halbe Stunde ein Bus oder eine Bahn zu dem gewünschten Ziel fährt. Doch dass man scheinbar in einer großen Stadt wohnen muss, wenn man sein
Leben vernünftig leben möchte, wollen nicht alle akzeptieren. Einige Projekte, die von Städter*innen ins Leben gerufen wurden, haben bewiesen, dass attraktives und gemeinschaftliches Leben auch auf dem Land möglich ist.
BRÜCK: DER GROSSSTADT ENTKOMMEN So ist zum Beispiel die Alte Mühle Gömnigk für zwanzig Erwachsene und deren Kinder zu einem Zuhause geworden. Die Wassermühle liegt in Brück, einer kleinen Stadt mit etwa 3.900 Einwohner*innen, knapp 60 Kilometer südwestlich von
WOHNEN AUSSERHALB DER STADT: DER TRAUM VOM EIGENEN GARTEN
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Foto: Christopher Folz
Berlin. Mit dem Zug fährt man etwa eine Corona-Zeiten ist er aber erleichtert, nicht Stunde dorthin. mehr in der Stadt zu wohnen. Auch für Andreas ist von Anfang an mit von seine Kinder sei das schöner, weil es auf der Partie und wohnt bereits seit sieben der Mühle genügend Platz und andere Jahren mit seiner Freundin und ihren Kinder gibt, mit denen sie spielen können. zwei Kindern in der alten Mühle. Seit dem Umzug aus Berlin hat er viele neue LANDKREIS ELBE-ELSTER: ARDinge dazugelernt. Dass er mal auf einem BEITEN VON ÜBERALL Traktor sitzen würde, hätte er sich vorher zum Beispiel nicht vorstellen können. Er Neben Gemeinschaftsprojekten wie der meint, dass man sich auf dem Land ein- Alten Mühle Gömnigk gibt es auch Initifach mit anderen Dingen beschäftigt als ativen, die Menschen bei der Umorientierung von Stadt aufs Land helfen. Beiin der Stadt – etwa damit, eine Motorsäge zu bedienen. Das kann Andreas mittler- spielsweise ist die Willkommensagentur weile gut, weil die Bewohner*innen der „Comeback Elbe-Elster“ eine Anlaufstelle Mühle für ihre Heizung Brennholz brau- für alle, die sich einen Umzug in den Landkreis Elbe-Elster vorstellen können. chen und dieses meist aus dem eigenen Wald holen. Er lacht: „Das sind wahr- Sie unterstützt diese Menschen bei ihscheinlich auch so typische Landsachen.“ ren ersten Schritten, berät und begleitet Andreas erinnert sich gut, dass zu sie auch nach dem Umzug. Besonders Beginn des Projekts alles noch sehr unor- wichtig ist dabei die Unterstützung bei ganisiert war. Jede Woche kamen die Pro- der Jobfindung, da das Angebot in ländlichen Räumen meist dünner gesät ist als jektmitglieder zusammen und besprachen das weitere Vorgehen, meist dauerten die- in Städten. Initiativen für Rückkehrende und se Sitzungen an die sechs Stunden. Inzwischen läuft das Ganze strukturierter ab. Zuziehende wie „Comeback Elbe-Elster“ Für die jeweiligen Arbeitsbereiche gibt es gibt es viele, insgesamt sind es laut der Projektkoordinatorin Stephanie AurasKleingruppen, sodass die Besprechungen im Plenum deutlich schneller vorangehen. Lehmann deutschlandweit etwa 95. Viele Geld verdient wird in der alten Müh- davon, so auch die Willkommensagentur, le auf unterschiedliche Art und Weise. Ei- setzen dabei auf „Co-Working“, das benige Bewohner*innen sind handwerklich deutet, dass sie Arbeitsplätze in Büroräutätig und deshalb bei der Mühle selbst an- men vermieten, vor allem an Selbststängestellt. Andere beschäftigen sich mit Pro- dige, Freiberufler*innen und Angestellte, jektarbeit, wieder andere pendeln jeden die von Zuhause aus arbeiten. Der Traum vom Landleben – er Tag nach Berlin. Das hat auch Andreas im ersten Jahr nach dem Umzug gemacht. muss kein Traum bleiben, wie die vielfälDa ihm das Pendeln jedoch auf Dauer tigen Initiativen und Gemeinschaftsprozu stressig war, hat er sich nach seiner jekte zeigen. Und noch etwas beweisen Elternzeit um einen Job vor Ort bemüht sie: Wer Ruhe von der Großstadt und Raum zum Atmen sucht, der muss diesen und arbeitet nun als Post- und Paketbote. Schritt nicht allein gehen. Insgesamt gefällt ihm das Leben jetzt deutlich besser als mitten in Berlin. Er weiß noch genau, wie er sich dort zunehmend unwohl gefühlt hat. Als er und seine Freundin schließlich ein Kind bekamen und die Suche nach einer vernünftigen Wohnung im Sand verlief, war klar, dass sie wegziehen würden. Trotzdem war ihnen eine Anbindung nach Berlin wichtig, genauso wie das Leben in einer Gemeinschaft. Beides Wünsche, die sie sich mit der Alten Mühle Gömnigk erfüllen konnten. Manchmal fehlt Andreas das Angebot einer Großstadt dennoch. Schon beim Einkaufen kann er nicht mehr so wähYvonne Blaschke lerisch sein, weil es nur den einen Dis18, Fröndenberg counter gibt. Auch Veranstaltungen finden nur vereinzelt statt, und das einzige … liebt ihren Füller über alles, kann aber auch Kino in der näheren Umgebung hat eben ganz passabel mit einer ein übersichtliches Programm. „Dann Tastatur umgehen. muss man halt in den Film gehen, der da kommt“, schmunzelt Andreas. Gerade in
VON „GOLD“ AUS DEM RHEINLAND UND MEHR „GRÜN“ IN DER EU-AGRARPOLITIK
„DAS GOLD AUS DEM RHEINLAND – JETZT BESTELLEN!“ SO WIRBT FAMILIE DECKER AUF IHRER WEBSITE FÜR DEN LANDWIRTSCHAFTLICHEN HOF IM MÜHLENORT STOMMELN IN DER NÄHE VON KÖLN. BEIM „GOLD“ DER DECKERS HANDELT ES SICH ABER KEINESFALLS UM WEIZEN, GEMEINT IST QUINOA. EIN FEATURE VON ANNA MÜLLER ÜBER DIE EU-AGRARPOLITIK ZWISCHEN WUNSCH UND WIRKLICHKEIT.
KINOA – DAS GOLD AUS DEM RHEINLAND
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unglandwirt Thomas Decker betreibt den Großen Kreuzhof in der achten Generation und baut neben Kartoffeln, Zuckerrüben, Raps, Weizen, Rollrasen und Ackerbohnen seit zwei Jahren auch Quinoa an. Um heute von der Landwirtschaft leben zu können, braucht es Kreativität und innovative Ideen sowie Engagement im World Wide Web und den sozialen Netzwerken. Ein Landwirt sei eben auch Unternehmer, so Decker. Der 34-Jährige ist Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Landjugend Nordrhein. Er war in den vergangenen Jahren an Bauernprotesten in Bonn und Hamburg beteiligt. Mit den Demonstrationen wollte man sich bemerkbar machen, gegen das Image als „Umweltsünder*innen“ kämpfen und sich für die Landwirtschaft in Deutschland einsetzen. Decker zählt seinen Hof zur konventionellen Landwirtschaft. Trotzdem sieht er die Notwendigkeit, sich mit dem Umweltschutz auseinander
Foto: Stephan Strache
IN F O R M ATION Die konventionelle Landwirtschaft ist die am meisten verbreitete Form der Landwirtschaft, bis zu 90 % der landwirtschaftlichen Betriebe setzen aktuell auf konventionelle Produktion. Leitbild von Bündnis 90/Die Grünen ist hingegen ein ökologischer, nachhaltiger Landbau. Ihr Ziel bis 2030 ist es, 30 % der landwirtschaftlichen Flächen in Deutschland ökologisch zu bewirtschaften. Ökologischer Landbau erhält und schont die natürlichen Ressourcen und hat vielfältige positive Auswirkungen auf die Umwelt, Tiere werden artgerecht gehalten und im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft u.a. keine chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel eingesetzt. Neben der Förderung von ökologischer Landwirtschaft solle auch die konventionelle Landwirtschaft auf der gesamten Fläche umweltverträglicher werden.
zu setzen. Auf Teilen seiner Fläche hat er Blühstreifen angelegt und im Anbau achtet er auf eine vielfältige Fruchtfolge. Mit diesen freiwilligen Maßnahmen trägt er zur Biodiversität in der Landwirtschaft bei und erhält dafür EU-Gelder aus der zweiten Säule. Insgesamt ist die EU für Decker in seinem Arbeitsalltag als Landwirt „sehr spürbar“. Die Arbeit auf dem Feld macht nur 20 % seines Arbeitsalltags aus, da er die meiste Zeit im Büro tätig ist. Deswegen wünscht er sich von der EU-Agrarreform weniger Bürokratie, damit ein Anteil von 40 % Feldarbeit wieder möglich wäre, und realistische Auflagen für die Landwirt*innen in Sachen Umweltschutz und Nachhaltigkeit..
DIE INTENSITÄT DES GRÜNS IM GREEN DEAL – WENIG GRÜN, WENIG REFORM Deckers Wünsche und Forderungen teilen viele andere Landwirt*innen. Stephan
Schoch, Referent für europäische und internationale Agrarpolitik beim Bauernverband e.V. bestätigt, dass die Mehrzahl der Landwirt*innen durchaus bereit sei, eine „grünere“ Agrarpolitik mitzutragen. Eine Basisprämie, die nicht an Umweltauflagen gebunden ist, sollte dennoch erhalten bleiben, auf diese seien die Landwirt*innen angewiesen. Schoch gibt zu bedenken, dass andernfalls die Abwanderung landwirtschaftlicher Betriebe ins Ausland zunähme. Später würden die Produkte dann wieder importiert, weil sie im Inland aufgrund zu strenger Auflagen niemand mehr produzieren möchte. Auch Thomas Decker beschwert sich über diese Ungerechtigkeit. Er findet, wenn es entsprechende Auflagen im eigenen Land gibt, dann sollten nur Produkte importiert werden, die unter gleichen Auflagen hergestellt wurden. Umweltverbände fordern trotzdem einen radikalen Systemwechsel und die hundertprozentige Umverteilung der ersten Säule in die
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zweite. Eine derart tiefgreifende Reform ist allerdings nicht in Sicht. Aktuell schlägt die Europäische Kommission in Anlehnung an den European Green Deal vor, dass 30 % der finanziellen Mittel an Umweltmaßnahmen gebunden werden. Der Rat und das Parlament sind laut Robert Gampfer, dem politischen Referenten der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, allerdings weniger ambitioniert, wenn es um die Verwirklichung der Ziele des Green Deal in der Agrarpolitik geht. Ihre Positionen gehen außerdem stark auseinander. Die Notwendigkeit einer „grüneren“ Agrarpolitik sieht zwar die Mehrheit, aber über die Intensität des
„Grün“ wird man laut Gampfers Einschätzung wohl noch längere Zeit streiten. Die ambitionierten Ziele des Green Deal können nicht ohne eine massive Veränderung in der Agrarpolitik umgesetzt werden. Deswegen sind Umweltverbände von so wenig „grün“ und so wenig Reform enttäuscht. Gampfer hingegen ist langfristig optimistisch. Er ist der Meinung, dass die Reform einen zukünftigen Systemwechsel in die Wege leiten könnte. Im Endeffekt bleibe nun aber erstmal abzuwarten, wie die Strategiepläne der einzelnen Mitgliedsstaaten ausfallen und wie sie die EU-Gelder aus dem Fördertopf verteilen.
INFORM AT I ON Bei den Verhandlungen zur EU-Agrarreform werden neue Richtlinien bezüglich der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU, kurz GAP, diskutiert. Ziel der GAP ist die gemeinsame Förderung der ländlichen Entwicklung, der Lebensmittelsicherheit sowie des Tier- und Umweltschutzes. Landwirt*innen erhalten Agrarsubventionen über ein Zwei-Säulen-System. In der ersten Säule sind die Gelder primär an die Fläche gebunden, heißt die Betriebe erhalten Direktzahlungen. Unterstützung aus der zweiten Säule gibt es
für Landwirt*innen, die sich konkret für die Entwicklung des ländlichen Raumes, beispielsweise durch Umwelt- oder Tierschutz, einsetzen. Alle sieben Jahre wird über eine Reformierung der Struktur und der Fördermittel der GAP verhandelt. Aktuell befindet sich der Prozess in den Trilog-Verhandlungen, an denen die gesetzgebenden EU-Institutionen Europäische Kommission, Rat der Europäischen Union und Europäisches Parlament beteiligt sind.
IN FO RM AT IO N Im Dezember 2019 wurde das Konzept des „European Green Deal“ von der Europäischen Kommission vorgestellt. Dieses umfasst einen Aktionsplan, der den europäischen Kontinent bis 2050 zu einem klimaneutralen Kontinent machen soll.
Unterstützung von Kleinbetrieben, damit die bunte Farbpalette der Landwirt*innen auch in Zukunft bleibt und nicht an Vielfalt einbüße.
