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ICH KANN ES MIR LEISTEN Prestige und seine gesellschaftliche Funktion
ICH KANN ES MIR LEISTEN
Prestige und seine gesellschaftliche Funktion
Wer ein Magazin mit dem Titel PRESTIGE BUSINESS auf den Markt bringt, sollte auch erklären, wie der Begriff Prestige in der Wissenschaft abgehandelt wurde und wird. Thorstein Veblen war einer der einflussreichsten Soziologen Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA. Seine «Theorie der feinen Leute», 1899 zum ersten Mal veröffentlicht, schrieb Wissenschaftsgeschichte und legte die soziologische Grundlage, um den Begriff Prestige zu verstehen.
Autor: Georg Lutz
Warum soll Thorstein Veblen als Soziologe und Ökonom aus der historischen Mottenkiste geholt werden? Beginnen wir mit der einfachen Antwort: Der nach ihm benannte Veblen-Effekt stürzte ganze Generationen von Ökonomen in Schwierigkeiten. Sie waren und sind auf den Grenznutzen bei der Analyse von ökonomischen Tätigkeiten fixiert. Veblen machte seine Kollegen darauf aufmerksam, dass es Waren gibt, die nicht gekauft werden, obwohl sie teuer, sondern nur weil sie teuer sind. Das stellte die Lehrmeinung auf den Kopf. So gab er dem Begriff Prestige seine wissenschaftliche Grundlage. Als er «The Theory of the Leisure Class» 1899 veröffentlichte, öffnete er auch vielen europäischen Wissenschaftlern die Augen. Die deutschen Soziologen Werner Sombart und Max Weber sind nur ein Beispiel. Sie profitierten von seinen Erkenntnissen über die Bedeutung der Luxusproduktion in der kapitalistischen Gesellschaft. Die Überzeugungskraft von Veblen gründet nicht auf trockener Theorie oder Statistiken und Zahlen, sondern überzeugt durch anschauliche Argumentationsfiguren und praktische Beispiele.
PRESTIGEGEWINN ZÄHLT
Springen wir doch mitten in ein praktisches Beispiel des 19 Jahrhunderts – das Damenkorsett. Das Korsett sollte den schon damals zwanghaften Schönheitsvorstellungen bei jeder einzelnen
THEORIE DER FEINEN LEUTE EINE ÖKONOMISCHE UNTERSUCHUNG DER INSTITUTIONEN
Thorstein Veblen 382 Seiten, 1986 ISBN 3-596-27362-5
Frau Geltung verschaffen. Der Reiz, der hier erzeugt werden sollte, hat aber seinen Preis: Er wird durch eine Selbstverstümmelung ausgelöst. Wer ein Korsett richtig trägt, kommt öfters in Atemnot. Was heute das Magermodel, das Botox-Aufspritzen oder die dritte Brustvergrösserung ist, war damals die Wespentaille. Veblen argumentiert nun aber nicht moralisch, es geht ihm auch nicht um Schönheitsideale. Er seziert mit dem Skalpell der Gesellschaftskritik. Es geht um Botschaften. Wer sich so lange und ausdauernd mit solchen einschränkenden Dingen wie einem Korsett beschäftigt, muss nicht arbeiten. «Von der ökonomischen Theorie her betrachtet, kommt das Korsett einem Instrument der Verstümmelung gleich, das dazu dient, die Vitalität der Trägerin zu vermindern und sie dauernd und sichtbar arbeitsunfähig zu machen. Nun trifft es zwar zu, dass das Korsett die persönliche Anziehungskraft beeinträchtigt, doch wird dieser Nachteil durch einen Prestigegewinn ausgeglichen, der aus der grösseren Kostspieligkeit und der sichtbar erhöhten Gebrechlichkeit stammt» (Seite 168). Die edlen Damen mit den grossen Hüten, den langen unpraktischen Röcken und dem einschnürenden Korsett waren die wandelnden Botschafterinnen der «feinen Leute». Und wer waren die Ehemänner? Veblen publizierte seine Studie im Zeichen eines ökonomischen Aufschwungs in den USA. Nach der Gründerkrise der Siebzigerjahre in den USA etablierten sich Finanz- und Wirtschaftsmagnaten wie Rockefeller und Vanderbilt, deren Namen noch heute nachklingen. Sie nutzten neue Transporttechnologien wie die Eisenbahn oder erste Fliessbänder wie in den Schlachthöfen von Chicago, um die Produktivität und damit ihre Gewinne gewaltig zu steigern. Heute haben wir mit einem neuen technologischen Schub – und damit wieder mit Einkommensmilliardären wie Jeff Bezos oder Elon Musk zu tun, die uns in ein neues feudalistisches Zeitalter führen.
HISTORISCHE AUSNAHME
Das ist kein natürlicher Vorgang, sondern Ergebnis von gesellschaftlichen Machtstrukturen. Vor 50 Jahren, auch im Zeichen der Blockkonfrontation, beherrschten noch egalitäre Modelle des Wohlfahrtsamtes die Szenerie. Der New Deal in den USA der Dreissigerjahre und das Wirtschaftswunder in Europa der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts waren die Ausgangspunkte. In den USA und Westeuropa arbeitete keiner mehr, nur um überleben zu können. Jeder besass Gebrauchsgegenstände und Statussymbole, die er noch ein paar Jahre zuvor als Luxus der Reichen gekennzeichnet hatte: einen Kühlschrank, ein erstes Auto, einen Fernseher, Reisen und vielleicht sogar ein kleines Eigenheim. Die Schere der Einkommensentwicklung schloss sich.
