Freitag, 13. April 2012 Nr. 87
Szenen
Teuflisch verführerische Messe
Klezmer mit schrägen Beats
Reverend Shine Snake Oil Co lieferten eine fiebrige Show in der Schaubude Von Thomas Bunjes Kiel. Adel versus Klerus, König Fußball gegen Reverend Shine Snake Oil Co. Zunächst sieht es in der Schaubude so aus, als stäche der Bundesliga-Showdown im TV die dänisch-amerikanische Band aus. Doch kurz vor 22 Uhr haben sich die Reihen recht anständig gefüllt, und keiner, aber auch wirklich keiner hier dürfte sein Kommen bedauert haben. Es ist eine teuflisch verführerische Messe, die das Quartett liest. Ein sinnlicher, deftiger, harscher Sound, in dem sich Jazz, Gospel, Blues, Soul, Funk und Rock wüst paaren, übereinander herfallen. Ein wuchtiges Spiel, das bockt, holpert, Haken schlägt, mit
plötzlichen Pausen mitten im Song, um dann wieder fiebrig loszupreschen. Und dazu ausschweifende Texte, die diese Musik bildreich spiegeln. Kostprobe? „Gave my heart to a vegetarian and said eat it before it gets cold. Her manners were quite good she carved it up and then turned up her nose.” Heißt es in Belligerent, was sich mit kampflustig übersetzen lässt. Doch, so klingt er auch, dieser jazzinfizierte Rockabilly-Song. Einem vom Beelzebub besessenen Prediger gleich gebärdet sich Claudius Pratt, steigt immer mal wieder von der Bühne herab zu seinen Schäfchen, hebt beschwörend die Hände, singt mit vexierfreudiger Stimme, knorrig knarzend wie Tom Waits,
wollweich wie ein Crooner, manchmal auch durch ein Mini-Megaphon. Justin Moses Gunn bearbeitet seine akustische Gitarre als wär's eine elektrische, entreißt ihr knallharte Licks, kann aber auch feinfingerig oben auf dem Griffbrett picken. Martin Olliverre lässt die Saiten seines Kontrabasses summen wie einen Haufen stinksaurer Hummeln, kann aber auch ein inspiriertes Jazz-Solo beisteuern, für das es heftigen Beifall gibt. Und Matthias Klein, der wie ein Rock-Relikt aus den späten Sixties aussieht, bolzt und drischt auf sein Drumset ein, als wolle er das Teil in Grund und Boden dreschen. Wenig verwunderlich, dass ein derart expressiver Typ wie Pratt kein Problem damit hat,
INTERVIEW Mit Alexandra Dimitroff von Di Grine Kusine sprach unsere Mitarbeiterin Beate Jänicke Kiel. Di Grine Kuzine kommt ganz schön rum. Spielt beim Karneval der Kulturen wie auf der Berlinale; tourten durch Europa. Morgen gastiert die Berliner Truppe mit ihrer temUnd der Schweiß fließt: (von links) Matthias Klein, Claudius Pratt peramentvollen Mixtur aus und Justin Moses Gunn. Foto Peter Klezmer, Balkanbeats, Jazz und Ska im Lutterbeker. auch verbal den Kontakt mit tadelt Pratt. „Irgendwas, ein dem Publikum zu suchen. Wo- Schloss, eine Kirche oder so?“ Sie traten zwar schon beim für diese Stadt denn berühmt Eine Brücke, schlägt einer vor. Sommerfest des Bundespräsisei, will er wissen. Betretenes Wie heiße die denn? „Klapp- denten auf, aber auf Ihrer Schweigen, ein paar lachen – brücke.“ Lautes Gelächter. Homepage steht: Wie spielen Kopenhagen jedenfalls hat auch auf Hochzeiten! Gilt das man kennt es, dieses bestimmte Kieler Lachen, wenn es um mit Reverend Snake Oil Co. ei- immer noch? die Heimatstadt geht. „Für die ne großartige Band, für die es Natürlich! Das ist Teil unserer Autobahn raus“, ruft einer. zwar nicht berühmt ist, aber Identität, Musik ins normale „Oh, das ist aber nicht nett“, sein sollte. Leben zu bringen. Das ist eigentlich sogar der Ursprung unserer Band. Damit hängt auch zusammen, dass unsere Musik sehr generationenübergreifend funktioniert.
Verhangene Stimmungsmalerei
Beim Konzert des Martin Ehlers Trios im KulturForum kam auf jedes Gramm Musik ein Kilo Bedeutung Kiel. Ansprechend und mehr als das, nämlich richtig schööön ging es am Mittwochabend im KulturForum los. Dort präsentierte das Martin Ehlers Trio seinen von vorherigen Konzerten und Alben bekannten feinfühligen kammermusikalischen Jazz.