DIE BUNTE FARBPALETTE DER LANDWIRTSCHAFT ERHALTEN Zurück zum „Rheinland-Gold“ von Thomas Decker. Der Aufbau der Marke „kinoa“, rund um Verpackung, Vertrieb etc. war mit viel Arbeit verbunden, aber Decker wirkt stolz und zufrieden. Er blickt optimistisch in die Zukunft und strebt irgendwann die Übergabe seines Hofs an die nächste Generation an. Dafür will er den Betrieb wirtschaftlich weiterentwickeln. Aktuelle Beschlüsse zum „Grüner“-Werden hält er für umsetzbar. Doch die Politik wolle viel und könne es doch nicht immer umsetzen, so der Junglandwirt. Er wünscht sich mehr Verständnis von Politik und Gesellschaft, der Preisdruck und der Zwang durch Lebensmittelhändler*innen seien groß. Deswegen betont er die Wichtigkeit der
Anna Müller 21, Vallendar … hat in Chile umgeben von Kühen gewohnt und könnte sich das wieder vorstellen, aber nur für eine begrenzte Zeit.
ES GEHT NUR MITEINANDER!
IN DEUTSCHLAND GIBT ES IMMER WENIGER LANDWIRT*INNEN. VIELEN VERBRAUCHER*INNEN IST DIE ARBEIT AUF DEM BAUERNHOF FREMD GEWORDEN. NELE KRÄMER HAT NACHGEFRAGT, WIE MENSCHEN IN DER LANDWIRTSCHAFT DEN DIALOG MIT DEN KONSUMENT*INNEN WIEDERHERSTELLEN WOLLEN.
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o früher viele kleine familiengeführte Bauernhöfe das landschaftliche Bild prägten, stehen heute große Agrarbetriebe, die mehrere hundert Hektar Ackerfläche bewirtschaften. Der Strukturwandel in der deutschen Landwirtschaft schreitet voran und verändert die Wahrnehmung in der Bevölkerung. 1960 gab es in Deutschland noch etwa 1,5 Millionen Landwirt*innen, heute ist ihre Zahl auf etwa 260.000 gesunken. Damit hat sich die zu bewirtschaftende Ackerfläche pro Landwirt*in im Durchschnitt verzehnfacht. Jede*r von ihnen bewirtschaften immer mehr Fläche und hält auch immer mehr Tiere. Während einige wachsen, um ihre Existenz zu sichern, müssen andere ihren Betrieb aufgeben. Allein zwischen 2010 und 2016 schlossen 23.000 Landwirt*innen ihre Ställe. Viele Verbraucher*innen haben eine romantisierte Vorstellung vom Bauernhofleben. Andere verbinden Landwirtschaft mit industrieller Massentierhaltung und Umweltverschmutzung. Die moderne Landwirtschaft von heute hat jedoch mit keiner der beiden Vorstellungen mehr viel gemeinsam.
DIALOG ZWISCHEN DEN PARTEIEN WIEDERHERSTELLEN KOPF HOCH: GEMEINSAM KANN DER AUSTAUSCH ZWISCHEN LANDWIRT*IN UND VERBRAUCHER*IN WIEDER GELINGEN
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Foto: Charlotte Krämer
Der Verein „Forum Moderne Landwirtschaft” hat sich zum Ziel gesetzt, den
DER STRUKTURWANDEL IN DER LANDWIRTSCHAFT SCHREITET VORAN: IMMER WENIGER BETRIEBE WERDEN VON BÄUERLICHEN FAMILIEN BEWIRTSCHAFTET
Dialog zwischen Landwirt*innen und Verbraucher*innen wiederherzustellen und Gräben zu überwinden. ,,Die Lücke zwischen dem Stadt- und Landleben ist in den letzten Jahren immer größer geworden – und damit auch die Lücke zwischen Landwirt*innen und Verbraucher*innen“, so Pressesprecherin Beatrix Reißig. ,,Wir sehen unsere Aufgabe darin, den Dialog wieder zu fördern.“ Das „Forum Moderne Landwirtschaft” hat ein Netzwerk aus Landwirt*innen in ganz Deutschland aufgebaut. Auf seinen Social-Media-Kanälen präsentiert der Verein ein realistisches Bild der deutschen Landwirtschaft. Auf Instagram nehmen sie zum Beispiel Fakten unter die Lupe, stellen einzelne Betriebe vor und produzieren kurze Videos von der Haferaussaat bis hin zur Geburt eines Kälbchens. Zu einer Aktion auf einem Berliner Wochenmarkt erklärt Reißig: ,,Wir waren gemeinsam mit den Landwirt*innen unterwegs und haben wirklich einfach mal gesagt: ‘Stell mir eine Frage, die du schon immer mal einem Landwirt stellen wolltest’“. Den Menschen fehlt es an persönlichen Erfahrungen. Hier setzt der Verein an. Mit Aktionen wie ,,Landwirt für einen Tag“ können Konsument*innen einen land-
wirtschaftlichen Betrieb in ihrer Nähe besuchen und den Alltag eines Landwirts oder einer Landwirtin hautnah miterleben.
hinzu, ,,dass das Tierwohl am Ende nicht zwangsläufig etwas mit der Betriebsgröße zu tun hat, sondern mit dem Landwirt an sich“.
TECHNISCHE INNOVATIONEN FÜR MEHR TIERWOHL
EIN VIERTEL DER DEUTSCHEN HAT NOCH NIE MIT EINEM*EINER LANDWIRT*IN GESPROCHEN
Auch das gestiegene Bewusstsein für die Umwelt und das Wohl der Tiere stellt Landwirt*innen vor Herausforderungen. Neben den gesellschaftlichen Anforderungen sind sie außerdem einem starken Preisdruck durch den Lebensmitteleinzelhandel ausgesetzt und können sich nicht jede bauliche Veränderung in den Ställen für mehr Tierwohl leisten. Was sich bereits durchsetzt, sind technische Innovationen in den Ställen und auf den Feldern, die dabei helfen, Maßnahmen zum Tierwohl und Umweltschutz umzusetzen. Arbeiten, die früher von Hand erledigt werden mussten, werden nun von modernen Maschinen wie Melkrobotern oder GPS-gesteuerten Traktoren ausgeübt. Beatrix Reißig erklärt: ,,Das Tiermonitoring ermöglicht es, genau auf jedes Tier einzugehen. Ich sehe genau, welche Kuh wie viel Futter braucht und wann das Tier gemolken werden will.“ Reißig fügt
Die Beschäftigungsrate in landwirtschaftlichen Berufen sinkt durch den Strukturwandel bedingt jährlich um 2,3 Prozent. Technische Innovationen verändern die Arbeitsweise und immer weniger Menschen haben ein realistisches Bild von der Arbeit auf dem Bauernhof. Umfragen ergaben, dass es in der Bevölkerung ein sehr geringes Wissen über Landwirtschaft gibt. Etwa ein Viertel der Deutschen hat in seinem Leben noch nie mit einem Landwirt oder einer Landwirtin persönlich gesprochen. Das möchte das Forum Moderne Landwirtschaft ändern. In Deutschland gibt es immer weniger Landwirt*innen, dennoch müssen sie für immer mehr Menschen Lebensmittel produzieren. 1949 ernährte ein*e Landwirt*in noch zehn Menschen, 2016 waren es bereits 135. Landwirt*innen for-
Foto: Charlotte Krämer
dern Wertschätzung für ihre Arbeit und angemessene Lebensmittelpreise. ,,Ich glaube, was verloren gegangen ist, ist das Verständnis für die Arbeit, die hinter der Lebensmittelproduktion steckt“, so Beatrix Reißig im Interview. Damit die deutsche Landwirtschaft auch in Zukunft bestehen und jede*n von uns mit hochwertigen Lebensmitteln versorgen kann, sei es wichtig, dass Landwirt*innen und Verbraucher*innen aufeinander zugehen. Vereine wie das Forum Moderne Landwirtschaft sowie die Initiative und Öffentlichkeitsarbeit der Junglandwirt*innen bieten erste Ansätze dafür.
Nele Krämer 21, Herford … wünscht sich mehr Austausch zwischen der Stadt- und Landbevölkerung.
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VOM ICH ZUM WIR – WIE ENGAGEMENT DAS LANDLEBEN GESTALTET
EIN GESETZ WIRD DISKUTIERT, GEPRÜFT, VERABSCHIEDET – UND DANN? WAS IM GROSSEN GEDACHT WIRD, GEHT AUF KOMMUNALER EBENE HÄUFIG VERLOREN. EIN KOMMENTAR VON LEANN KRÜGER ÜBER BÜRGER*INNEN, DIE MIT VIELFÄLTIGEM SOZIALEM ENGAGEMENT DIE LÄNDLICHEN REALITÄTEN SELBST IN DIE HAND NEHMEN UND DADURCH IHRE EIGENE HEIMAT GESTALTEN.
DER KINDERGARTEN „FLOHKISTE“ IN KASSEEDORF IST EIN LEBENDES BEISPIEL DAFÜR, WIE WEIT SOZIALES ENGAGEMENT REICHEN KANN
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eutschland ist geprägt von länd- Seitdem liegt ihr politischer Fokus belichen Räumen. Mehr als die Hälf- wusst auf dem engen Kontakt mit den Gete der Bevölkerung lebt auf dem Land. meinden des Wahlkreises. Als Motivation Für viele sind die Herausforderungen, dient ihr die Freude daran, nachweislich die das Landleben mit sich bringt, also ihre Umwelt mitzugestalten und diese allgegenwärtig. Der Jugendverein um Veränderung vor der eigenen Haustüre zu die Ecke, die freiwillige Feuerwehr sehen. So begann auch die politische Karoder der belebte Kleingartenverein riere Hagedorns mit einem Projekt um die sind für ein Dorf nicht nur einfach Orte Ecke: der Errichtung eines Kindergartens – sondern vielmehr eine Einladung zum in ihrer Gemeinde. Dieser existiert bis gesellschaftlichen Miteinander. Damit heute – ein lebender Beweis für die Festsind es genau diese Projekte im Klei- stellung, die die Politikerin selbst trifft: nen, die es für die erfolgreiche Ent- „Kommunalpolitik ist nicht nur Theorie, wicklung einer Region braucht. man kann wirklich was verändern”.
„KOMMUNALPOLITIK IST NICHT NUR THEORIE“ Leicht haben es Vorhaben wie die Gründung neuer Vereine auf Kommunalebene allerdings nicht. „Politik wird in Berlin gemacht”, so formuliert es die Staatssekretärin des Bundesfinanzministeriums Bettina Hagedorn (SPD). Der Wunsch nach mehr Lebensqualität und Natur führte sie einst aufs Land. Um ihre Kinder zu unterstützen, beschloss sie daraufhin, sich in der Kommunalpolitik zu engagieren.
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FREIWILLIGKEIT – DEN SAMEN NICHT IM KEIM ERSTICKEN Was aber, wenn positive Änderungen ausbleiben, weil die politischen Vorgaben zu abstrakt, die Herausforderungen zu groß erscheinen – die Kommunikation zwischen Bürger*innen und der Politik also scheitert? Claudia Neu, Soziologin an der Universität Göttingen und auf den ländlichen Raum spezialisiert, sieht darin eine große Aufgabe der Politik. Engagement kann ihr zufolge nur zustande kom-
Foto: Leann Krüger
men, wenn es schon eine grundlegende Infrastruktur gibt. Menschen müssen sich erst einmal in ihrem Raum wohlfühlen, um sich mit sozialem Engagement zu beschäftigen. Nach ihrer Expertise ist zudem ausschlaggebend, dass das Engagement nicht als verpflichtend wahrgenommen wird, denn das schreckt viele Interessierte ab und lässt den Samen des Ehrenamts im Keim ersticken.
cengleichheit im ländlichen Raum und ist selbst Beispiel dafür, wie aus kleinen Schritten Großes entstehen kann: inzwischen zählt er an die halbe Million Mitglieder. Auch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft ist auf das örtliche Engagement aufmerksam geworden. Zusammen mit ausgewählten Landkreisen wird jetzt die Förderung origineller Projekte in Angriff genommen. Das stärkt die Verbindung von Landbevölkerung und Politik und durch die Förderungen stehen neue finanzielle Möglichkeiten offen. Ohne engagierte Bürger*innen bringt das Geld jedoch keinen Mehrwert. Deswegen bleibt es auch in Zukunft so wichtig, dass Menschen ihre Plätze in der Gesellschaft nutzen, um ländliche Räume attraktiv zu gestalten. Damit lässt sich viel bewegen, sei es als Inspirationsquelle für Andere oder im Schaffen ganz simpler, neuer Impulse, die großen Einfluss entwickeln können. Dieser Mut zur Veränderung und das, was er bewirken kann, machen Ortschaften zudem für Außenstehende attraktiv, wodurch auch zukünftig eine soziale Dorfentwicklung gefördert werden kann. Abwanderung und Überalterung sind präsente Herausforderungen, denen jetzt entgegengewirkt werden muss. Es ist nie zu spät, Bestehendes zu verändern. Jede*r Einzelne beeinflusst das Bild, die Geschichte und die Interessenlage des Dorfes – die Menschen prägen primär den Raum und dann erst der Raum die Menschen. Das zukunftsfähige Dorf liegt weder allein in den Händen der Politik noch ausschließlich in denen der Bürger*innen. Vielmehr ist es die Zusammenarbeit von orts- und lebensnaher Politik und sozialem Engagement, die Motor für Veränderung ist und die Einzelne aktiv an der eigenen Heimat mitgestalten lassen. Das Kleine erschafft eben das Große.
