ProgrammZeitung September 2020

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Sarah Hirschi-Gerber, Protagonistin in ‹Volunteer›, Filmstill

Nicht wegschauen Bruno Rudolf von Rohr

Das Regie-Duo Anna Thommen und Lorenz Nufer porträtiert Schweizerinnen und Schweizer, die nach Griechenland reisen, um dort den Flüchtlingen zu helfen. Den Vorspann will Anna Thommen, CoRegisseurin von «Volunteer», als Prolog verstanden wissen: Er sei eine Tür in den Film hinein, aber ebenso Lektüreanleitung für das Werk als Ganzes. Zudem funktioniere er wie eine Rückblende, wie eine geradezu obsessive Erinnerung. Wir Zuschauende werden orientierungslos hineingerissen und rennen gleichsam mit dem Protagonisten den rauen Strand entlang, ohne zu verstehen, wohin er uns führt. Das Ziel ist ein gestrandetes Flüchtlingsboot und der Läufer ein «Volunteer» mit Stirnkamera. Er gehört zu jener Gruppe von Menschen, die sich im Rahmen der von Michael Räber und seiner Frau gegründeten Hilfsorganisation Schwizerchrüz aufgemacht haben, um auf Lesbos den Menschen auf der Flucht beizustehen. Und das geschieht nicht in einem netten Vorkurs, nein, sie werden buchstäblich hineingerissen, «von null auf hundert», wie es der Co-Regisseur Lorenz Nufer formuliert. Das macht dieser Prolog auf eindrückliche Weise klar.

«Kippmomente». Im Zentrum des Films steht eine Gruppe von fünf Menschen mit unterschiedlichsten Lebensläufen, die das Filmduo als vor Ort handelnde und wieder zu Hause über ihre Erfahrungen reflektierende Individuen por-

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trätiert. Der Film geht Fragen nach wie: Was kann ich tun? Und: Warum tue ich das? Was war der entscheidende Auslöser, Hilfe zu leisten? Anna Thommen interessieren vor allem jene «Kippmomente», in denen sich bei diesen Menschen Betroffenheit in Wut verwandelt und die eine für sie beeindruckende Radikalität zutage fördern. Es sind ganz unterschiedliche Beweggründe, welche die porträtierten Protagonisten bewogen haben, nicht wegzuschauen. Nachdenklich macht hingegen die Frage, wie man mit den gemachten Erfahrungen umgeht. Mehrere Protagonisten heben die persönliche Veränderung hervor, das innere (Selbst-)Verständnis, das in Bewegung gerät. Das möchten sie auch (mit)teilen, stossen jedoch damit auf die Schwierigkeit, ihre Erfahrungen (mit)teilbar zu machen und zwar so, denn das ist schliesslich auch die Hoffnung des Filmduos, dass sie zu Handlungsanleitungen oder, etwas weicher formuliert, zu entsprechenden Einladungen werden. Diese Erfahrungen machen, paradoxerweise aus den Handelnden Aliens, wie Michael Grossenbacher es formuliert, oder um es mit den Worten von Sarah Hirschi-Gerber zu sagen: Die gewonnenen Einsichten machen es schwierig, weiterhin zu Hause zu «funktionieren». Trotzdem zieht sie in der Schlusssequenz des Films ein

tröstliches Fazit: ihr ureigenes Wesen mit seinem Bedürfnis nach Gerechtigkeit aus der Verschüttung befreit zu haben, auch wenn sie damit irgendwie einsam bleibt. Auf (ungewollt?) ironische Weise zeigt sich die Schwierigkeit, Mitbürgerinnen und Mitbürger mit den eigenen Erkenntnissen zum Handeln zu bewegen, wenn Michael Räber, Hauptinitiant der Hilfsorganisation Schwizerchrüz, bei einer 1.-August-Rede seine Landsleute mit einfachen Worten zu einem offenen Umgang mit Migranten auffordert. Wenn die Kamera dann die Gesichter der 1.-August-Gemeinde zeigt, erübrigt sich jeder Kommentar: Bevor sich die Türen für die Migranten öffnen können, müssen es die Gesichter tun. Hier scheint der Funken noch nicht «von null auf hundert» übergesprungen zu sein.

Ohne Moralin. Doch in erster Linie zollen Thommen und Nufer den porträtierten Volunteers grossen Respekt mit einem ehrlichen, undogmatischen und ohne Moralin auskommenden Film. Man spürt deutlich, dass die Filmmachenden versucht haben, dem ungemein vielschichtigen Projekt gerecht zu werden. «Volunteer» läuft ab Mi 2.9. in den Kultkinos → S. 48


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