Kirstine Fratz // Entwicklungsgrosszügigkeit fragt nach dem Was, das im Werden ist Julia Henke // Meine Vision für die Kirche in der Schweiz: Einheit in Vielfalt Harry Weiss // Mit Tiny-Häusern aus Containern Selbstwirksamkeit erzeugen
Innovation
amen, [aːmɛn]
(hebr.) fest, verlässlich, treu, verwandt mit Begriffen wie Glauben, Wahrhaftigkeit und Zuversicht.
Editorial
Wir sind Weltmeisterin!
Nein, nicht im Fussball. Dafür läuft’s in einer anderen Sache rund: Bereits zum zwölften Mal in Folge konnte sich die Schweiz 2022 gegen 129 Volkswirtschaften durchsetzen und sich den Titel «Innovationsweltmeisterin» sichern. Auch wenn diese Errungenschaft ziemlich abstrakt anmutet (irgendwie fehlt der pyrotechnisch untermauerte Pokal-Kuss-Jubel-Moment), hinterlässt sie doch irgendwie ein gutes Gefühl. Ja, wir dürfen stolz sein auf diesen Titel, und dankbar, denn Innovation ist ein wichtiger Motor für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Innovation ist aber auch eine (Auf-)Gabe, die ganz grundsätzlich zum Menschsein gehört. Als Ebenbilder Gottes sind wir berufen, aus der Verbindung mit Gottes Geist kreativ und erfinderisch zu sein – zum Wohl der Schöpfung und zur Ehre Gottes. Darum bilden wir in dieser Ausgabe einen bunten Haufen von ideenreichen Menschen mit spannenden Projekten ab – von unkonventioneller Nothilfe über cleveres Know-how bis zu bahnbrechenden Erfindungen. Mögen der Entdeckergeist und die innovative Kraft, die in diesen Beiträgen schlummern, auf euch überschwappen und euch dazu anspornen, mutig eure Vorhaben voranzutreiben. Doch was auch immer ihr im Schilde führt, vergesst eines nicht: Zum Leben und besonders zu Kreativprozessen gehören Fehler mit dazu. Uns zum Beispiel ist in der letzten Ausgabe ein unnötiger Schnitzer passiert. Beim ersten Coverteaser fehlte John Deckers Name. Im Sinne des Paar-Portraits hätte es dort Seraina & John Decker heissen müssen. Für dieses Versäumnis bitten wir vielmals um Entschuldigung. Angela Schmidt
P.S.: Amen hat sich nicht nur optisch verändert, auch inhaltlich sind neue Formate dazugekommen (und weitere werden folgen). Bereits in dieser Ausgabe findet ihr neu die «Kunstpause», die euch jeweils in der Mitte der Lektüre zu einem künstlerischdialogischen Boxenstopp einlädt. Konzept und Durchführung: Jonathan Schmidt und Tamara Boppart von Central Arts. Und ebenfalls brandneu ist die Kolumne «In meiner Bibel steht», die heuer durch unseren mit einem archivarischen Gedächtnis gesegneten Bibelkenner Peter Höhn eingeführt wird.
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Inhalt
ERNEUERUNGSBREMSEN LÖSEN von Andreas «Boppi» Boppart 06 MINI DECKI Kurzportrait 14 MUTIG NEUE WEGE GEHEN Interview mit Claudio Minder & Karl Müller IV 16 ÄSS-BAR Kurzportrait 24 DEM ZEITGEIST AUF DER SPUR Interview mit Kirstine Fratz 26 TEIL Kurzportrait 34 DER ERDNUSSMANN Portrait von George W. Carver 36 MÜLLER STEINMAUR Kurzportrait 44 IN MEINER BIBEL STEHT Kolumne von Peter Höhn 46 PROJEKTE & PLANUNG Kurzportrait 48 KUNSTPAUSE mit Tobias Gutmann 50 DAS CONTAINER-TINY-HOUSE-PROJEKT von Harry Weiss 52 VERÄNDERUNGEN WIDERSPIEGELN DAS LEBEN Interview mit Andreas Fürbringer 56
JON O. Kurzportrait 64 DIE NETZE AUF DER ANDEREN SEITE DES BOOTES AUSWERFEN Portrait von Julia Henke 66
FRISCHETHEKE Kurzportrait 72 DEN SPIELRAUM ERWEITERN von Sabine Fürbringer 74 EIN GEBET von Tiago Gysel 80 FÜR DIE STADT EIN SEGEN SEIN Interview mit Archie Coates 82 RENÉ BREGENZER Kurzportrait 90 WAS CAMPUS BEWEGT 92 IMPRESSUM 100
von Andreas «Boppi» Boppart
Erneuerungsbremsen lösen Es gibt ein universelles Lebensprinzip: Was sich nicht bewegt, stirbt. Unser Herzmuskel erinnert uns mit jedem einzelnen Pulsschlag daran. Genauso wird unser Glaube nur lebendig bleiben, wenn er sich innovativ und kreativ weiterentwickelt – und wir ihn durch Gottes Geist fortwährend erneuern lassen.