DEN EIGENEN PLATZ IN DER GESELLSCHAFT NUTZEN – ZWISCHEN POTENZIALEN UND GRENZEN Dabei sind für nachhaltige Veränderungen in erster Linie die Dorfbewohner*innen vor Ort ausschlaggebend. Sie kennen sich, ihre Umwelt und die Mitmenschen am besten und können deshalb positiven Wandel für alle schaffen. Jedoch sind die Möglichkeiten des Engagements nicht unendlich: Finanzielle Mittel und Zeit sind begrenzt. Initiativen wie der Deutsche Landfrauenverband haben sich davon indes nicht abschrecken lassen. Seit mehr als 70 Jahren arbeitet dieser für die Chan-
Leann Krüger 18, Lübeck … findet das ruhige Landleben schön, kann aber auch laut werden, wenn es um politische Ungerechtigkeit geht.
DIE STRASSE IST BRUTAL
IN JEDER STADT LEBEN WOHNUNGSLOSE MENSCHEN – UND SIE ERFAHREN DORT JEDEN TAG GEWALT. DAS IST ABER DIE KONSEQUENZ EINES STRUKTURELLEN PROBLEMS. EIN FEATURE VON LIMA FRITSCHE.
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Täter*innen würden nur selten gefasst. Alkohol oder ein guter Schlafplatz sind die Bewohner*innen sich tagsüber nicht Meistens seien es aber junge Männer, die mehr wert, wenn man sonst nichts hat. dort aufhalten dürfen. als Gruppe Einzelpersonen angreifen, be- Der Streit kann schnell eskalieren. Wichtig sei außerdem, die Ursachen schreibt Neupert. Opfer und Täter*in kenLars sagt: „Das ist alles scheiße!” – von Wohnungslosigkeit zu bekämpfen: nen sich fast nie, die Gewalt sei „spontan das Leben auf der Straße sowieso, in vie- „In der Gesellschaft herrscht der Irrglauund überfallartig” – oft, glaubt er, sei die len Unterkünften sei es aber nicht besser. be, dass alle Wohnungslosen ganz allein Motivation purer Hass. „Man geht gegen Sicher vor Gewalt sei man nirgendwo. an ihrer Situation schuld sind“, erläutert eine unliebsame Person vor, um sie zu Dieses Gefühl mache krank. Neupert. Dabei gebe es systematische verdrängen oder um Frust abzulassen, Ursachen: Wenn persönliche Schicksalssich ein leichtes Opfer zu nehmen und DIE SUCHE NACH DEN VERANT- schläge mit steigenden Mieten zusamsich an ihm abzureagieren.“ Wohnungs- WORTLICHEN menkommen, ergebe das eine bittere lose passen aus Sicht der Täter*innen Mischung. Trotzdem mangele es an VerDabei ist die Lösung kein Geheim- ständnis für Wohnungslose. nicht ins Stadtbild. Also schlagen sie zu. Michael schläft nicht auf der Stra- nis: „Eine eigene Wohnung ist der beste Das sieht auch Lars: „Wenn einer Schutz“, erläutert der Experte Neupert. von uns angezündet wird, schauen alle ße, sondern in einer Notunterkunft. Alles gut sei dort aber auch nicht. Schließlich Die eigenen vier Wände bedeuten Sicher- mal kurz hin. Aber so schnell, wie die komme es auch zu Gewalt unter Woh- heit. „Man kann die Tür hinter sich zuzie- Aufmerksamkeit kommt, ist sie auch wienungslosen. Oft entstünden Konflikte, hen und weiß, hier kann mich niemand der weg.“ Wohnungslose sind jedoch jewenn sehr unterschiedliche Menschen angreifen.“ Auch die Vorsitzende des Aus- den Tag Gewalt ausgesetzt. Meistens wird auf engstem Raum zusammenleben, be- schusses für Bau, Wohnen, Stadtentwick- weggeschaut. schreibt Lars. Auch er hat schon Erfah- lung und Kommunen im Deutschen Bundestag, Mechthild Heil (CDU), sagt: „Alle *Name wurde auf Wunsch des Betroffenen rungen in Unterkünften gesammelt: „Die stecken mich, ´nen 50-jährigen Mann, Wohnungslosen, die das wollen, sollen von der Redaktion geändert auf ein Zimmer mit ´nem jungen Kiffer.” eine Wohnung bekommen.“ Die VerantWohnungslose haben keinen Rückzugs- wortung dafür liege bei den Kommunen, INFORM AT I ON der Bund wolle aber helfen, wo er kann. ort, keine Privatsphäre. Man könne nie richtig entspannen, schlafe immer mit Das zu sagen ist gut, aber es auch zu tun Als wohnungslos gilt, wer weder „einem Auge offen”. Das frustriert. Macht wäre umso besser. mietrechtlich abgesicherten Wohnraum Ein bundesweites Recht auf Wohreizbar. „Manchmal reicht ein schiefer noch Wohneigentum hat. nen hat der Bund bisher nicht umgesetzt Blick von jemandem, der einen gerade Wohnungslose schlafen in Notunterkünften oder kommen bei Bekannten – nur ein Recht auf Obdach. Alle unfreinervt, und man geht an die Decke.” unter. Obdachlose sind eine Teilgruppe Bei Gewalt unter Wohnungslosen willigen Obdachlosen müssen demnach Lima Fritsche der Wohnungslosen; sie schlafen auf handle es sich meistens um Bezie- in Notunterkünften untergebracht wer18, Hannover der Straße. hungstaten, erklärt Neupert. Solche Taten den können. Neupert sagt, dass die Rekommen in der gesamten Gesellschaft alität oft anders aussehe: „In manchen … ist schon vor Corona vor – bei Wohnungslosen werden sie aber Kommunen gibt es nicht einmal genug leidenschaftlich gerne DIE SICHEREN ORTE FEHLEN spazieren gegangen. von Konflikten ausgelöst, die nicht über- Unterkünfte. Und selbst wenn, heißt das „Die treten dir in den Schlafsack, rau- all auftreten: „Wenn Menschen in einer nicht, dass dort auch menschenwürdige ben dich aus oder bedrohen dich mit prekären Situation leben, kämpfen sie um Zustände herrschen.“ Problematisch sei, dem Messer”, berichtet Michael. Die die knappen Ressourcen.” Ein paar Euro, dass es oft keine Einzelzimmer gebe und m liebsten würde ich mich mitten in die Stadt stellen und alles rausschreien.” Aber Michael* schweigt. Er möchte nicht erzählen, was genau ihm passiert ist. Gewalt sei auf der Straße alltäglich. Das kommt von einem mindestens 1,80 Meter großen, erwachsenen Mann. Die Gesellschaft hat ihn fallen gelassen. Allein 2019 verzeichnete das Bundeskriminalamt 582 Gewalttaten gegen Wohnungslose, 50 davon mit tödlichem Ausgang. Man könne jedoch von einer viel höheren Dunkelziffer ausgehen, erklärt Paul Neupert von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Die meisten Wohnungslosen zeigten Gewalttaten nicht an: „Die Polizei hat bei ihnen oft ein negatives Image.” Das liege daran, dass Wohnungslose regelmäßig von Polizist*innen verdrängt würden. Es gibt in den Städten kaum Orte, wo sie schlafen dürfen, erläutert Neupert.
AUF DER STRASSE SCHLÄFT MAN RAU
Foto: TheOtherKev / pixabay
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Nele Herford „Für immer auf dem Land.“
Antonia Höxter
»GIBT ES EINEN PLATZ, DEN DU
»WAS MAGST DU AN DEINEM WOHNORT?«
»WO WÜRDEST DU GERNE WOHNEN?«
UND WAS IST MIT DIR? – STADTKIND ODE „Grün so weit das Auge reicht, familiäre Atmosphäre, Heimatgefühl.“
Eclaire Bielefeld
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Lisa Wöllstadt „Eine große Bank auf einer kleinen Anhöhe von der aus man kilometerweit über Felder und Wildblumenwiesen und die Skyline schauen kann. Das einzige Manko sind die hässlichen grauen Windräder und das 08/15 Neubaugebiet. “
„Ich habe seit Corona eine Lieblings-Bank, die gleich mehrere wichtige Kriterien erfüllt: Sie ist in der Sonne, sie ist weit genug von der Autobahn entfernt, sie bietet einen schönen Ausblick und sie ist abgelegen. “
Mohammed Geisenheim „Eine Bank in den Weinbergen und ich mag diesen Ort, weil ich, wenn es mir mal nicht gut geht, dort hingehe, um nachzudenken. “
»WAS MAGST DU AN DEINEM WOHNORT?«
„Am liebsten würde ich am Meer wohnen. In Noord-Holland gibt es schöne Städte, die nicht weit vom Meer entfernt sind. Da ist man gleich viel entspannter.“
Yvonne Unna
»GIBT ES EINEN PLATZ, DEN DU BESONDERS MAGST?«
»GIBT ES EINEN PLATZ, DEN DU BESONDERS MAGST?«
Emma Gelsenkirchen
»GIBT ES EINEN PLATZ, DEN DU BESONDERS MAGST?«
»WÜRDEST DU GERNE WOANDERS WOHNEN?«
„Ich mag den Rudolf-Oetker-Park sehr gerne. Es ist dort immer schön ruhig. Vor allem an sonnigen Tagen kann man dort ein schönes Buch lesen, oder das Wetter genießen. Mir gefällt besonders die Anonymität, man kann hier spazieren und rumlaufen, ohne gewisse Blicke im Rücken zu spüren. Das hatte ich in meiner alten Heimat nicht.“
Eric Rheinhausen „Ich mag den Platz, den man auf dem Land hat, auch die Ruhe und Gemeinschaft! “
»WAS MAGST DU AN DEINEM WOHNORT?«
Bent Lemke
Leann Malente „Die Nähe zum Strand finde ich super. Das Meer scheint so unendlich weit und die unzähligen Muscheln und Steine sind auch ein Grund, warum ich den Strand so gerne besuche. Es ist einfach ein schöner Ort, um Zeit zu verbringen. “
Sophie-Marie Boizenburg/Elbe „Ich mag den Stadtpark, der an einer Stelle einen Aussichtspunkt hat, von dem aus man die Boizenburger Innenstadt und das Elbtal sehen kann. Wenige Gehminuten entfernt liegt die Altstadt mit jahrhundertealten Häusern, und der besten Eisdiele des Ortes, in direkter Nachbarschaft zur historischen Kirche “
Lima Hannover „Hannover ist eine relativ grüne Stadt, das ist während Corona echt gut. “
»WO WÜRDEST DU GERNE WOHNEN?«
»WAS MAGST DU AN DEINEM WOHNORT?«
„Besonders mag ich den nächstgelegenen Wald, da man dort gut seine Ruhe haben kann und den Basketballplatz, der nur eine Minute entfernt ist und auf dem man mit Freund*innen oder auch mal alleine Basketball spielen kann. “
»GIBT ES EINEN PLATZ, DEN DU BESONDERS MAGST?«
Annika Berlin „In London in der Stadt.“
Gideon Sangerhausen „Die Leute hier sind nett und die Landschaft eignet sich gut zum Laufen, Wandern oder Radfahren und es gibt viele Seen. Auf dem Butterberg, etwas außerhalb von Sangerhausen, hat man einen tollen Blick über die Stadt. Das Einzige was das noch übertrifft ist die Sangerhäuser Altstadt kurz vor Weihnachten, wenn der erste Schnee fällt.“
Anna Traunstein „Mein Liebelingsplatz ist ein geheimer Ort am Chiemsee, weil man dort den Alltag an sich vorbeiziehen lassen kann und mit einem Picknik den Tag geniessen kann.“
»WAS MAGST DU AN DEINEM WOHNORT?«
BESONDERS MAGST?«
ER LANDEI
Luisa Ansbach „In meinem Dorf die Gemeinschaft & meine Freund*innen, in Ansbach die Möglichkeit in kurzer Zeit alles zu Fuß zu erreichen, alleine zu wohnen & schnell in Erlangen/ Nürnberg zu sein “
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WENN DER EIGENE SCHULWEG ZUR WELTREISE WIRD
WÄHREND SCHÜLER*INNEN AUF DEM LAND HÄUFIG AUF ZÜGE ODER BUSSE WARTEN, KOMMT DER SCHULBUS IN BERLIN ALLE FÜNF MINUTEN. ÜBER DIE UNZUFRIEDENHEIT JUNGER MENSCHEN BERICHTET ANTONIA JOHLEN.
W
enn es um Mobilität geht, fühlen sich Jugendliche auf dem Land oft benachteiligt. Das bestätigt unter anderem eine Befragung aus dem Herbst 2020. Die ostwestfälische Kleinstadt Höxter hat gemeinsam mit zwei Beratungsunternehmen Höxter*innen nach ihrer Zufriedenheit mit dem örtlichen Öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) gefragt. 40 Prozent der Befragten waren unzufrieden mit dem ÖPNV, mehr als die Hälfte nutzte diesen überhaupt nicht.
„ELTERNTAXI“ BLEIBT OFT DIE EINZIGE LÖSUNG Davon betroffen sind vor allem Schüler*innen – wie die 16-jährige Hanna Mertens: „Bei mir im Dorf kann man sich nur mit dem Bus fortbewegen. Den nutze ich in meiner Freizeit aber nicht, weil die Verbindungen schlecht sind und ich damit dreimal so lang unterwegs wäre wie mit dem Auto.“ Oft kommt es vor, dass ein Schulweg 40 Minuten dauert. Hinzu kommen Faktoren wie Zug- und Busausfälle, die zusätzlich Zeit beanspruchen. „Letztens gab es mal wieder technische Probleme, wir standen 15 Minuten mitten auf der Strecke. Da kommt man eben auch oft zu spät zur Schule“, erzählt Emily Fleischhauer. Sie stört, dass die Verkehrsmittel nur einmal pro Stunde kommen – und dann oft unpünktlich. „Deshalb würde ich mich hier auch nicht als mobil bezeichnen“, so die Abiturientin aus Höxter.
