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Hans Rieder: „Bsundra Leit
Hans Rieder aus Steinhaus hat bereits einige sehr interessante Geschichten über das harte Leben von damals geschrieben. Er lässt Zeitzeugen vorwiegend aus dem bäuerlichen Umfeld zu Wort kommen, deren Aussagen die Not, die Armut und die Mühen des Alltags erahnen lassen. Für sein neuestes Werk sammelte er Lebensgeschichten von besonderen Leuten: „Bsundra Leit“ eben, die auch heute noch Gesprächsstoff liefern, mit Erinnerungen und Episoden aus ihrem Leben. Ein solcher Mensch ist Vitus Marcher, der „Locha Vitus“ aus dem Ahrntal.
Ein Portrait von Hans Rieder aus seinem neuen Werk „Bsundra Leit“
Auffallend groß, hager, ein Mann und Bauer mit kantigem Gesicht, immer gut gelaunt und neugierig, was im Dorf geschieht oder was gerade Tagesgespräch ist. So gestaltet sich der erste Eindruck eines Mannes, der über Jahrzehnte aus dem Dorfleben von St. Jakob nicht wegzudenken ist. Der Vitus Marcher, do Locha Vitus, wird im Jahre 1902 beim Stegler in St. Peter geboren. Dort wächst er auf, verbringt seine Jugendjahre am Hof und packt bereits in jungen Jahren bei der Arbeit am heimatlichen Hof und bei den Bauern im Dorf an. Zu der Zeit werden die Lebensmittel fast ausschließlich am Hof erzeugt, der Bauer ist Selbstversorger. Die Ansprüche bleiben bescheiden, Geld, um sich zusätzlich etwas kaufen zu können, ist kaum oder gar nicht verfügbar. Für Tagschichten bei Nachbarn gibt es keine Bezahlung, sondern sie werden vielfach ougidient, das heißt, der Dienst wird in Form von Arbeit rückerstattet. Mit wenig auszukommen, arbeitsam zu sein und trotzdem immer zuversichtlich nach vorne zu blicken, prägt zeitlebens die Grundeinstellung von Vitus. In die Lebenszeit von Vitus fallen auch die beiden Weltkriege. Obwohl er als Soldat nie einberufen wird, spürt er die Wirren des Krieges, den Hunger, die Armut und erlebt, wie Menschen aus dem Tal in den Krieg ziehen müssen und nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren.
Von seinem Vater gleichen Namens erbt der Vitus das kleine Anwesen in St. Peter. Im Jahre 1925 heiratet er seine Anna Maurberger, die Hoferbin vom Lacher in St. Jakob. Das Feld liefert Futter für einige Kühe, dazu hält man beim Lacher immer ein Schwein und Hennen. Ein Zubrot verdient sich der Vitus als Handwerker. Er ist ein geschickter Fachmann, wenn es um die Herstellung von Arbeitsgeräten für die Feldarbeit geht. Die handgeflochtenen Tragkörbe, die er in allen Größen herstellt, sind im Dorf und darüber hinaus besonders gefragt. So brennt in seiner Werkstatt oftmals bis spät in den
Bsundra Leit
Rieder 24,90 € (I/D/A)athesia-tappeiner.com Einfach war das bäuerliche Leben nie. Der harte Lebensalltag, oft gepaart mit persönlichen Schicksalsschlägen, prägte die Menschen und formte besondere Leute – bsundra Leit eben, die auf unter-schiedlichste Art und Weise ihr Leben meisterten. Die heute oft kaum mehr vorstellbaren Geschichten hinter den Menschen lassen erkennen, mit welchem Gottvertrauen und welcher Tüchtigkeit den Hindernissen begegnet wurde … Autor Hans Rieder: Ein neues Buch geschrieben.
Bsundra Leit Hans Rieder
Abend das Licht, bis ins hohe Alter werkelt do Vitus in seiner Mochhitte.
VATER, FAMILIENMENSCH UND BAUER
Wie damals üblich, kommen auch beim Lacher in St. Jakob viele Kinder zur Welt und wachsen dort auf. Die Not ist groß, die hungrigen Mäuler müssen irgendwie gestopft werden. Oftmals ist wenig da, dann grämt sich die Mutter Anna. Sie weiß nicht, wo sie das Mehl zum Kochen hernehmen soll. Insgesamt werden ban Locha in den Jahren zwischen 1925 und 1943 14 Kinder geboren. Zwei davon sterben bereits im Kindesalter, die Regina erliegt mit 17 Jahren einer unheilbaren Krankheit. Wie damals üblich, werden die Kinder bereits im Kindesalter aus dem Haus geschickt. Sie kommen auf größere Höfe in der Umgebung, übernehmen früh verschiedene Arbeiten und gehen von dort aus zur Schule. Meistens sind sie als Hüterbuben eingesetzt, die Mädchen helfen bei den verschiedenen Arbeiten, die im Haus anfallen. Damit entgehen sie der ärgsten Not daheim, sie bekommen das Essen und finden andernorts eine Bleibe. Nicht immer geht es diesen Kindern in ihrem neuen Zuhause gut. Aber es gibt keine Alternative: Die Kinder haben dort zu bleiben, wo für sie ein Platz und das Essen da ist.