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde (1. Mose 1,1). Gott schafft immer wieder Neues, wie es Jesaja besagt (Jesaja 43,18-19) und lädt uns ein, uns allezeit zu freuen über das, was ich schaffe (Jesaja 65,18).
Der Erfindergott
Gott ist ein Erfindergott. Deshalb ist Innovation im Sinne von Erneuerung zutiefst in der Existenz der Schöpfung und unseres Menschseins verwurzelt. Innovation «passiert». Überall und permanent. Bis in den Alltag hinein. Wenn ich am Kochen bin und mir bestimmte Zutaten fehlen, kann das zu innovativen Ideen führen, mit dem Resultat, dass am Esstisch unterdrückte Würgegeräusche die still gezollte Anerkennung unterbrechen. Wenn ich im Dachstock ein riesiges Regal als Bibliothek verbauen möchte und realisiere, dass da mittendrin noch ein Balken herausragt und irgendwoher noch Strom gezogen werden müsste, fordert mich das zu kreativen Lösungen heraus. Wenn Tamara und ich uns als Ehepaar und Familie alle paar Monate wieder auf veränderte Umstände einstellen müssen, brauchen wir innovative Energie. Und selbst das Schreiben dieser Zeilen ist pure Innovation – eine Anordnung von Buchstaben, wie sie noch nie in genau dieser Kombination auf einem Blatt zu finden war. Letztlich sind wir als Menschen fähig zu kreativen Prozessen, weil wir darin zutiefst und wohl am deutlichsten Gottes Wesen und seine Schöpfungskraft widerspiegeln. Der Trugschluss jedoch, dass fromme Menschen in irgendeiner Weise kreativer sein sollten, wird durch die Realität widerlegt. Kreativität scheint durch die Ebenbildlichkeit im Menschsein grundsätzlich angelegt und verankert, weshalb wir in der Weltgeschichte bis heute auf allen Gebieten erstaunliche Entwicklungsschübe beobachten können. Gott hat eine Entwicklungsdynamik in seine Schöpfung gelegt, die uns Menschen immer wieder Neues, neue Gesetzmässigkeiten, neue Möglichkeiten erforschen und entdecken lässt. So wie Sprüche 25,2 sagt: Gottes Ehre ist es, eine Sache zu verbergen, die Ehre der Könige
aber, eine Sache zu erforschen. Es gehört daher zum Menschsein – als Ebenbild Gottes – und zu seinem Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, dass er – aus der Verbindung mit Gott und seinem Geist – entdeckerfreudig, kreativ, künstlerisch, erfinderisch und innovativ tätig ist, zum Wohl der Schöpfung und der Menschheit und zur Ehre Gottes.
Ein universelles Lebenskonzept
In diesem Sinn sind wir Menschen und ist die Welt auf Weiterentwicklung, auf Innovation, ausgelegt. Und das gehört, wie ich in meinem Buch «Neuländisch» ausgeführt habe, unabdingbar zur gesunden Vorwärtsbewegung des Lebens und Glaubens. Innovation kommt vom lateinischen «innovare», was wörtlich «erneuern» bedeutet – ein Prozess, der sich überall in der Schöpfung wiederfindet, von der Natur bis zum eigenen Körper. Das ständige Erneuern entspricht dem Lebenskonzept, das der «Seht, ich mache alles neu»-Gott für uns Menschen entworfen hat (vgl. Offenbarung 21,5). Während du diesen Satz liest, werden über 50 000 Zellen in deinem Körper erneuert. Täglich verlieren wir 14 Gramm tote Hornzellen. Das sind zig Millionen – und nach rund einem Monat haben wir einen völlig erneuerten Zellsatz auf der Hautoberfläche. Wenn wir achtzig sind, haben wir an die 400 kg Haut verloren. Gott sei Dank. Bereits Haut und Haare zeigen, wie wichtig Erneuerung für uns Menschen ist. Was unser Körper äusserlich macht, muss unser Inneres ebenso tun. Paulus drückt es so aus: Mögen auch die Kräfte unseres äusseren Menschen aufgerieben werden – unser innerer Mensch wird Tag für Tag erneuert (2. Korinther 4,16). Ein faszinierender Vers mit einer wegweisenden Aussage. Unser Inneres ist «mit Haut und Haar» auf tägliche Erneuerung ausgelegt. Und dies, weil es für den Prozess der Christus-Ähnlichkeit, für die wir geschaffen worden sind, notwendig ist. Erneuerung also, damit ihr Gott immer besser kennenlernt und seinem Bild ähnlich werdet (Kolosser 3,10).