WARTEN AUF DEN ZUG – AUF DEM LAND KANN DAS AUCH MAL LÄNGER DAUERN
Foto: Christopher Folz
Ganz anders geht es der Abiturientin An- „Dass wir auf dem Land niemals S- und Unika Schwarze aus Berlin: „Ich fahre mit Bahn haben werden, ist klar.“ sagt Matthider Straßenbahn zur Schule, das dauert as Gastel, Bundestagsabgeordneter von acht Minuten. Die Taktung ist gut. Man Bündnis 90/Die Grünen im Ausschuss für ist flexibel und daher kommst du immer Verkehr und digitale Infrastruktur. Darum in der Zeit, in der du es geplant hast, dort müsse man Lösungen schaffen, die dem an, wo du ankommen möchtest“. An die- ländlichen Raum gerecht werden – wie sem Punkt stellt sich vielen die Frage: Wa- Rufbusse und -taxis sowie Apps für den On-Demand-Verkehr. In vielen Gegenden rum unterscheiden sich die Schulwege in haben sich diese Methoden bereits beDeutschland so stark voneinander? währt und gelten schon jetzt als erste Schritte hin zu Mobilität auf dem Land ZUKUNFTSANSÄTZE DER – auch für Schüler*innen.
Antonia Johlen 17, Höxter ... wohnt auf dem Land und handelt ganz nach dem Motto: „Live rural, think urban!“
POLITIK
IN ZEITEN WIE DIESEN
STÄDTE PLATZEN AUS ALLEN NÄHTEN, MIETPREISE EXPLODIEREN. ÜBER DIESE ALTBEKANNTEN HERAUSFORDERUNGEN HAT LISA BINDER MIT IHRER GROSSMUTTER GESPROCHEN.
A
ls Helga 1960 mit meinem Opa ihr Dorf im Hunsrück verließ, um nach Frankfurt am Main zu ziehen, war die Situation wie heute: Überall wurde gebaut und in Frankfurt die ersten Wolkenkratzer hochgezogen. Meinen Großvater trieb es als Ersten in die Stadt – des Geldes wegen. Er lebte zunächst auf einer Domäne, einer Art von Gutshof, um seine Ausbildung zu finanzieren. Später arbeitete er für das Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung. Meine Großmutter spinnt die Geschichte weiter: „Nach unserer Hochzeit sind wir in die Stadt gezogen. Ich erinnere mich noch gut.“ Ich weiß, was jetzt kommt. Es ist einer der Momente, von denen sie mir oft erzählt. „In unserem Dorf waren viele Amerikaner stationiert und so freundeten wir uns mit ihnen an. Sie haben uns auch mit nach Frankfurt genommen. Die Leute haben nicht schlecht geschaut, als das Auto
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DIE FRANKFURTER HAUPTWACHE 1960 UND HEUTE
Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt und nicwood auf pixabay
in unsere kleine Einfahrt bog. In einem knallroten Chevrolet mit hochgezogenen Flügeln hinten sind wir Richtung Stadt gerauscht.“
KEINE HEIRAT, KEIN RECHT AUF WOHNUNG Meine Großeltern waren nicht die Einzigen, die damals einen Neuanfang in Frankfurt wagten. Laut der Stadtverwaltung siedelten 1959 ganze 46.876 Menschen nach Frankfurt um, von 2018 bis 2019 waren es 10.324. Somit flachte der Strom zwar ab, der Trend bleibt dennoch bestehen. Dieses Phänomen des wieder erstarkenden Zuwachses der vergangenen Jahre in den Städten zeichnet sich nicht nur in Frankfurt ab. Olaf Cunitz, der Leiter im Bereich Bauland und Projektentwicklung bei dem bundesweiten Städteentwickler DSK, kann das belegen: Insgesamt ist die Zahl der Menschen, die in Großstädten leben, von ca. 23 Millionen in den 60ern auf 26 Millionen bis 2016 gestiegen. Und das, obwohl der Neustart in Frankfurt damals mindestens genauso schwer war wie heute: „Wenn man nicht verheiratet war, hatte man kein Recht auf eine Wohnung. Deswegen haben wir im April 1962 standesamtlich geheiratet und uns sofort in Frankfurt wohnungssuchend gemeldet.“ Als mir meine Großmutter das erzählt, bin ich sprachlos. Die Kriterien heutzutage haben sich gewandelt, die ausgrenzende Dynamik bleibt: Wer aktuell in Frankfurt eine Wohnung sucht, sollte mindestens ein üppiges Konto vorweisen. Die bezahlbaren Wohnungen werden immer knapper. Dem Zentralen Immobilien Ausschuss (ZIA) zufolge, der als Interessensvertretung der globalen Immobilienwirtschaft dient, standen 2019 in Frankfurt nur 0,5 Prozent aller Wohnungen leer – und das bei immer weiter steigenden Quadratmeterpreisen. Mit 15,50 Euro pro Quadratmeter erklomm die Stadt am Main im Jahr 2020 damit den zweiten Platz unter den teuersten Mietpreisstädten in Deutschland.
VON IMPROVISIERTEN KÜCHEN ZU WOLKENKRATZERN UND DER NORDWESTSTADT
Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt und Markus Spiske auf unsplash
DEMONSTRATION 1960 UND HEUTE
„Wir wohnten anfangs zur Untermiete bei einem Witwer. Richtig schön.“ Helga lacht kurz. „Das war mit gemeinsamer Küchenbenutzung. Und die Küche war so, wie es bei einem alten Herren eben ist. Wir wollten so gerne Kuchen backen, wie wir das eben vom Land gewohnt waren. Dann rollten wir eine Zeitung, damit die Ofentür zu blieb, da sie aus den Angeln war. Bis der Kuchen gar war, war die Zeitungsrolle verkohlt.“, erinnert sie sich. In Bezug auf die Wohnungsfrage sagt sie: „Lauter Sachen hat man einfach gemacht. Einerseits sehr primitiv: Damals wurde viel neu gebaut, aber nichts renoviert. Gerade die alten Gebäude waren lange im Rückstand.“ 1960 veränderte sich Frankfurt dann stärker als andere Ballungszentren. Im Gegensatz zu etlichen Großstädten, die ihre Altstädte wiederaufbauten, setzte die dortige Politik auf neue, moderne Hochhäuser. Als „Antwort auf die grassierende Wohnraumnot“ entstand der weiterhin bekannte Stadtteil Nordweststadt, erklärt der Stadthistoriker Markus Häfner. „Der ist kein Frankfurter Unikat, sondern eine Lösung, die man in vielen Großstädten wählte – darunter auch Köln und München. Die Idee dahinter war es immer, eine Mischform aus Hochhäusern mit vie-
len Wohnungen, aus Blöcken mit mehreren Mietwohnungen und vielen Einfamilienhäusern zu bauen“, sagt er. Doch schafften diese Viertel tatsächlich Abhilfe? In den nächsten zehn Jahren wird in Frankfurt ein Defizit von bis zu 90.000 Wohnungen erwartet. 2017 entschied die Stadtverwaltung daher, die Nordweststadt baulich zu erweitern. Dabei wählte sie jedoch eine Vorgehensweise, die wie in den 1960er-Jahren einen Fokus auf das Grüne in der Stadt setzt. Nun soll es richtig gemacht werden: Circa 30.000 neue Quartiere sollen dort entstehen – sofern sich das Stadtgremium einverstanden zeigt.
WIE DIE U-BAHN GENERATIONEN VERBINDET Mit der Stadt wuchs auch der Autoverkehr; so schnell, dass man die Stadtteile verbinden musste – auch zum Schutz von Fußgänger*innen und Radfahrer*innen. Die erste U-Bahn Strecke wurde errichtet. „Das U-Bahn Projekt ist wohl eines der bedeutendsten Infrastrukturprojekte im Frankfurt des 20. Jahrhunderts“, erklärt Häfner. Die berühmte A1-Linie mit ihren knallig roten Wagen verband die Station Hauptwache mit der Nordweststadt und
ging fließend in das Straßenbahnnetz über. Meine Großmutter erinnert sich noch gut an die bis zu 15 Meter tiefen Gräben in der Innenstadt, an denen mein anderer Großvater zu jener Zeit arbeitete: „Wir sind damit später jeden Tag in die Stadt gefahren. Zur Eröffnung kam meine Mutter extra nach Frankfurt. Das war schon ein richtig großes Ereignis. >Die große U-Bahnstrecke in Frankfurt<, hieß es immer.“ Während meine Großmutter die Strecke beschreibt, muss ich daran denken, dass meine ganze Familie sie in- und auswendig kennt und an ihr mitgebaut hat – angefangen bei den blaugrünen Kacheln bis hin zur Hauptwache, die einen mitten auf der Einkaufsmeile „Der Zeil” ausspuckt. Wo sich damals eine Strecke entwickelte, verbinden sich heute mehrere U-Bahn-, Straßenbahn- und S-Bahn Linien in einem komplizierten Netzwerk. Täglich steigen im gesamten Rhein-MainGebiet laut des dortigen Verkehrsverbundes RMV 2,5 Millionen Passagiere zu. Die Frankfurter Neue Presse zählt bis zu 350.000 Menschen, die regelmäßig in die Stadt pendeln. Derzeit plant die Deutsche Bahn den Ausbau einiger damals entstandener Strecken. Genauso wie die Bahnnetze verbindet sich so auch die Vergangenheit mit der Gegenwart.
Lisa Binder 19, Wöllstadt … findet, dass früher nicht alles besser war und wir in Zukunft dafür sorgen müssen, dass das auch so bleibt. VERKEHR 1960 UND HEUTE
Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt und Christopher Folz
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GUTER JOB, SCHLECHTE KARTEN
HOHE MIETEN UND KONKURRENZKAMPF. DAS ZEICHNET DEN WOHNUNGSMARKT IN DEUTSCHLAND AUS. DIE WOHNUNGSSUCHE IST EINE HERKULESAUFGABE. OB SICH DIESE UNABHÄNGIG VOM AUSSEHEN ODER DER HERKUNFT BEWÄLTIGEN LÄSST, BERICHTET ECLAIRE LUZOLO LUANZAMBI.
D
er deutsche Wohnungsmarkt ist brutal – wie in einem Haifischbecken reißen sich Mieter*innen um verfügbaren Wohnraum. „Hauptsache irgendwo leben“ lautet die Devise. Eine Befragung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes fand heraus, dass sich 40 Prozent der über 1.000 befragten Vermieter*innen unwohl dabei fühlen, ihre Wohnung an eine migrantisierte Person zu vermieten. Personen die nicht-weiß sind, werden in dem ohnehin umkämpften Markt zusätzlich diskriminiert.
»MEINE SCHWESTER, ALLEINERZIEHENDE MIT 4 KINDERN IN EINER 2 ZIMMERWOHNUNG....UND KEINER AUSSICHT AUF ETWAS ANDERES.....GEFÜHLT HABEN WIR 100 GESPRÄCHE MIT POTENZIELLEN VERMIETERN GEFÜHRT ABER KEINE CHANCE....ICH ALS STUDENT HABE MEHR CHANCEN ALS MEINE SCHWESTER MIT FESTEM EINKOMMEN...« – GRACE
WOHNUNGSSUCHE: FÜR WEISSE PERSONEN DEPRIMIEREND, FÜR MIGRANTISIERTE BÜRGER*INNEN NIEDERSCHMETTERND
MISCHA R
JESSICA M
Grafik: Eclaire Luzolo Luanzambi
Die 24-jährige Nürnbergerin Jessica M. verbrachte mehr als ein Jahr damit, eine Wohnung zu finden: „Wir hatten bei unserer Wohnungssuche viel Kontakt mit Vermieter*innen und Makler*innen. Dazu muss man wissen, dass ich eine Roma bin und mein Freund Halbsizilianer. Von Vermieter*innen bekamen wir immer dieselben Fragen: Woher kommt ihr wirklich? Könnt ihr die Wohnung überhaupt bezahlen? Damals hatte ich drei Jobs und mein Freund hat gearbeitet. Die Bezahlung der Wohnung stand also eigentlich nicht zur Debatte“, betont sie. „Einige Makler*innen, mit denen wir in Kontakt standen, erklärten uns auch, dass sie gar keine Anfragen von Personen mit Migrationshintergrund annehmen durften“, sagt die 24-Jährige. Jede weitere Wohnungsbesichtigung sei für die Studentin eine Talfahrt der Gefühle gewesen. Ab und zu dachte sie darüber nach, rechtliche Schritte einzuleiten. Aber dort zu wohnen, wo sie nicht erwünscht ist, wollte sie auch nicht. Sich Tag für Tag gegen Anfeindungen wehren zu müssen, sei ermüdend. Da bliebe der Atem bei der Wohnungssuche meistens aus.