Der Bandleader und gebürtige Kieler bewegte sich am Piano entspannt in den weiten Gefilden gefühlvoller Nachdenklichkeit, wob zarte Melodielinien und griff nur selten kräftig in die Tasten. Ein Spätromantiker am Flügel, zuständig für verhangene Stimmungsmalerei nordischer Provenienz. Thomas Biller ließ seinen Bass ein solides Akkordgerüst legen und zeigte im Wechselspiel mit seinen Kollegen seine solistischen Fähigkeiten. Schlagzeuger Derek Scherzer sorgte mit dichtem, auch klanglich abwechslungsreichem Spiel für gehörige Dynamik – auch dann, wenn es manchmal allzu besinnlich zuging. Und weil das Trio auch einmal zeigte, dass es im Uptemp-
tum, Lateinisch für Schicksal, überfrachtet die ohnehin bedeutungsschwangere Musik allein schon mit seinem Titel ein weiteres Mal mit Bedeutungshuberei. Auch Titel wie Hope deuten darauf hin, dass das Martin Ehlers Trio nicht einfach nur gute Musik machen will, sondern quasiphilosophische Ansprüche an sie stellt. Das umso mehr, als der Bandleader bei seinen Ansagen keine Gelegenheit ausließ, auf die seelischen Heilungskräfte hinzuweisen, die in ihr Können viel mehr, als sie zeigten (von links) Martin Ehlers, Thomas Biller und Derek Scherzer. Foto Schaller walten. Die Magermilch der frommen obereich für Druck sorgen wurden deutlich. Dann zeigte Entrücktheit eines jungen Denkungsart, die er dabei konnte und sich auch jenseits sich für viele, dass die Länge Priesters bei seiner ersten ausschenkte, mag manchem der Musik Marke besinnliche die Last dieser Musik tragen Messe geradezu zelebriert Besucher sauer aufgestoßen Träumerei zu bewegen wuss- musste und die stilistische wurde. Auf jedes Gramm Mu- sein. Das ist schade, denn das te, ging alles zur Zufrieden- Orientierung am legendären sik kam da ein Kilo Bedeuheit der Zuhörer ab. Freilich Esbjörn Svensson Trio, das tung, jede Note wurde als Martin Ehlers Trio kann eiwünschte man sich manch- für Ehlers ganz deutlichen Trouvaille gefeiert, als habe gentlich viel mehr, als es zeigmal, Ehlers hätte seine Kolle- Vorbildcharakter hat, recht man pures Gold gefunden. te. Aufnahmen mit dem Tromgen häufiger einmal von der dünnblütig ausfiel. Feinfüh- Meist aber war es Katzengold, peter Ingolf Burkhardt zeigen, dass zeitgenössischer ligkeit erwies sich als Gefüh- was das Trio funkeln ließ. Leine gelassen. Ein Anlass für das Kieler Jazz jenseits aller GefühligNach der Pause dann schie- ligkeit, Romantik als Sentiden sich die Geister, und die mentalität. Ärgerlich zudem, Konzert war die Promotion keit nicht auch jenseits seiner Defizite der Musik des Trios dass diese mit der religiösen für die neue CD Fatum. Fa- Möglichkeiten liegt.
Titanic-Lesung in der Hansa48
Ein Nistplatz in jedem Ohr
Kiel. Sonntag, 14. April 1912, 23.40 Uhr: Die RMS Titanic rammt auf ihrer Jungfernfahrt einen Eisberg. Zwei Stunden und 40 Minuten später versinkt das als unsinkbar geltende Schiff im Nordatlantik, mit ihm rund 1500 Menschen. Es war nicht nur ein Untergang, sondern auch eine Epochenwende: das Ende des „titanischen“ Traums vom Sieg des Menschen über die Natur (und damit auch seine eigene). Auf den Tag genau 100 Jahre später fragen die Kieler Rezitatoren Matthias Wilms und Nils Aulike sowie der Kieler Autor ögyr in der Hansa48: „Wie rät ein Untergang dem nächsten?“ (Meret Oppenheim). Geboten werden soll den Gästen ein eisgraubunter Abend mit fremden und eigenen Texten und (Film-) Projektionen nicht nur über den Untergang der Titanic. kn
The Sons wussten im Prinz Willy durch melodische Ideenfülle zu gefallen
Von Hannes Hansen
쐽 Morgen, 21 Uhr, Hansa48 (Hansastr. 48). Der Eintritt ist frei.