Unternehmerisch spricht man bei einem solchen «Optimierungsprozess» von inkrementeller Innovation – wenn etwas Bestehendes beispielsweise besser oder schöner gemacht wird. Dem gegenüber steht die disruptive Innovation, die beschreibt, wenn man eine völlig neue Lösung für ein Problem entwickelt. Beide Dynamiken finden sich auch im Glaubensleben – die konstante Erneuerung wie auch das mutige Beschreiten von Neuland. Sie bedingen beide die Bereitschaft, mich im Leben immer wieder
Wir Menschen sind zu kreativen Prozessen fähig, weil wir darin zutiefst Gottes Wesen und seine Schöpfungskraft widerspiegeln. aufzumachen in den Beziehungen, in meinem Denken und Glauben und vorwärtszusuchen. Die Bereitschaft, mich nicht einfach «gefunden habend» hinzusetzen, sondern neugierig glaubend Christus zu folgen. Und Luthers pointierte Formulierung zu akzeptieren: «Ein Christ ist im Werden, nicht im Gewordensein.» «Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte», sagte Gustav Heinemann, ehemaliger Bundespräsident von Deutschland. Das gilt nicht nur für unser persönliches Leben, sondern auch für so viele andere Systeme, zum Beispiel für eine Gemeinde oder für Beziehungen – wo man sich nicht mehr miteinander weiter- und aufeinander zu bewegt, da verkümmert etwas und stirbt ab. Bei der Mystikerin Teresa von Ávila klingt das wunderschön: «Ich meine, dass es der Liebe nicht möglich ist, irgendwo stehen zu bleiben. Wer nicht wächst, schrumpft.» Wenn wir unserem Glauben nicht erlauben, sich innovativ und kreativ weiterzuentwickeln, dann verkümmert er über die Jahre. Er schrumpft. Und wir degenerieren schlussendlich zu zynisch-verbitterten Glaubenszwergen.
Innovationsbremsen
Es gibt verschiedene Dinge, die Innovation ausbremsen. Oft hat das mit einem bestimmten Mangel zu tun. Hier sechs Arten, die ich in meinem eigenen Leben immer wieder mal identifizieren kann. 1. Ein Mangel an Zeit: Ein Grund für mangelnde Innovationsenergie bei Kreativprozessen, wie zum Beispiel dem Schreiben, kann Zeitdruck sein. Innovation ist weder ein Espresso, der auf Knopfdruck aus der Maschine kommt, noch ein Diamant, der unter Druck geboren wird. Innovation braucht Raum und Zeit, um sich zu ereignen. Und wenn es mir an kreativer Denkenergie fehlt, muss ich mir die Zeit einplanen, nehmen und gestalten. Da wir nicht in uns abgeschlossene Wesen sind, sondern verwoben mit dem Umfeld, hat auch das aktive Gestalten des äusseren Raumes Einfluss auf die Innovationsprozesse in uns. 2. Ein Mangel an Mut: Der französische Schriftsteller André Gide sagte: «Der Mensch kann nicht zu neuen Ufern aufbrechen, wenn er nicht den Mut aufbringt, die alten zu verlassen.» Oft geschieht Veränderung nur deshalb nicht, weil die Angst vor Veränderung den Mut zu Boden ringt. In der Geschichte von Jesus mit den Jüngern im Sturm wird dies deutlich. Sie haben Panik, er schläft. Dann befiehlt er dem Sturm, ruhig zu sein. Doch gleich darauf kommt es zu der schockierenden Begegnung mit jenem nackten, besessenen Mann in Gerasa, der alle terrorisiert und dann von Jesus geheilt wird. Was mir bei der Geschichte ins Auge sticht, ist die Tatsache des «Nach der Angst ist vor der Angst»-Phänomens. Als Jesus den Sturm stillte, brach bei den Jüngern nicht etwa eitle Freude aus. Nein, sondern: Jetzt wurden sie erst recht von Furcht gepackt (Markus 5,41 NGÜ). Das Gleiche geschah mit den Menschen, die in der Region des Besessenen lebten und von ihm bedroht wurden. Als Jesus aber ihr Problem löste und der Mann friedlich wie ein Lämmchen da sass, bekamen sie es mit der Angst zu tun, und sie drängten Jesus dazu, ihr Gebiet zu verlassen.