DER INHALT
Frühere Zeiten, spannende Geschichten: gelebt von Generationen, die über Jahrhunderte die Bauernkultur prägen und Lebensräume gestalten. Der Inhalt des Buches „Bsundra Leit“ spiegelt diesen Alltag wider, veranschaulicht mit vielen alten Bildern. Das Buch ist im Athesia-Tappeiner Verlag erschienen. //
Wie großherzig die Locha sind, zeigt ein anderer Umstand. Obwohl kaum genug für die eigenen Kinder da ist, nehmen sie noch zwei Ziehkinder, Johanna Enz und Kurt Ungericht, bei sich auf und geben ihnen ein Zuhause. Derweil kümmert sich der Vitus um einen Zusatzverdienst. Er hilft bei verschiedenen Bauern aus, ist oft als Togewercha (Taglöhner) auf anderen Höfen unterwegs. Auch führt er kleinere Zimmermannsarbeiten aus, richtet und hackt das Holz. Damit steuert er zusätzlich etwas zum Einkommen der Großfamilie bei, zu wenig wirft der Kleinhof für alle ab. Wie groß die Not am Hof ist, zeigt sich auch daran, dass für die vielen Kinder nicht genug Sonntagsschuhe da sind. So behilft man
Die Lochaeltern mit den Kindern. Hinten von links: Valentin, Albert, Vitus (später der Hoferbe), Regina , Maria, Hilda, Theresia, Anna. Vorne von links: Mutter Anna mit Florian, Johann, Vater Vitus mit Hermann.
sich, indem einige von ihnen am Sonntagmorgen die Frühmesse besuchen und dann rechtzeitig auf den Hof zurückkehren. Anschließend überlassen sie die Schuhe den Geschwistern, damit diese zum Amt gehen können. Der Kirchgang bleibt unerlässliche Pflicht für alle.
Der Locha Hof vor dem Weichbild des Dorfkerns von St. Jakob mit Kirche, Widum, Friedhof und dem Dorfgasthaus am Bühel.
VITUS, DER EHRNBURGGIEHNA
Vitus ist ein tiefgläubiger Mensch, immer dabei, wenn es um religiöse Bräuche und Feiern oder Kirchgänge geht. Ein religiöses Bekenntnis und wohl auch ein gesellschaftlicher Höhepunkt ist der jährliche Bittgang im Mai, bei dem um eine gute Ernte gebetet wird. In der Woche vor Christi Himmelfahrt machen sich die Männer des Ahrntals auf den Weg zur Kornmutter in Ehrenburg. Die Ehrnburga Kreize, der zweitägige Bittgang zur Kornmutter, wie er im Volksmund genannt wird, ist Ausdruck tiefer Religiosität, zeigt die enge Verbindung zwischen Bauern- und Kirchenjahr auf. Die Ehrnburga Kreize gehören zu den ältes-
Die Ehrnburggiehna: An die 60 Mal nimmt der Vitus (hinten) am Bittgang der Ahrntaler zur Kornmutter nach Ehrenburg teil. Hier in Begleitung von Gottfried Rieder, Kugla in Steinhaus. Die Locha aus St. Jakob im Jahr 1903 (v.l.): Johann (als Bub in den Bach gefallen), Vitus und Maria Marcher.
ten Bittprozessionen in Südtirol. Die mündliche Überlieferung lässt vermuten, dass der Ursprung im 14. Jahrhundert liegt; im Jahre 1970 wird der Jubiläumskreuzgang abgehalten. 650 Jahre lang gibt es diesen Bittgang nach Ehrenburg mittlerweile. Im Frühjahr, noch bevor die Bauern die Äcker bestellen und das Korn säen, beten sie um eine gute Ernte, denn das Gedeihen des Kornes sichert das Überleben am Hof. Neben dem religiösen Hintergrund war und ist dieser Bittgang auch ein geselliges Ereignis. Einstmals ist es sicherlich eine willkommene Gelegenheit für die Bauern, ihre Neuigkeiten, Meinungen und Vorhaben untereinander auszutauschen. Gar manches Mal holt man sich verschiedene Informationen über die Dienstboten ein, die auf anderen Bauernhöfen arbeiten. Von klein auf ist Vitus bei diesem Bittgang dabei, lässt keinen Gang zur Kornmutter nach Ehrenburg aus. Es sind wohl an die 60 Mal, die er daran teilnimmt.
CHARISMATISCHE PERSÖNLICHKEIT
Von Weitem erkennen die Dorfleute den Lochabauern an seinen markanten Kennzei-
Hochzeit im Jahre 1925: die Braut Anna Maurberger mit Bräutigam Vitus Marcher.
chen: der lange Schnurrbart, dazu der Hut mit dem Dachsbart und der Rucksack am Rücken. Dazu trägt er sommers wie winters die Pfössn, die Lodenpantoffeln, die er auch bei schlechtem Wetter nie ablegt. Wenn er irgendwo einkehrt, legt er diese Fußbekleidung zum Trocknen auf den Bauernofen und zieht sie dann wieder an. Vitus ist lange Zeit auch als Ausschreier eingesetzt. Zur damaligen Zeit werden verschiedene Mitteilungen, die die Bevölkerung betreffen, nicht mit einer schriftlichen Einladung zugestellt, sondern nach der Sonntagsmesse, wenn alle Kirchgänger noch am Kirchplatz verweilen, laut vorgetragen, ausgeschrien, für alle Anwesenden gut verständlich. Mit seiner klaren Stimme und der deutlichen Aussprache trägt er diese Kundgebungen für alle gut hörbar am Kirchplatz vor. Bis ins hohe Alter, achtzig Jahre alt wird der Vitus, prägt er das Dorfleben in St. Jakob. Ein angenehmer Mensch, tüchtig, arbeitsam. So ist der Locha Vitus als Tölderer Urgestein in die Ahrntaler Chronik eingegangen, und immer dann, wenn sein Name fällt, werden bei vielen gute Erinnerungen wach. //