Von Kai-Peter Boysen Kiel. Schwitzend, aber gut gelaunt, feierten The Sons aus England den Auftakt ihrer Deutschland-Tour: Im proppenvollen Prinz Willy trafen die fünf Söhne Derbys mit ihren sehr vielseitigen und sehr britischen Indiepop-Songs den Hörnerv des Publikums. Welcome Home Again ist ein gemächlich-melancholischer Einstieg in den Abend und gleichzeitig Opener ihres Erstlingswerkes Visiting Hours (2009), mit dem die Briten nachhaltig auf sich aufmerksam machten. Ist dieses Album auch etwas weniger filigran und ungeschliffener als der aktuelle Nachfolger The Prime Word Committee geraten, lassen sich diese Songs im Willykonform gemäßigten Akustikgewand sehr gefällig goutieren. Sänger und Gitarrist Paul Herron verfügt über eine angenehme sonore, leicht angekratzte Stimme und einen wunderbaren Akzent, mit dem er am Piano die neue Single Scientists („… are the new
Feiner Pop britischer Prägung: (von links) Steven Herron, Stewart English, Paul Herron und Lee Blades. Foto Boysen
gods, it’s them we ask for deliverance“) anstimmt. Am Klavier ist dieser Song vermutlich auch entstanden, etwas pathetisch angesungen, lässt er mit dem folgenden Bass, Schlagzeug sowie Akustik- und Slidegitarre in schönen Harmoniewechseln echtes SixtiesFlair aufkommen. Mit fünf Musikern ist die Bühne hinreichend gefüllt, die Instrumentenwechsel geraten da schon mal zur kleinen Turnübung. Paul Herron über-
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brückt eine kleine Pause mit frisch gelerntem Eins-biszehn-Zählen auf Deutsch, was dem sympathischen Frontmann einen kräftigen Applaus beschert. „Join us next time for eleven to twenty“, scherzt er, um darauf Two Minds anzustimmen, ein weiteres Songjuwel, das sich allmählich bis zur Uptempo-Countrynummer aufschwingt und mit feinem mehrstimmigem Gesang aufwartet. Das zeichnet auch das folgende, fein gezupfte Round
„Die Grine Kuzine“ heißt ein Klezmerstück aus des 20er Jahren von Abe Schwartz über das Schicksal einer Immigrantin in Amerika. Warum dieser Name? Anfangs hatten wir gar keinen, aber als wir immer mehr auftraten, brauchten wir einen. Wahrscheinlich auch aus lautmalerischen Gründen haben wir Di Grine Kuzine gewählt, die vielen Is klingen gut in Berliner Ohren. Es ist ein Lied aus einem Musical, es beschreibt die Grine, eine junge Naive, die voller Hoffnung die alte Heimat verlässt, und es endet damit, dass sie noch mehr ausgebeutet wird als zu Hause. Aber wir wollen auf keinen Fall diese politisch korrekte Tränendrüse drücken. Wie setzt sich Ihr Repertoire zusammen? Der Anteil der Eigenkompositionen ist im Laufe der Jahre größer geworden. Aber wir spielen auch Traditionelles aus verschiedensten Quellen, aber auf unsere Weise.
Stilsprünge und vielsprachiger Gesang: Di Grine Kusine.Foto hfr
And Round aus. Ein Song, der sofort einen Nistplatz in jedem Ohr findet, ist Better Days, ebenfalls vom aktuellen Album. Aufgebaut auf sechs Flageolet-Tönen und mit einer rhythmischen Phantomspeisung aus Hi-Hat und Snare-Rimshots kullert diese Pop-Perle von Ohr zu Ohr, erinnert an ihre Brightoner Kollegen The Miserable Rich. Sänger Paul hat dieses feine Gespür für den Grat zwischen Melancholie und Lebenslust, das jeden Song, ob schnell (Worry) oder balladesk (Float Together), zum Erlebnis macht. The Sons bestehen seit acht Jahren; Paul Herron, Stewart English (Gitarre), Steven Herron (Gitarre, Klavier), Lee Blades (Bass) und Drummer Roger Millichamp sind allesamt gute Musiker und Sänger, deren kreativer Output sich immer songdienlich präsentiert. So ist denn bei der Fülle an Ideen die Suche nach einem typischen Sound eher ein Luxusproblem, das viele andere Bands gerne hätten.
In welchen Sprachen singen Sie? Ich singe viel in slawischen Sprachen, ich bin ja Halb-Bulgarin. Aber wir haben uns auch in Deutsch probiert, unserer Muttersprache. Und neuerdings auch in Englisch und Französisch. Außerdem haben wir ein Mafia-Lied, das ist nicht wirklich Italienisch, sondern ein süditalienischer Dialekt, den sich die Norditaliener bei unseren Konzerten übersetzen lassen mussten (lacht). Ihr Vater ist Bulgare, aber Sie verstehen sich vor allem als Berlinerin, genau wie Ihre Bandkollegen. Wie kamen Sie darauf, diese Musikmixtur zu kreieren? Eigentlich bin ich Cellistin, habe eine klassische Musikausbildung, aber das war nie 100-prozentig mein Ding. Mit alten Freunden kamen wir irgendwann auf die KlezmerMusik. Dann haben wir gesehen, dass es von der Tonalität her zu den osteuropäischen Musikkulturen kein weiter Sprung ist. 쐽 Morgen, 21 Uhr, Lutterbeker (Dorfstr. 11), Lutterbek