Erneuerungsbremsen lösen
Wir stossen da auf eine menschliche Reaktion, die ich immer wieder beobachte: Mehr noch als vor der unbequemen oder schmerzhaften Situation, in der wir uns befinden, fürchten wir Menschen uns vor Veränderung. Ich begegne Menschen, deren ganzes Leben nach Veränderung lechzt, die nach einer Begegnung mit Gott dürsten, aber es nicht schaffen, ihre Situation loszulassen und sich von Gott weiterführen zu lassen – sie haben Angst, was Gott mit und aus ihnen machen könnte. Oder wie es Uli Eggers, ein Freund von mir, auf den Punkt gebracht hat: «Für viele ist das stille Leiden am Ist-Zustand beherrschbarer und bequemer als der Mut zur Wahrheit.»
Es geht darum, sich mutig aufzurappeln und hoffnungsvoll vorwärtszustolpern – in das, was Gott zeigt und wirkt. Hinein in Leben fördernde Veränderung. 3. Ein Mangel an Bereitschaft zu scheitern: Innovation und einen neuländischen Spirit im eigenen Leben zuzulassen, bedeutet, zu akzeptieren, dass Fehler, Umwege und Sackgassen natürlicherweise Teil des Lebens sind. Dass es darum geht, hoffnungsvoll vorwärtszuscheitern und daran nicht zu zerbrechen. Vom grossen Erfinder Thomas Edison erzählt man sich, dass er Tausende von erfolglosen Versuchen mit verschiedenen Drähten absolvierte, bis er endlich eine funktionierende Glühbirne entwickelt hatte. Er selbst soll dazu gesagt haben: «Ich habe nicht versagt. Ich habe nur 10 000 Wege gefunden, die nicht funktionieren.» Das Nichtfunktionieren, Stolpern, Umfallen, Fehler- und Umwege-Machen ist nicht einfach Versagen, sondern integraler Bestandteil dessen, was sich Leben nennt.
4. Ein Mangel an Veränderungsenergie: Die meisten Veränderungen brauchen einen Startschub, einen Energieaufwand. Als würde man versuchen, ein grosses Wasserrad in Schwung zu bringen. Dazu muss man einen bestimmten Widerstand überwinden, der in manchen Systemen oder auch in persönlichen Situationen sehr gross sein kann. Personen, aber auch Organisationen haben ein Immunsystem – und da sprechen wir nicht vom biologischen, sondern von einem Immunsystem geistiger Natur. Wenn Veränderung in das System eingespeist wird, kann das zu einer autoimmunen Abwehrreaktion führen. Genau wie ein Körper, der ein neues Herz bräuchte, um zu überleben, dieses abstossen wird, wehren sich Systeme gegen Veränderungen, selbst wenn diese gut und überlebenswichtig wären. Ich habe schon so oft Teams oder Organisationen in Change-Prozessen begleitet und die Quintessenz war oft: «Wir wollen unbedingt Veränderung – aber nur, wenn alles so bleibt, wie es ist.» Das Immunsystem reagiert sofort und es braucht oft viel Veränderungsenergie und Veränderungswille, um diese Abwehrreaktion zu überwinden. 5. Ein Mangel an Loslassenkönnen: Eine weitere Bremse nennt die Wissenschaft «Escalating Commitment» (Eskalierende Verpflichtung). Sie taucht dort auf, wo man in etwas Bestimmtes schon so viel Herzblut, Zeit oder Geld investiert hat, dass man nicht mehr anders kann, als weiter an dem Projekt oder der Stossrichtung festzuhalten, selbst wenn sie keinen Erfolg verspricht. Man ahnt zwar, dass es nicht erfolgreich sein wird, aber hat den Zeitpunkt verpasst, um auszusteigen, oder etwas zu ändern. «Escalating Commitment» lässt sich vielerorts entdecken: Wenn man einfach weiterhin auf eine offensichtliche erfolglose Strategie setzt – etwa auf eine Marketingkampagne, die nicht läuft, aber weil da schon eine Million drinsteckt, investiert man noch mehr. Oder wenn der Preis für Heizöl steigt, aber weil man es verpasst hat, vorher einzukaufen und es jetzt teurer ist, wartet man noch länger, obwohl es nur noch schlimmer wird. Oder da ist eine Gemeinde, in der man einen