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Grafik: Eclaire Luzolo Luanzambi
DARYA M
Grafik: Eclaire Luzolo Luanzambi
Mischa R. teilt ähnliche Erfahrungen: Ähnliches schildert die 28-jährige Darya, „Ich habe das Glück, dass mein jetziger die zurzeit in Berlin wohnt: „Mein UmVermieter Türke ist. Sonst wäre ich ver- zug von Mainz nach Frankfurt am Main mutlich nicht so leicht an die Wohnung hat bei mir tiefe Wunden hinterlassen. Ich gekommen. Meine Anfangszeit in Ham- kannte bereits einige Leute aus Frankfurt burg war unglaublich schwer.“ Der Mo- und hatte dort auch relativ schnell eine delagent zog für sein Wirtschaftspsycho- WG gefunden. Mit meiner Mitbewohnelogiestudium nach Hamburg. Von über rin hatte ich mich auf Anhieb verstanden 20 Wohnungsbewerbungen erhielt er nur und ich hatte mich auch so sehr gefreut fünf Antworten – alle für Wohnungen in einzuziehen.” Nach kurzer Zeit teilte Brennpunkten. „Da wollte ich nur ungern diese ihr aber mit, dass die Hausverwalhin, aber ich hatte keine andere Wahl”, tung Bedenken bei ihrem bevorstehenden sagt der 29-Jährige. Ähnliche Erfah- Einzug hätte. Sie würden sich nur deutrungen machte Mischa R. auch nach sei- sche Namen auf der Klingel wünschen. nem Studium: Nachdem er einen sehr gut „Es hieß, dass sie keine Leute mit langer bezahlten Job antrat, wollte er sich eine Kleidung oder einem Kopftuch wollten. bessere Wohnung suchen. So bewarb er Dabei trage ich nicht mal Kopftuch. Das sich auch in den „besseren” Stadtteilen war wie ein Schock für mich”, sagt die – und bekam meistens nicht einmal eine 28-Jährige. Sie hatte das WG-Zimmer in Rückmeldung. „Eine Maklerin verlangte Mainz schon gekündigt, weil sie sich siEinsicht in mein Konto. Das machte mich cher gewesen sei, dass in Frankfurt alles etwas stutzig, da ich schon mein monatli- klappen würde. Daher überlegte sie sogar, ches Gehalt angegeben hatte. Also bat ich rechtliche Schritte einzuleiten – und sah eine deutsche Freundin darum, sich für dann doch davon ab. „Heute würde ich die Wohnung zu bewerben. Ich war nicht das anders machen“, sagt sie. besonders verwundert, als die Maklerin sie nicht um eine Kontoeinsicht bat. Mir AUS DEN AUGEN, AUS DEM wurde klar, dass es hier um mich ging. SINN Es wurde gezweifelt, ob ich fähig sei, die Wohnung zu bezahlen. Die Leute haben Darya, Mischa und Jessica zeigen, dass anscheinend ein größeres Problem damit, der umkämpfte Wohnungsmarkt von wenn du als Person mit Migrationshinter- Rassismus und Vorurteilen geprägt ist. Jede Wohnungsbesichtigung birgt die Gegrund gut verdienst und gebildet bist.“
fahr, retraumatisiert zu werden. Immer wieder kreist dieselbe Frage durch den Kopf: „Wozu jahrelang studieren, wenn ich doch nur wieder auf meine Herkunft reduziert werde?“ Viele gut gebildete People of Color werden in Problemviertel abgeschoben. Nach dem Motto: „Aus den Augen, aus dem Sinn“ werden Probleme der Diskriminierung damit nicht gelöst, sondern verdrängt und verschärft. Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft. Um ein gemeinsames Miteinander zu ermöglichen, ist ein kultureller Austausch notwendig. Dafür müssen nicht-weiße Bürger*innen ebenfalls die Möglichkeit haben, außerhalb von Problemvierteln zu wohnen. Eva Andrades, Geschäftsführerin des Antidiskriminierungsverband Deutschland, ist überzeugt: „Die Bundesregierung muss handeln und darf nicht weiter zuschauen, wie das rechtliche Diskriminierungsverbot in den meisten Fällen wirkungslos bleibt. Es ist inakzeptabel, dass Betroffene allein gelassen werden und nur mit großem Kraft-, Zeit- und Kostenaufwand ihr demokratisches Recht auf Gleichbehandlung durchsetzen können.“ Der Verband fordert eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Vor allem sei ein Klagerecht für Verbände nötig, um Betroffene zu entlasten. Gefragt seien Konzepte für eine diskriminierungssensible Wohnungsvergabe und eine konsequente Bestrafung für rassistische Vorfälle. Nur so kann Wohnraumzugang, unabhängig von der Hautfarbe, dem Namen oder Aussehen, ermöglicht werden.
Eclaire Luzolo Luanzambi 19, Rheine … findet, dass bezahlbarer Wohnraum ein Grundrecht ist. Jede*r sollte die Möglichkeit haben, würdevoll zu wohnen.
WIE WAR DIE WOHNUNGSSUCHE FÜR EUCH, ALS PEOPLE OF COLOR? »ICH HATTE GAR NICHT AUF DEM SCHIRM, DASS DIE WOHNUNGSSUCHE SCHWER WERDEN KÖNNTE. ALS DIE ABSAGE FÜR EINE WOHNUNG KAM, HABEN WIR DIE GRÜNDE AUCH ERST WOANDERS GESUCHT. BIS WIR IRGENDWANN ECHT EINSEHEN MUSSTEN, UNSER NAME IST DAS EINZIGE, WAS EIN PROBLEM SEIN KÖNNTE.« – ANONYM
»MEIN FREUND UND ICH HATTEN TATSÄCHLICH PROBLEME BEI DER WOHNUNGSSUCHE. WIR SOLLTEN EINE WOHNUNG VON EINER ARBEITSKOLLEGIN MEINES FREUNDES ÜBERNEHMEN. DER VERMIETER WAR EINVERSTANDEN. ALS WIR UNSERE UNTERLAGEN EINGEREICHT HABEN WURDEN WIR ABGELEHNT.« – SELEN
»WOHNUNGSSUCHE IN EINER STADT WIE MÜNCHEN IN DER ICH SCHON MEIN GANZES LEBEN LANG LEBE, IST TRAUMATISIEREND. SELBST MEIN AKTUELLES MIETVERHÄLTNIS HAT MIT EINEM OBERHAMMER ANGEFANGEN.« – BRICE
FRUCHTFLEISCH WIE KANN RASSISMUS AUF DEM WOHNUNGSMARKT BEKÄMPFT WERDEN?
»ANONYMITÄT«
»REPRÄSENTATION«
Grafiken: Eclaire Luzolo Luanzambi
»UNTERSTÜTZUNG«
DARYA M., 28 JAHRE
JESSICA M., 24 JAHRE
MISCHA R., 29 JAHRE
ICH WÜNSCHE MIR UNTERSTÜTZUNG DURCH KOSTENLOSEN, RECHTLICHEN BEISTAND, GENAUSO WIE SEHR HOHE BUSSGELDER FÜR TÄTER, DIE ES ZWAR IN DER THEORIE SCHON GIBT, ABER SELTEN GEZAHLT WERDEN MÜSSEN. ALLERDINGS GREIFEN SOLCHE MASSNAHMEN JA ERST, WENN ES HANDFESTE BEWEISE FÜR RASSISMUS GIBT, WESHALB DAS WIRKUNGSVOLLSTE MITTEL MEINER MEINUNG NACH DER KAMPF GEGEN SYSTEMATISCHEN RASSISMUS IN ALLEN LEBENSLAGEN IST, DER VOR ALLEM EBEN AUCH VON NICHTBETROFFENEN GEKÄMPFT WERDEN MUSS. DANN HABEN WIR HOFFENTLICH GENAUSO GROSSE CHANCEN AUF WOHNRAUM, WIE JEDER JENS MÜLLER.
AUS MEINER SICHT SOLLTE ES EINE REGELUNG GEBEN, WONACH DAS BEWERBUNGSVERFAHREN OHNE ANGABEN VON NAMEN ODER ANDEREN KRITERIEN ERFOLGEN SOLLTE, AUS DENEN DISKRIMINIERUNG UND EIN AUSSCHLUSS RESULTIEREN KÖNNEN. UM DAS AUCH BEI EINER BESICHTIGUNG SICHERZUSTELLEN, KÖNNTE MAN GESETZLICH FESTLEGEN, DASS DIESE NUR MIT EINEM MAKLER STATTFINDEN DÜRFEN, DIE BESTENFALLS UNABHÄNGIG SIND UND SICH NUR AUF DIE FÜR DIE VERMIETUNG RELEVANTEN FAKTEN BEZIEHEN. NIEMAND SOLLTE AUFGRUND DES NAMENS, DES AUSSEHENS ODER ANDEREN MERKMALEN VON DEM BEWERBUNGSVERFAHREN FÜR EINE WOHNUNG ODER EIN HAUS AUSGESCHLOSSEN WERDEN.
ES MÜSSTE IN JEDEM WOHNVERBAND MINDESTENS EINE PERSON OF COLOR GEBEN, DIE SICH DAMIT BEFASST, ANTIRASSISTISCHE DINGE DURCHZUSETZEN. ES WÄRE AUCH GUT, WENN JEDER WOHNODER IMMOBILIENVERBAND FORTBILDUNGEN ZUM THEMA RASSISMUS UND DISKRIMINIERUNG ORGANISIERT, DAMIT DIE MENSCHEN SENSIBILISIERT WERDEN.
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Z UR PERS ON M AN FRED TODTENHA USEN Manfred Todtenhausen ist Bundestagsabgeordneter aus Wuppertal in der FDP-Fraktion. Seine thematischen Schwerpunkte sind das Handwerk und der Mittelstand.
Foto: Büro Manfred Todtenhausen
ZU R P E R S ON H E L G E L I ND H Helge Lindh ist Bundestagsabgeordneter für Wuppertal in der SPD-Fraktion. Er befasst sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Integration.
Foto: Helge Lindh
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»JEDER BÜRGER SOLLTE FÜR SICH SELBST ENTSCHEIDEN WIE UND WANN ER FÄHRT« DAS AUTO ALS BRÜCKE ZWISCHEN STADT UND LAND – UNAUSWEICHLICH ODER UNVERTRETBAR?
IMMER WIEDER KOMMEN FORDERUNGEN AUS POLITIK UND WISSENSCHAFT, DIE VERKEHRSWENDE RASCH UMZUSETZEN: EIN ERSATZ FÜR DAS AUTO SEI GESUCHT. WIE SICH DIESER WANDEL AUF DAS STADT-LANDVERHÄLTNIS AUSWIRKEN SOLL, ERLÄUTERN DIE BUNDESTAGSABGEORDNETEN MANFRED TODTENHAUSEN (FDP) UND HELGE LINDH (SPD) IM INTERVIEW MIT NICOLAS MYSLIWIETZ.
MdB Manfred Todtenhausen, FDP
MdB Helge Lindh, SPD
DIE ZUKUNFT DES AUTOS IST AKTUELL VON BESONDERER BEDEUTUNG, DA ES IMMER MEHR BEWEGUNGEN GIBT, DIE WEG VOM AUTO UND HIN ZUM ÖPNV WOLLEN. GIBT ES EINE MÖGLICHKEIT, DIE PERIPHERIEN VON STÄDTEN SINNVOLL MIT DEM STADTINNEREN ZU VERBINDEN?
DAS AUTO HAT IMMER NOCH EINE ENORME BEDEUTUNG FÜR UNSERE GESELLSCHAFT. IN LETZTER ZEIT GIBT ES IMMER MEHR BESTREBUNGEN, DIESE HEGEMONIE DES AUTOS UMZUKEHREN. WELCHE BEDEUTUNG IN BEZUG AUF DAS STADT-LAND-VERHÄLTNIS WOLLEN SIE DEM AUTO ZUSCHREIBEN?
Schwierig, absolut schwierig – man könnte ja mit dem Bus fahren, aber ich bin Realpolitiker. Denn da weiß jeder sofort, wenn man in der Peripherie wohnt, hat man ganz schwierig Anbindungen. Man ist auf bestimmte Zeiten angewiesen und ist nicht flexibel. Ich bin der Auffassung, jeder Bürger sollte für sich selbst entscheiden, wie und wann er fährt. Alleine, wenn man Einkaufen geht: Da gibt es keine Einkaufszentren und wenn Sie dann mit der großen Tüte aus dem Supermarkt kommen, wollen Sie die dann per Bus transportieren?
Man muss diese Fragestellung auf mehreren Ebenen betrachten: Erstens aus Gründen des Klimaschutzes – im Übrigen auch nicht als Übertragung ins Wasserstoff- und EMobilität-Zeitalter, also kein bloßes Ersetzen des Verbrennungsmotor durch Wasserstoff- bzw. Elektromotoren. Und das ist der zweite Punkt: Die Nutzungsgewohnheiten ändern sich – nicht nur durch Klimawandel, sondern auch durch gesellschaftlichen Wandel und durch jüngere Generationen. Das heißt, die Vorstellung, dass das Auto ein Statussymbol ist, wandelt sich zu viel mehr Offenheit, öffentlichen Nahverkehr zu nutzen oder Auto-Sharing. Die dritte Dimension ist eine soziale und da wäre es geboten, nicht rein moralisch zu argumentieren, weil Leute, die pendeln müssen oder im ländlichen Raum leben, auf das Auto stärker angewiesen sind. Wenn diejenigen darauf angewiesen sind, können wir nicht einfach diktieren, wie die Menschen sich fortbewegen sollen.
BETRIFFT DAS AUCH JUNGE MENSCHEN? Ja, junge Leute, was sollen die machen? Wann fährt der letzte Bus? „Leute, Tschüss, ich wünsche euch was – Fete zu Ende – ich muss den letzten Bus kriegen.“ Das ist ein Problem für junge Leute.
