ProgrammZeitung April 2021

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Im Tunnel von Hass und Gewalt

Knallbunt, aber dramaturgisch schwach

Johannes Helbling

Alan Heckel

Wie weit geht man für die eigenen Überzeugungen? Dieses Thema greift «Und morgen die ganze Welt» auf. Regisseurin Julia von Heinz porträtiert exemplarisch vier junge Mitglieder des antifaschistischen Milieus mit je einer eigenen Position zur Gewaltfrage: Batte (Luisa-Céline Gaffron) plädiert für gewaltfreie Spassaktionen. Lenor (Tonio Schneider) denkt an eine über ihren Kreis hinausgreifende Bewegung. Alfa (Noah Saavedra), der charismatische Anführer, setzt auf Einsätze im kleinen Kreis, um die Nazis zu «klopfen». Luisa (Mala Emde), die Hauptfigur des Films, ist die sich radikalisierende Mitläuferin. Die aus einer wohlgeordneten, bürgerlichen Welt stammende Luisa ist alarmiert durch den Rechtsruck in Deutschland und engagiert sich in der Antifa-Bewegung in Mannheim. Die frisch gebackene Jurastudentin nimmt an Störaktionen gegen rechte Wahlveranstaltungen teil, prügelt sich mit den Nazis und demoliert deren Autos. Immer mehr gerät sie dabei in den Sog von Alfa und verliebt sich. In einem thrillerähnlichen zweiten Teil entzweit das Vorgehen bei einer Nazi-Einweihungsfeier die Freunde Lenor und Alfa: Für Lenor die Gelegenheit, mit einer grossen Menschenmenge die Feier gewaltfrei zu stören. Für Alfa und Luisa die Chance, die Rechtsradikalen mit einer kleinen kampfbereiten Gruppe zu überfallen. Nach einem Krach mit Alfa fährt Luisa allein mit einem Gewehr ihres Vaters an die Einweihungsfeier. Die Nazis im Visier bricht sie die Aktion ab. Bei Dietmar, einem Altaktivisten mit sechs Jahren Knasterfahrung, findet sie Verständnis und Trost. Mit einem Filmstill am Schluss des Films verweilt die Kamera auf den Gesichtern der vier Hauptfiguren.

Sias Regiedebüt «Music» weiss nur auf visueller Ebene zu überzeugen. Die zwei «Golden Globe»-Nominierungen gingen völlig unter, es sind vielmehr die zahlreichen negativen Reaktionen aus der autistischen Community, mit denen «Music» seit seiner Veröffentlichung assoziiert wird. Vor allem die im Film mehrfach angewandte, äusserst umstrittene Festhaltetherapie sorgte für Entrüstung und führte dazu, dass sich Regisseurin Sia dafür entschuldigte, auf die falschen Leute gehört und nicht gründlich genug recherchiert zu haben. Das eigenwillige Regiedebüt der australischen Popsängerin handelt von der jungen Music (Maddie Ziegler), die bei ihrer Grossmutter Millie (Mary Kay Place) lebt, die sicherstellt, dass der autistische Teenager einen geregelten Tagesablauf hat. Denn kleinste Abweichungen führen bei Music zu heftigen Gefühlsausbrüchen. Als Millie stirbt, muss sich ihre fast doppelt so alte Halbschwester Kazu (Kate Hudson) um Music kümmern. Doch Zu, wie sie genannt wird, hat genug eigene Probleme: Sie wurde auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen, ist Alkoholikerin und verdient damit Geld, rezeptpflichtige Medikamente zu verticken. Entsprechend überfordert ist die ungewollte Betreuerin mit der neuen Situation, doch Nachbar Ebo (Leslie Odom Jr.) springt helfend zur Seite und kommt Zu dabei näher. In der Folge schleppt sich die wenig originelle Geschichte dem Ende entgegen. Doch die eigentliche Schwäche des Films ist die Figurenzeichnung, die Charaktere sind nur rudimentär skizziert, ihre Motivation oftmals nicht ersichtlich. Eine emotionale Bindung zur Zuschauerin oder dem Zuschauer kommt nicht zustande. Problematisch ist weiter, dass einzig Zu so etwas wie eine Wandlung durchmacht, während die titelgebende Music mit zunehmender Dauer zum Anhängsel der Lovestory zwischen ihrer Halbschwester und Ebo verkommt.

Bildstark und schlüssig. Julia von Heinz zeigt eine Hauptfigur – gefangen in Angst und Hass, mit einem immer enger werdenden Blick – die zum Äussersten bereit ist. Alles mit einer bildstarken Kamerasprache umgesetzt und schlüssig komponiert. Die Regisseurin, die selbst über Erfahrung im antifaschistischen Milieu verfügt, will aufrütteln: Nie wieder «Und morgen die ganze Welt»! Eine Antwort auf die erschreckende Frage, ob die Situation in Deutschland ausweglos ist, gibt es aber nicht. «Und morgen die ganze Welt»: Verfügbar als Streaming auf www.myfilm.ch, www.filmingo.ch und www.cinefile.ch oder als DVD im Handel

Musikvideos als Stilvorbild. Durchaus gelungen ist dagegen, dass Musics andersartige Wahrnehmung ihrer Umwelt in Form von Musik und Tanz dargestellt wird. Diese im Stile von Musikvideos präsentierten Einschübe gefallen durch knallbunte Farben, originelle Ausstattung und aufwendige Choreografien. Die dramaturgischen Defizite vermögen die optischen Highlights allerdings nicht zu kaschieren. Daher dürfte der Mix aus Drama und Musical ausserhalb von Sias Fanbase nur wenig Anklang finden. «Music» läuft auf www.myfilm.ch

Filmstill aus «Und morgen die ganze Welt», © Alamode Film

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April 2021

ProgrammZeitung

Filmstill aus «Music», © Alamode Film


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