RCKSTR Mag. #142 | Februar 17

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Verdingung in der Schweiz:

Wie Kinder zu Sklaven wurden Keystone und das Polit-Forum Käfigturm zeigen in der Ausstellung «Verdingkinder, Portraits von Peter Klaunzer» intime Nahaufnahmen und Biografien ehemaliger Pflege- und Verdingkinder, die mit bewegenden Geschichten ein Zeichen gegen das Vergessen setzen. Wir haben mit zwei Portraitierten gesprochen und geben Einblick in die Zeit, als Kinder aus Kostengründen ihren Familien entrissen und zu Zwangsarbeitern wurden.

Text: Mirjam Rodehacke, Bilder: KEYSTONE/Peter Klaunzer Betrachtet man die heutige Jugend kritisch, so scheinen sich die Hauptinteressen unserer Generation auf Themen wie der verklärten Selbstdarstellung auf sozialen Netzwerken und deren regelmässigen Nutzung zu beschränken. Das Interesse an der Schulbildung rückt dabei oft in den Hintergrund und wird mehr als Mittel zum Zweck statt als Chance verstanden. Vor ein paar Jahrzehnten war die Schule allerdings für viele ein geschätztes Privileg, das jedoch für einige der Kinderarbeit weichen musste. Diese Kinder und Jugendliche waren mit Problemen konfrontiert, die vieles von dem, das wir in unserem Alltag als persönliches Desaster deklarieren, zur Lappalie verkommen lassen. So wurden in der Schweiz laut dem Historiker Marco Leuenberger schätzungsweise mindestens 500'000 Kinder und Jugendliche zwischen den Jahren 1800 und 2000 von Behörden fremdplatziert. Betroffen waren hauptsächlich Scheidungskinder oder Waisen aus ärmlichen Verhältnissen. Die Fremdplatzierung sollte den alleinerziehenden Elternteil oder den Staat finanziell entlasten - es gab in den Anfangszeiten noch keine Sozialsysteme. Häufig wurden die Kinder in Heime gesteckt oder als billige Arbeitskräfte auf Bauernhöfe verdingt. Diese Verdingkinder wurden oft folgenschwer misshandelt, wie Sklaven gehalten und mussten Zwangsarbeit leisten - obwohl sie offiziell als Pflegekinder galten. Weiter wurden sie in schlimmsten Fällen erniedrigt oder vergewaltigt, einige kamen dabei sogar ums Leben. «Er drohte unsere Mu‫מּ‬er zu erschiessen» Die Ausstellung «Verdingkinder, Portraits von

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Peter Klaunzer» greift dieses Kapitel nochmals auf und lässt 25 Zeitzeugen zu Wort kommen. Zwei davon sind Theresia Rohr-Steinmann und Christian Tschannen. Theresia wurde 1946 im Kanton Luzern geboren, als Zweitjüngste von sieben Geschwistern. Die Mutter starb zwei Jahre später bei der Geburt des achten Kind. Kurz darauf wurden Theresia und ihre Geschwister an verschiedene Orte verdingt. Durch die frühe Trennung hatten sie lange keinen Kontakt zueinander: «Meinen ältesten Bruder sah ich erst an der Beerdigung der zweitältesten Schwester wieder», erinnert sie sich. Sie war 16, als sich ihre Schwester mit 20 Jahren das Leben nahm. Drei weitere Geschwister folgten ihr später in den Tod – zwei davon ebenfalls durch Suizid. Diese Erlebnisse konnte Theresia in einer zehnjährigen Psychotherapie verarbeiten. Heute geht es ihr gut. Mit ihrem öffentlichen Engagement will sie anderen Betroffenen Mut machen. Christian kam 1971 in Solothurn zur Welt. Mit sieben Jahren wurden er und sein älterer Bruder von den Behörden so manipuliert, dass sie der eigenen Fremdplatzierung zustimmten – im Glauben, ihre alleinerziehende Mutter für eine begrenzte Dauer von ein paar Monaten zu entlasten. Daraus wurden zehn Jahre. Zuerst wurden die Brüder an einen Bauernhof verdingt, der Arbeitsalltag begann sofort: Vor und nach der Schule mussten sie schwerste Hofarbeit erledigen. Die Situation spitzte sich immer mehr zu und eskalierte, als die besorgte Mutter ihre Kinder unangekündigt besuchen wollte: «Der Bauer griff sich das Gewehr,

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