NUN GIBT ES VORSCHLÄGE, DIE DEM UMWELTSCHUTZ EINE STÄRKERE BEDEUTUNG IM VERKEHR ZUKOMMEN LASSEN WOLLEN. ZUM BEISPIEL DIE MITTLERWEILE SCHON GEKIPPTE DÜSSELDORFER UMWELTSPUR, AUF DER NUR BUSSE, TAXIS, FAHRRÄDER, ELEKTROFAHRZEUGE UND FAHRGEMEINSCHAFTEN UNTERWEGS SEIN DÜRFTEN. WIE STEHEN SIE ZU DIESEN ENTWICKLUNGEN – UND WARUM? Eine Umweltspur macht aus meiner Sicht überhaupt keinen Sinn. Ich freue mich, wenn es eine Fahrradspur gibt. Dann kann jeder Fahrradfahrer schnell fahren und ist vom normalen Verkehr abgetrennt. Da bin ich sofort dabei. Aber eine Umweltspur, wo eine bestimmte Personengruppe vorrangig fährt, das halte ich für den falschen Weg. Parallel dazu bildet sich, das hat man in Düsseldorf gesehen, ein gigantischer Stau. Also alle, die mit drei oder vier Personen fahren, dürfen schnell fahren, die anderen allerdings stehen im Stau. Mir ist wichtig, dass der Verkehr insgesamt fließt.
ES GIBT VORSCHLÄGE, DIE DEM UMWELTSCHUTZ EINE STÄRKERE BEDEUTUNG IM VERKEHR ZUKOMMEN LASSEN WOLLEN. ZUM BEISPIEL DIE MITTLERWEILE SCHON GEKIPPTE DÜSSELDORFER UMWELTSPUR, AUF DER NUR BUSSE, TAXIS, FAHRRÄDER, ELEKTROFAHRZEUGE UND FAHRGEMEINSCHAFTEN UNTERWEGS SEIN DÜRFEN. WIE STEHEN SIE ZU SOLCHEN VORSCHLÄGEN, DIE AUCH EINE BELASTUNG FÜR DIE PENDLER*INNEN SIND? Ich bin kein grundsätzlicher Gegner von Umweltspuren oder von reinen Bus-Rad-Spuren. Diese müssen aber auch auf die Situation angepasst sein. Wenn der Effekt Riesenstaus sind und Pendler genervt und gestresst sind, schafft man sich keine Komplizen beim Wandel. Dann wäre ich dafür, größere Akzente im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs oder beim Wandel durch bessere Sharing-Konzepte zu setzen. Nicht Erzwingung des Wandels durch Umweltspuren, sondern Stärkung der anderen Instrumente.
Nicolas Mysliwietz 17, Wuppertal ... (noch) Schüler, politikinteressiert, Schwimmer und nebenbei hauptsächlich mit der Musik Richard Wagners beschäftigt.
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ENGLISCH, EINTOPF UND EINBÜRGERUNG
ZU BESUCH IN EINEM MEHRGENERATIONENHAUS, BEI DEM ES SICH NICHT – WIE HÄUFIG VERMUTET – UM EIN WOHNPROJEKT HANDELT UND WAS URSULA VON DER LEYEN DAMIT ZU TUN HAT. EINE REPORTAGE VON BENT HOLZMANN.
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er Raum, in dem Ute Müller sitzt, versprüht einen Charme, den die meisten noch aus Kindergarten- oder Schulzeiten kennen sollten. Die Regale sind gut gefüllt mit Büchern und zahlreichen Spielen. Es hängen selbstgemachte Plakate an den Wänden – nur eine Tafel, auf die die Lehrkraft den Inhalt des klassischen Frontalunterrichts mit staubender Kreide kritzelt, fehlt. Denn das Haus der Generationen in Stolzenau in Niedersachsen ist keine Schule, sondern ein weitaus vielfältigerer Ort – und das seit 18 Jahren. Im beschriebenen Raum findet normalerweise eine Hausaufgabenbetreuung in kleinen Gruppen statt, nebenan könnten Yoga-Kurse angeboten werden. Im größten Raum ist neben zwei Arbeitsplätzen, vollen Bücherregalen und Sitzplätzen die offene Küche das Herzstück. Kurzum: ein Begegnungsort, der nun in Pandemie-Zeiten etwas verlassen daherkommt. Einzelberatungstermine im Haus und Videokonferenzen, die gerade bei den Kindern aber erstaunlich gut funktionieren, haben den offenen Treff und die Gemeinschaftsaktivitäten vorübergehend abgelöst, schildert Ute Müller im Frühling 2021. Die Stolzenauerin leitet die Einrichtung seit 2007, mittlerweile sind hier rund 30 Ehrenamtliche tätig. Träger des Hauses ist ein gleichnamiger, gemeinnütziger Verein, der sich aus Spenden und Beiträgen finanziert.
„WIR SIND DER ANSPRECHPARTNER FÜR DIE GEMEINDE“ Die Geschichte des Hauses ist eng mit kultureller Vielfalt und Integrationsarbeit verbunden, denn gegründet wurde es als Ort des Austausches von Menschen mit unterschiedlichsten Herkunftsgeschichten. Bis heute wenden sich zahlreiche Menschen aus dem gesamten Landkreis und darüber hinaus mit verschiedensten Anliegen an das Team. So werden Vorbereitungskurse für den Einbürgerungstest und Deutschkurse angeboten sowie Hilfestellungen beim Ausfüllen von Formularen und Anträgen gegeben. „Wir sind der Ansprechpartner für die Gemeinde und nicht andersherum“, berichtet Müller und macht damit deutlich, wie verankert ihr Haus mittlerweile in der Region ist – und wie das Engagement auch von offiziellen Stellen bewertet wird.
UTE MÜLLER – LEITERIN DES MEHR GENERATIONEN HAUSES IN IHREM BÜRO
Wie die von der einstigen Landeswie Bundesfamilienministerin, Ursula von der Leyen, initiierte Förderung solcher Einrichtungen organisiert ist, wird im Infokasten näher erläutert. Doch welche Aufgaben hat ein Mehrgenerationenhaus überhaupt? In der vom Bundesministerium erarbeiteten Förderrichtlinie zu Mehrgenerationenhäusern werden vier sogenannte Querschnittsaufgaben definiert, die den Kern der Arbeit der deutschlandweit rund 550 Häuser beschreiben: generationenübergreifende Arbeit, Teilhabe, freiwilliges Engagement und Sozialraumorientierung. Der letzte Punkt klingt sperrig und ist es auch ein wenig. Grob zusammengefasst sollen Angebote auf die Region angepasst und bisherige Formate miteinbezogen werden. So werden in Stolzenau beispielsweise, neben der Lernförderung für die Jüngsten, zusammen mit der Volkshochschule Kurse für Ältere angeboten, bei denen der Umgang mit Computer und Smartphone vermittelt wird. Einmal die Woche gibt es ein gemeinsames Eintopf-Kochen. Daneben sorgen Spieleabende oder Diskussionsrunden für soziale Teilhabe. Auch freiwilliges Engagement wird durch das Haus ermöglicht, unterstützt und gestärkt.
BUNTER ORT DER BEGEGNUNG Eine der Freiwilligen ist Ursula Maria Volans, die erst seit 2018 in Stolzenau lebt und bei der Suche nach sozialem Engagement auf die Einrichtung gestoßen ist. Heute erzählt sie begeistert von ihrer Arbeit mit den Kindern in der Hausaufgabenbetreuung. Um die 20 Stunden wöchentlich leistet Volans mit den Sechs- bis 17-Jährigen und trotz des momentan digitalen Formats berichtet sie: „Die Kinder freuen sich enorm auf die Stunden und auch mir macht die Arbeit so viel Spaß!“ Gerade hinsichtlich der gesellschaftlichen Herausforderungen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten im Rahmen des demografischen Wandels sind Mehrgenerationenhäuser ein wichtiger Baustein, Lebensbedingungen zu verbessern und Strukturen in eher ländlichen Regionen sowie einen Ort zum Austausch und der Begegnung zu schaffen. Die Bundestagsabgeordnete Marja-Liisa Völlers (SPD) betont hierzu: „In ländlicheren Regionen leisten neben solchen Einrichtungen meist nur Vereine diese wichtigen Aufgaben.“ Immerhin acht Jahre läuft das derzeitige Förderprogramm noch, für das allerdings noch jedes Jahr ein neuer Antrag
INF OR MAT I ON 2005 startete eine Förderung vom Land Niedersachsen, bei der auch kleinere Träger berücksichtigt wurden. Die damals verantwortliche Ministerin, Ursula von der Leyen, rückte noch im selben Jahr ins Bundesministerium für Familie, Soziales, Frauen und Jugend und nahm das Programm quasi mit. Sie machte es zu einem Bundesprogramm, bei dem es bis 2018 eine Pauschale von 40.000 Euro pro Einrichtung gab.
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Seit 2019 gibt es 10.000 Euro mehr. Diese entstehen allerdings über eine kommunale Kofinanzierung, das heißt der Gemeindeverbund und/oder Landkreis müssen sich an den Kosten beteiligen. Zusätzlich fördert das Land Niedersachsen eine Vollzeitstelle für die Migrationsberatung in Stolzenau, die ein Schwerpunkt der Einrichtung ist.
Foto: Bent Holzmann
nötig ist. Völlers und besonders Müller würden sich über eine Verstetigung der finanziellen Mittel freuen. Damit könnten die Einrichtungen langfristiger planen und gegebenenfalls würde die zeitaufwändige Verwaltungsarbeit ein wenig reduziert werden. Zu hoffen bleibt, dass das Stolzenauer Haus der Generationen recht bald wieder mit Leben gefüllt wird und zahlreiche Kinder in dem Raum spielen, lernen und lachen können, in dem Ute Müller gerade sitzt – und auch schon als Grundschülerin saß.
Bent Holzmann 19, Nienburg(Weser) … zieht es jetzt erstmal in die Stadt – kann sich eine Rückkehr aufs Land aber durchaus vorstellen.
BEZAHLBARER WOHNRAUM IN DER ZUKUNFT
IN DER STADT WOHNRAUM ZU FINDEN, WIRD IMMER SCHWERER – UND DIE GENTRIFIZIERUNG TRÄGT STARK DAZU BEI. WIE WIR ZUKÜNFTIG MIT DER HERAUSFORDERUNG ‚WOHNUNGSMARKT‘ UMGEHEN KÖNNEN, BERICHTET ERIC BASTIAN.
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as Angebot sinkt, die Mieten steigen – die Gentrifizierung ist für den städtischen Wohnungsmarkt eine große Belastung. Vor allem Menschen mit einem niedrigen Einkommen können in Teilen der Stadt keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden. Umso verständlicher ist es, dass Forderungen nach einem Ende der Verdrängung der althergebrachten Bevölkerung laut werden. Der Prozess als solcher ist aber nicht aufzuhalten. Zum einen bestärkt der Drang nach Modernisierung und Innovation ihn auf natürliche Weise. Zum anderen braucht es auch auf dem Wohnungsmarkt das Kapital von Investierenden, um teils ganze Stadtteile zu sanieren und instand zu halten. Der Staat und die Kommunen können dieser Aufgabe nur bedingt gerecht werden.
WIR BRAUCHEN INNOVATIVE KONZEPTE Bauland wird benötigt – und das dringender denn je. Hier sind die Kommunen in der Verantwortung. Es braucht neue und innovative Bebauungspläne, welche den verschiedenen Anforderungen des Wohnungsmarkts gerecht werden und gleichzeitig ökologisch und nachhaltig gestaltet sind. Ein stetig wachsender Verbrauch von Fläche ist heute nicht mehr sinnvoll. Solche innovativen Konzepte gibt es bereits – beispielsweise in Form von Wohnquartieren. Diese beinhalten
nicht nur Wohnungen, sondern oft auch Grünflächen, Einkaufsmöglichkeiten, Kitas oder Schulen. Das Konzept erweist sich vermehrt als nachhaltig und platzeffizient. Gerade deshalb wäre es erstrebenswert, dass Kommunen künftig vermehrt mit solchen Lösungen arbeiten. Neben der kommunalen Planung sollten Wohnungsbaugesellschaften in Zukunft eine größere Rolle spielen. Sie schaffen besonders für den Mittelstand bezahlbaren Wohnraum und bilden somit einen Gegenpol zu den stetig steigenden Mietpreisen. Damit Wohnraum trotz steigender Mietpreise bezahlbar bleibt und das Angebot erweitert werden kann, braucht es mehr staatliche Förderungen. Solche Genossenschaften sind besonders für den Mittelstand ein gutes Regulativ, um den Markt im Gleichgewicht zu halten. Aber auch auf die schwächsten Mitglieder am Wohnungsmarkt muss geachtet werden. Laut dem Deutschen Bundestag hat sich die Zahl der Sozialwohnungen in den letzten zehn Jahren fast halbiert – obwohl die Nachfrage zunimmt. Dieser Entwicklung könnte eine Sozialwohnungsquote entgegenwirken. Unternehmen müssten bei Wohnbauprojekten zu den normalen Wohnungen eine bestimmte Anzahl von Sozialwohnungen zur Verfügung stellen, denn „Unternehmen sind Teil der Gesellschaft und haben somit auch eine soziale Verantwortung“, so der Bauunternehmer Peter Unmüssig.