ROCKEFELLERS NEID
Heute gibt es wieder eine Leisure Class, eine Klasse feiner Leute, die nicht darauf angewiesen ist zu arbeiten. Die Thesen von Veblen sind wieder aktuell. In den USA hat eine Durchschnittsfamilie seit 30 Jahren nichts mehr im Geldbeutel. Die Häuser konnten nur auf Pump gekauft und gehalten werden. Und jetzt muss sie eine Wirtschaftskrise verarbeiten. Im selben Zeitraum erleben wir eine Zunahme von Jachten und Villen, bei denen Rockefeller vor Neid erblassen würde. Es gibt nicht nur in Russland Oligarchen. Der Wettbewerb und Pracht, Prunk und Glanz, wie ihn Veblen beschrieben hat, erlebt immer wieder neue Höhepunkte. Dagegen muss die Mittelschicht auch in Europa die Steuerlast der Bankencrashs und anderer finanzieller Belastungen tragen. Wir sind wieder in der «Normalität» des 19. Jahrhunderts angekommen. Das ist keine moralische Anklage, sondern mit Theoretikern wie Veblen eine sachliche Feststellung, die man im Alltag und auch mit Statistiken belegen kann.
Das Problem dabei sind nicht die teuren Jachten oder prächtigen Villen. Die Leisure Class kann ihr Geld betriebswirtschaftlich nutzen oder auch nicht nutzen. Sie hat gesellschaftliche Macht, denkt dabei aber nur in Kategorien der Shareholder Value und vergisst die Stakeholder, sprich ihre gesellschaftliche Verantwortung. Auch diesen kritischen Punkt hat Veblen gut zusammengefasst: «Diese Klasse hat bestenfalls ein finanzielles oder geschäftliches Interesse an ökonomischen Fragen, doch gleichzeitig liegt die Regelung gesellschaftlicher Angelegenheiten in ihren Händen» (Seite 202).
Es gibt auch heute Unternehmen, die sich mit vielem ökonomisch sinnlosem Beiwerk schmücken und eher in die Kategorie des Frühstücksdirektors fallen. Dieser Chef beindruckt vormittags durch einige Vorzimmerdamen und nachmittags mit dem ruhigen Spiel auf dem Golfplatz. Er hat es eigentlich nicht nötig zu arbeiten. Offiziell wird er das heute nie zugeben, aber die Botschaften sind deutlich. Auch die vielen Beratungsunternehmen und Consultants wie McKinsey oder Roland Berger haben daran nichts geändert. Und das bestätigt die These von Veblen. Es gibt schon sehr lange die
Auseinandersetzung zwischen Nutzen und Prestigeüberlegungen. Das überdauert auch unterschiedliche gesellschaftliche Modelle, ja ist fast eine anthropologische Konstante.
GELD FÜR ÜBERFLÜSSIGES
Kommen wir nochmals zur Kombination von Schönheitsideal und Arbeitsverständnis. Auf den ersten Blick haben die lästigen Korsetts mit den Fit-for-Fun-Idealen heutiger Generationen wenig zu tun. Sollen wir durch Fitness nicht wieder beweglicher und damit auch arbeitsfähiger werden? Das trifft vielleicht auf uns Normalsterbliche zu, die nach dem Ideal der protestantischen Zwängler oder Calvinisten funktionieren müssen und wollen. Für die heutige Leisure Class ist Fitness nur ein Baustein ihres Lebensentwurfs. In Kombination aus regelmässigen Schönheitsoperationen, BotoxKuren und dem Leben auf edelsten Jachten gibt es auch hier wieder die Botschaft: Leute, ich habe es nicht nötig, ich nehme mir sogar die Freiheit, meinen Körper zu straffen, man kann nach dem vierten Gesichtslifting auch sagen zu verstümmeln. Und da sind wir wieder beim Korsett. Was verdeutlicht uns Veblen? Die Vorstellungswelt, Wirtschaft und Gesellschaft, funktionieren rein rational und logisch, das gehört in das theoretische Lehrbuch von Betriebswirtschaftlern. Sie wollen uns weissmachen, die Welt würde vom reinen Nutzwert und individuellem Gewinnstreben regiert. Damit haben Sie die letzten ökonomischen Zyklen weder vorausgesehen noch neue Schlussfolgerungen gezogen. Es geht nicht nur an der Wall Street in erster Linie um schillernde Pracht und Machtentfaltung, man kann auch schnöde von archaischer Angeberei sprechen. Wer nur auf oberflächliche Statistiken schaut, wird die Welt nicht zu fassen bekommen – das erkannte Veblen. Vieles, was edel, kostbar und begehrenswert ist, ist schlicht überflüssig. Und es gibt historische Situationen, in denen man sehr viel Geld für Überflüssiges ausgeben kann, um damit noch mehr Reputation zu bekommen. In solchen Zeiten leben wir.
Georg Lutz ist Redaktor bei PRESTIGE BUSINESS.
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