SOZIALWOHNUNGEN NEBEN EINEM GEBÄUDE MIT NEUEN EIGENTUMSWOHNUNGEN IN MAINZ
Verantwortung tragen aber nicht nur DIE AUFGABEN DER ZUKUNFT Unternehmen. Auch der Staat müsste Anreize schaffen – zum Beispiel durch Es braucht viele Konzepte, um den durch vergünstigtes Bauland oder eine finanzi- Gentrifizierung verstärkten Mangel an elle Förderung von Projekten. Unterneh- bezahlbarem Wohnraum auszugleichen: men müssen schließlich trotz einer vor- „Eine strikt ideologische Lösung kann geschriebenen Quote Gewinne erzielen. nicht zielführend sein. Wir brauchen Wenn das nicht der Fall ist, werden Ko- auch weiterhin eine bunte Struktur an sten auf die zukünftigen Bewohner*innen Einwohner*innen in unseren Städten“, umgelegt oder Projekte gar nicht erst sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Weiß. Der Wohnungsmarkt ist ein durchgeführt. Doch „gerade auch das junge Eigen- sehr diverser Markt mit unterschiedlichstum muss gefördert werden“, erklärt der ten Teilnehmenden. Die Aufgabe der Zukunft wird es sein, diesen Markt durch SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Fechner. Wer einmal Eigentum erworben diverse Konzepte in ein Gleichgewicht hat, kommt so schnell nicht mehr auf zu bringen, das die Bedürfnisse aller beden Mietmarkt zurück. Ansätze hierfür friedigt. Der Staat muss hier mit seinen könnten eine Senkung der Grunderwerbs- Mitteln und Förderungen vermehrt einen steuer sowie die Verlängerung des Baukin- Gegenpol zur aktuellen Entwicklung bildergelds sein. Noch besser wäre es, wenn den, um auch Einkommensschwächeren sich das Eigentum auf dem Land befin- eine Chance zu bieten. den würde. Das würde die Nachfrage auf dem städtischen Wohnungsmarkt verringern. Aktuell geht der Trend allerdings in die andere Richtung. Vor allem in Bezug auf Infrastrukturen wie Breitband, ÖPNV und medizinische Versorgung hinkt das Eric Bastian Land den städtischen Bereichen deutlich 17, Rheinhausen hinterher. Hier braucht es durchdachte … sein Zukunfts-Ich Investitionen, um gleichwertige Lebensfreut sich über einen standards zwischen Land und Stadt zu Wohnungsmarkt, auf ermöglichen. Denn nur so kann man die dem auch junge Menschen eine Chance ländlichen Regionen auch für junge Menhaben. schen wieder attraktiver gestalten – und somit für eine Trendwende sorgen.
Foto: Christopher Folz
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STADT, LAND, ZUKUNFT
IN DER CORONA-KRISE IST FÜR VIELE DANK HOMEOFFICE DER TRAUM VOM LEBEN AUF DEM LAND WAHR GEWORDEN. DIESE VERÄNDERTEN REALITÄTEN BRINGEN CHANCEN MIT SICH. ENTSTEHEN KÖNNTEN NEUE STÄDTISCHE UND LÄNDLICHE LEBENSFORMEN – MISCHFORMEN. EINE REISE IN DIE ZUKUNFT MIT DUYGU OGUR.
sourcen profitieren können, hat das Projekt „Landlust“ nach einer jahrelangen gesellschaftlichen Debatte durchaus Potential, eine gängige Lebensform für mehr Menschen zu werden. Gleichzeitig zeigen aber Projekte wie das Urban Farming – also die Lebensmittelproduktion in urbanen Räumen – dass die Fusion von Stadt und Land ein beidseitiges Projekt ist. Die Stadt lernt auch von ländlichen Lebensformen. Können wir daher überhaupt noch in den strikt getrennten Kategorien von „Stadt“ und „Land“ denken? Nein, sagt Tristan Horx, denn in der Realität seien Lebenformen komplexer. Es gäbe nicht nur die beiden gegensätzlichen Arten zu leben und mit dem Wandel der Stadt und des Landes bilden sich stetig neue. Die sogenannte Ruralisierung, also der Gegentrend der Urbanisierung, regt zum Nachdenken an, wie die Zukunft des klassischen Landlebens aussieht: Wittenberge als das künftige Partydorf aka Berlin, Schabernack die neue Tourist*innenmetropole voll mit Museen? Mietendeckel in Busendorf, Artensterben in Büttel?
TREND, GEGENTREND UND DIE FORMEN DAZWISCHEN
GRÜN, TRÄUMERISCH, NATÜRLICH: DAS LAND ALS ORT DER IMAGINATION
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enn es um den abstrakten Ort „Land” geht, haben viele ein klares Bild im Kopf: eine Weide voller Kühe, die frische Brise des Windes, Vögel zwitschern und durch einen Bach bahnt sich Wasser, das die kleine Ortsgemeinschaft versorgt. Dabei verkörpert die Stadt oft das böse Feindbild voller Abgase und Chaos. Während auf dem Land echte Gemeinschaft gelebt wird, herrscht in der Stadt Anonymität. Trotzdem ist Letzteres immer noch der Ort der Lebenschancen und Berufsperspektiven.
STADTFLUCHT ALS KRISENSYMPTOM Diese Sehnsucht nach Ländlichkeit ist jedoch kein neues Phänomen, sondern so alt wie die Menschheit selbst, so Claudia Neu, Soziologin an der Universität Göttingen. Ihr zufolge haben Menschen bereits in der Antike mit dem Land eine bessere und schönere Welt assoziiert. Gerade aber in der Coronakrise ist ein Zuwachs an Stadtaussteiger*innen zu beobachten. Berlin ohne Party, München ohne den vollen Englischen Garten – das hat die nackte Wahrheit der Großstädte entlarvt. Zum anderen habe die Pandemie aller-
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Foto: Katarzyna Oldziejewska
dings auch ein Krisensymptom geweckt, erwartet – und auch nicht gedacht, dass erklärt Claudia Neu: „Menschen sehnen mir das so wichtig sein wird. Deswegen sich in Krisenzeiten immer nach länd- bin ich am Ende auch geblieben.“ licher Schönheit. Wenn sich etwas ändert, Heute hat die gemeinwohloriendann versuchen sie, sich in Idyllen und tierte Community bereits einen Kulturort Sehnsüchte zu flüchten.” für Konzerte, Lesungen und Co. eröffnet So auch im Fall von Katarzyna und arbeitet an zahlreichen weiteren ProOldziejewska, die – bereits vor Corona – jekten. Abhängig sind diese aber von der nach einer persönlichen Krise beschloss, Offenheit der Bürgermeister*innen, der probeweise aus Berlin in ein Dorf in Wit- lokalen Bevölkerung und auch der Nachtenberge zu ziehen. Aus dem Leben auf frage – sprich vom weiteren Zuzug in die Probe sind nun bereits zwei Jahre gewor- kleinen Orte. Je mehr Menschen zuzieden. Ihre Erfahrungen in der digitalen hen, desto mehr Nachfrage – also mehr Branche nutzt sie als Beraterin für das Anreiz für neue Angebote, die dann wieOnline-Marketing von Kleinbetrieben in derum Leute aufs Land locken. Wittenberge: „Ziemlich schnell habe ich dann gemerkt, dass das, was ich kann, IST DAS ALSO DIE ZUKUNFT dort gebraucht wird.“ DER MENSCHHEIT AUF DEM Dass ein stärkerer Zuzug aufs LAND… Land eine Chance für die Bildung von Infrastrukturen sein kann, bringt neue … oder ist das nur ein Elitenprojekt ? Perspektiven für einen Wandel. Das hat Zukunftsforscher Tristan Horx auch die Stadt Wittenberge gemerkt: meint, dass solche Trends oft zu Beginn Sie hat Kata gemeinsam mit 50 anderen Zuzügler*innen eingeladen, um Projekte von drei bis vier Prozent der Bevölkerung vorzustellen und diese mit Unterstützung vorgelebt werden, die dann als „Elite” gilt. der Stadt umzusetzen. Diese Art der ak- Parallel dazu verhandelt die breite Bevöltiven Partizipation begeistert die Berline- kerung, ob es sich um ein lebenswertes rin: „So richtig in den Wandel der Stadt Projekt handelt. Während also zu Beginn mitintegriert zu sein, das hätte ich nicht nur Menschen mit genug Zeit und Res-
Einen derart tiefgreifenden Wandel sieht Tristan Horx nicht kommen. Er geht davon aus, dass eher eine Mischung entstehen wird: „Jeder Trend wird irgendwann auch einen Gegentrend haben. Bei der Stadtflucht wird sich das wahrscheinlich irgendwann balancieren. Diese ist eine Kurskorrektur der Urbanisierung; danach sollte eine Synthese entstehen.“ Die Formel lautet also: Urbanisierung gegen Reruralisierung gleich Rurbanität – also eine Mischung aus den beiden Lebensformen „Stadt“ und „Land“. Sie gehen ineinander über, vermischen sich, bilden neue Eigenschaften – und es entstehen viele Lebensformen dazwischen. Doch fraglich ist, wie tief die Veränderung greift. Hört der Traum vom Land dort auf, wo die S-Bahn Linie endet? Oder wartet ein hochvernetztes Deutschland auf uns, in dem auch Lebensformen in den abgelegensten Regionen ganz neu zusammengewürfelt werden? Sicher ist: Im Jahr 2050 leben wir anders. Aber wie?
Duygu Ogur 21, München … hofft auf eine Zukunft in der ein Dach über dem Kopf nicht als Luxus behandelt wird, sondern als Menschenrecht.
GRÜNE INFRASTRUKTUR
IN VIELEN DEUTSCHEN INNENSTÄDTEN GIBT ES KAUM GRÜN- UND WASSERFLÄCHEN. DIE BÜRGER*INNEN SCHWITZEN IN DEN SOMMERMONATEN VOR SICH HIN. WIE EIN EHEMALIGER ABWASSERKANAL BEI STEIGENDEN TEMPERATUREN IN GELSENKIRCHEN ABKÜHLUNG VERSCHAFFT, BERICHTET EMMA PRZYGODDA.
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s sind 35 Grad, Hochsommer in Gelsenkirchen. Die meisten Menschen wären gerne im Urlaub am Strand oder an einem schattigen Ufer am Badesee. Leider ist das nicht für alle Bürger*innen möglich. Die 95-jährige Waltraud V. lebt mitten in der Gelsenkirchener Innenstadt, umgeben von allen notwendigen Geschäften. Trotz der kurzen Strecken sind die Wege zu Fuß im Hochsommer kaum auszuhalten. Ein gelegentlicher Einkauf lässt sich nicht vermeiden – und so schleppt sich die Rentnerin voll beladen über den kahlen, asphaltierten HeinrichKönig-Platz zum Supermarkt und zurück. Die Sonne knallt und von einer frischen Brise fehlt jede Spur. Endlich zuhause ist sie klatschnass geschwitzt. Ihre Wohnung hat sich in der Mittagssonne in einen Backofen verwandelt. „Ohne Ventilator lässt es sich hier im Sommer nicht mehr aushalten” sagt sie.
ÖFFENTLICHE PLÄTZE SIND DIE BACKÖFEN DER CITY Das bestätigt sich, wenn man bedenkt, dass 2019 auf dem Heinrich-König-Platz 55 1 Grad gemessen wurde. Der Gegensatz von Innenstadt und Umland wird hier mit einem Temperaturunterschied von 12 Grad besonders deutlich. Durch den Beton und den Asphalt wird in den Innenstädten Hitze gespeichert. Abends kühlt es oft nicht unter 20 Grad ab. Die sogenannten Tropennächte rauben den Menschen ihren erholsamen Schlaf. Bei lang anhaltenden Hitzewellen kann das für einige gefährlich werden und gesundheitliche Folgen haben, im schlimmsten Fall sogar den Tod bedeuten. Wie kann man das Leben von Bürger*innen wie Waltraud V. angenehmer gestalten? Die Antwort darauf könnte grüne Infrastruktur heißen – denn vor langer Zeit hat das Grau der Städte die Grünflächen verdrängt.
MIT GUTEM BEISPIEL VORAN New York macht es mit der Umgestaltung einer alten Gütertrasse vor: Die High Line wurde in einen Park umgebaut und schlängelt sich in siebeneinhalb Metern Höhe zwei Kilometer lang durch Manhattan. Eine Bahnstrecke voller Grün quer durch die Betonlandschaft von New York City. Es gibt Gärten voller Blumen, Kunst, Events, Workshops und Essen. Der Park ist ein Ort der Zusammenkunft und bietet Ruhe vom hektischen Stadtleben. Auch im Ruhrgebiet existiert ein Projekt, das sich nicht nur mit Grünflächen beschäftigt, sondern Wasser zurück in die Städte holt. Es geht um die Emscher. Der Fluss wurde während der Industrialisierung als Abwasserkanal zweckentfremdet. Als die Arbeiter*innen in die Region zogen und die Einwohner*innenzahl in den
EINE GRÜNE GÜTERTRASSE INMITTEN VON HOCHHAUSRIESEN
Foto: Alex Simpson / unsplash
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Städten rasch anstieg, war die Emscher der einzige Ausweg für das steigende Abwasser. Dieser Kanal bringt einen starken Gestank mit sich, weswegen die Bürger*innen ihn „Köttelbecke“ getauft haben. Um die Region aufzuwerten und das Leben zu verbessern, wurde der Entschluss gefasst, die Emscher wieder in ei-
nen Fluss zu verwandeln. Das Abwasser wird unterirdisch weitergeleitet und oberirdisch können sich die Bürger*innen an sauberem Wasser erfreuen. Der Emschergenossenschaft und den Kommunen ist es wichtig, die neu gewonnene Naturfläche schön zu gestalten. Ein Beispiel dafür ist der Phoenix-See in Dortmund. Er ist
künstlich angelegt und bietet ein Erholungsgebiet mit Wohnmöglichkeiten, Gastronomie und Gewerbe. Am Rande der einstigen „Köttelbecke“ finden sich heute sogar Weinberge. „Mit der Revitalisierung des Flusses wird ein Strukturwandel im Ruhrgebiet eingeleitet“, sagt Ilias Abawi, Pressesprecher der Emschergenossen-
schaft. „Damit wird die Lebensqualität der Bürger*innen massiv verbessert.“ Grüne Infrastruktur sieht nicht nur schön aus und schafft Erholungsraum, sondern senkt die Temperatur im Sommer erheblich. Bäume und Wasserflächen bieten den Menschen Schutz, Schatten und Abkühlung. Ohne Wiesen und Grünflächen kann kein Regenwasser im Boden versickern und somit nicht verdunsten. Begrünte Fassaden und Dächer verhindern das schnelle Aufheizen der Gebäude und kühlen somit das allgemeine Stadtklima ab. Durch die neu gewonnenen Freizeitmöglichkeiten können die Bürger*innen bei wärmeren Temperaturen einen kühlen Kopf bewahren. Vor allem mit dem Klimawandel werden die Temperaturen nicht sinken – im Gegenteil. Deswegen sind Parks und Wasserflächen in deutschen Innenstädten wichtig. Um den Menschen das Leben während der häufiger werdenden Hitzewellen angenehmer zu gestalten, ist ein Zusammenspiel von Stadt, Land, Fluss notwendig. Auf einer Landepiste für Flugzeuge will ja niemand leben, oder?
Emma Klara Przygodda 21, Gelsenkirchen … meint, dass die Pandemie gezeigt hat, dass gesellschaftliche Veränderungen möglich sind.
Foto: Ilias Abawi
VON DER KÖTTELBECKE ZUM AUSFLUGSZIEL
EIN HOCH AUF HELD*INNENMUT
NIEMAND VERTRITT DIE DEUTSCHEN TUGENDEN SO STOLZ WIE PENDLER*INNEN: BEREITWILLIG OPFERN SIE ZEIT UND GELD, UM DORT ZU WOHNEN, WO ES TATSÄCHLICH WOHNRAUM GIBT. BEI SOLCHER HINGABE IST SOGAR DIE POLITIK SPRACHLOS. EINE GLOSSE VON SOPHIE-MARIE LUDWIG.
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n Boizenburg scheiden sich die Geister und die Bundesländer. Was einst innerdeutsche Grenzstadt war, hat heutzutage den Namen Schlafstädtchen verliehen bekommen. Eine romantische Beschreibung dafür, dass Menschen hier tagsüber ihren Wohnort für die Arbeit verlassen. Eigentlich zieht der Ort in Mecklenburg-Vorpommern Menschen an: Wer hier wohnt, braucht mit dem Zug nur eine Stunde nach Hamburg. Für dieses Privileg stehen die klimabewussten Nicht-HomeofficeAngestellten bei Minusgraden am Gleis. Oder im Regen. Oder in der Sommerhitze. Das tun sie gerne schon morgens um sechs Uhr. Schließlich verkehrt die Verbindung nur stündlich. Warum also Pendeln, mag sich manch eine*r fragen. Weil einige Menschen einfach Lust haben, durch das Netz der Politik zu fallen. Außerdem sind die Gehälter im Westen höher; geringere Lebenserhaltungskosten locken in den Osten. Aber von Ost und West möchte keine*r mehr sprechen. Bedeutsamer scheint der Unterschied zwischen Stadt und Land – oder wie in Boizenburg die Distanz zwi-
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schen der Pendler*innenhochburg und einer Ostseeinsel. „Wie soll ich das bloß den Menschen auf Usedom erklären?“, seufzte 2018 Christian Pegel, der Verkehrsminister des Bundeslandes, im Konfliktgespräch. Es hatte Aufschreie wegen exorbitanter Kosten für die Zugpendler*innen gegeben. Seit zwanzig Jahren.
IN F O R M ATIO N Der Hamburger Verkehrsverbund (HVV) stellt den ÖPNV in der Metropolregion Hamburg. Für alle inkludierten Strecken reicht ein Ticket. Der Geltungsbereich endet in Richtung Osten kurz vor der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern.
Die Linien des Regionalverkehrs sind Ländersache. Pegel versprach Zeitfahrkarten. Nur scheinen es diese Zeitfahrkarten ähnlich mit der Pünktlichkeit zu halten wie die Züge. Während die Menschen täglich am Bahnhof stehen, glänzt jegliche finanzielle Entlastung immer noch mit Abwesenheit.
Doch das eigentliche Problem liegt weiter im Westen – beziehungsweise endet es dort. Zwei Stationen vor Boizenburg hört der Geltungsbereich des Hamburger Verkehrsverbundes (HVV) auf. In Büchen, Schleswig-Holstein. Für die 10 Minuten Zugfahrt dorthin zahlen Pendler*innen 70 Euro im Monat. Die Lösung? Boizenburg soll an den HVV angeschlossen werden. Dann würde das HVV-Ticket bis zur Pendler*innenstadt reichen und auch Studierende hätten eine Rechnung weniger zu stemmen. Die Hürde? Erst reichte die Frequentierung des Bahnhofs nicht aus, jetzt sei es zu teuer. Das Konto weint. Nur dieses Mal nicht das der Pendler*innen. Pegel hat Bedenken, die mit dem Anschluss von Boizenburg an den HVV drohenden Kosten für das gesamte Bundesland Mecklenburg-Vorpommern etwa gegenüber den Menschen auf Usedom zu rechtfertigen. Übersetzt heißt das: Wir haben unser Bestes versucht (schließlich hat das Verkehrsministerium die Kosten bei der Stadt Hamburg angefragt!), aber
für uns ist es eben günstiger, wenn die Pendler*innen zahlen. Immerhin haben die Menschen auf den Ostseeinseln auch Bedürfnisse, die erfüllt werden wollen. Deswegen gibt es nach wie vor keinerlei Entgegenkommen für die Reisenden. Nicht einmal ein verbales Dankeschön. Fänden die Leute auf Usedom wohl auch nicht so toll, ein Lob, ohne dass sie selbst eins kriegen.
Sophie-Marie Ludwig 18, Boizenburg/Elbe … vermisst das Pendeln zur Uni, weil sie von Müdigkeit kreativ wird.
ALTERNATIVES WOHNEN – ZUKUNFTSPROJEKT ODER HIPPIEFANTASIE?
IN ZUKUNFT BRAUCHT ES MEHR UNKONVENTIONELLE WOHNFORMEN, UM AKTUELLEN PROBLEMEN ENTGEGENZUWIRKEN UND WOHNEN ÖKOLOGISCHER ZU GESTALTEN, FINDET HELENE RUF.
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eit Anton Hofreiter, Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion, im Februar in einem SPIEGEL-Interview Einfamilienhäuser kritisierte, geht es in Deutschland hoch her. Hofreiter äußerte Zuspruch für den Vorschlag eines Bezirksleiters der Hamburger Grünen, freie Bebauungsflächen nicht für Einfamilienhäuser zur Verfügung zu stellen. Man darf den Deutschen doch ihr Eigenheim nicht wegnehmen, hieß es danach vielerorts. Doch je mehr Menschen sich eine Fläche teilen, desto weniger Energie und Ressourcen verbraucht jede Person. Sozialer Wohnungsbau ist demnach deutlich ökologischer als Einfamilienhäuser. Viele Familien wollen auf ihr Haus im Grünen dennoch nicht verzichten. Könnten Lebensgemeinschaften da nicht Abhilfe schaffen, einen gemeinsamen Garten und viele soziale Kontakte bieten? Wenn das so einfach wäre. Denn alternative Wohnprojekte gelten vielerorts noch als Kampfbegriff esoterischer Hippiebewegungen. Flowerpower, spirituelle Diskussionskreise, wildes Sexleben und hoher Drogenkonsum sind Assoziationen, die dabei bei manchen Menschen aufkommen. Aber unser Wohnen macht laut einer Statistik des Bundesumweltamts zum Energieverbrauch privater Haushalte ein Viertel unseres Energieverbrauchs aus. In einer Zeit, in der bezahlbarer Wohnraum in Städten seltener ist als Cafés, die regionalen Chai-Soja-Latte anbieten, könnten Lebensgemeinschaften eine interessante Alternative sein.
WIE GESTALTET SICH DAS ZUSAMMENLEBEN? Bei alternativen Wohnformen geht es darum, seinen eigenen Lebensstil zu überdenken. Der Fokus liegt auf nachhaltigem Konsum, dem Teilen von Wohn- und Arbeitsraum sowie von Alltagsgegenständen. Die Idee: Nicht jede*r braucht eine eigene Küche, einen eigenen Akkuschrauber und einen eigenen Bücherschrank. Durch das gemeinsame Wohnen mit anderen Menschen oder Familien teilt man außerdem analoge Zeit miteinander, die in unserer digitalen Welt oft zu kurz kommt. Lebensgemeinschaften wirken vorbeugend gegen Einsamkeit. Ob zum gemeinsamen Kochen, zu Spieleabenden oder einfach zum Reden: In einer WG findet sich immer jemand, der Zeit hat. Dass die Bewohner*innen dabei ihre Privatsphäre verlieren, muss nicht sein. Schließlich können alternative Wohnprojekte individuell ein- und ausgerichtet sein. Alternative Wohnprojekte in Deutschland könnten kaum vielfältiger sein. Neben antikapitalistischen Kommu-
ALTERNATIVE WOHNPROJEKTE KÖNNEN GEMEINSCHAFT UND NACHHALTIGKEIT BIETEN
nen und Ökodörfern gibt es Mehrgenerationenhäuser mit familienfreundlichen Coworking Spaces. Alle Projekte eint der nachhaltige Grundgedanke sowie die Bereitschaft, Lebenskonzepte zu überdenken und Wohn- und Arbeitsraum zu teilen. Der Unterschied zur „normalen“ Wohngemeinschaft besteht schon im Grundgedanken. Im Gegensatz zu Zweck-WGs gibt es eine eigene Infrastruktur und das Augenmerk liegt auf einem gemeinsam geschaffenen Projekt. Die Umgebung der Wohnprojekte wird von Bewohner*innen aktiv mitgestaltet. So werden beispielsweise Entscheidungen im Plenum gefällt und Gärten und Cafés gemeinsam bewirtschaftet.
GEGLÜCKTE WOHNPROJEKTE SIND IN GANZ DEUTSCHLAND ZU FINDEN In der Lebensgemeinschaft „Vitopia“ in Magdeburg steht nachhaltiges Leben im Vordergrund. Familien, Studierende und ältere Menschen finden hier ein Zuhause. Einer der Initiator*innen, Joris Spindler, beschreibt die Bewohner*innen als „Menschen, die an gemeinsamen ökologischen Grundgedanken interessiert sind“. Dafür würden „Orte belebt, die vorher leer standen“. Ein Café, einen Gemüsegarten und demnächst auch eine Herberge für Gäste hat das Projekt. Somit bereichert „Vito-
pia“ die Magdeburger Infrastruktur und bringt verschiedene Menschengruppen bei Veranstaltungen zusammen. Der Hof Prädikow dagegen ist ein ländliches Projekt in Brandenburg. Beteiligt sind etwa 50 Menschen, die gemeinsam einen Raum zum Leben und Arbeiten kreieren möchten und dazu einen alten Gutshof sanieren. Das Augenmerk liegt neben dem Leben im Grünen vor allem auf einem Coworking-Space. „Von der Projektion zum Projekt“, so drückt es Philipp Hentschel, zukünftiger Bewohner des Hofs, aus. Man müsse viel „Zeit, Geld und Herzblut“ in ein solches Projekt hineinstecken. Am Ende aber, sagt Jakob Friderichs, einer der Initiator*innen auf dem Hof Prädikow, lohnt es sich: „Es ist eine Lebensaufgabe.“ Wie in der Lebensgemeinschaft Vitopia treffen in Prädikow verschiedene Arbeitsgruppen gemeinsam anstehende Entscheidungen. Aktuell möchte das Projekt diverser werden und versucht, zukünftige Mitbewohner*innen zu finden. Auch hier werden brachliegende Flächen rekultiviert. Die Dorfscheune, die aktuell renoviert wird, soll bald als Begegnungsort für Dorfbewohner*innen, Hofbewohner*innen und Gäst*innen dienen. Gemeinschaftliches Wohnen ist nicht für jede*n etwas. Viele Projekte sind zurzeit mit hohen Kosten verbunden. Es ist wohl eher ein Privileg, einen
Foto: Hof Prädikow
alten Gutshof zu sanieren. Mit Fördermitteln und Subventionen wäre dies jedoch auch massentauglich. In Freiburg werden entsprechende Flächen beispielsweise bevorzugt an Baugruppen mit ökologischen Grundgedanken vergeben. Alternative Wohnprojekte sind sowohl aus ökologischer als auch aus sozialer Sicht vielversprechend. Wenn wir die Probleme der Zukunft effektiv angehen wollen, müssen wir anders wohnen als bisher. Die bereits heute existierenden Wohnprojekte zeigen, dass sich eine idealistische Hippiefantasie in ein ökologisches Erfolgsprojekt verwandeln kann.
Helene Ruf 18, Kleinmachnow … hat ein Faible für Politik und Pizza und genießt zurzeit die italienische Sonne bei einem Freiwilligendienst.
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rintmagazine, Blog und Videos: politikorange erreicht sein Publikum über viele Kanäle und steht neuen Wegen offen gegenüber. Junge, kreative Köpfe berichten in wechselnden Redaktionsteams aus einer frischen Perspektive. Ob aktuelle Themen aus Politik und Gesellschaft oder die kritische Begleitung von Veranstaltungen – politikorange ist mittendrin.
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Foto: Christopher Folz
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