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Tommy Vercetti Der Wachmacher

Wir sitzen in zerstrittenen Zeiten. Doch in Sachen Tommy Vercetti und seiner Bedeutung für den Schweizer Rap können sich vom Lyrics Magazin («Genie und Wahnsinn») bis zum, äh, ja: Pfarrblatt («prophetisch-biblische Tradition») scheinbar alle einigen. Die fulminanten, gesellschaftskritischen Textkreationen des Berners sind stets durch Poesie und Tiefgang hervorgestochen, haben dem hiesigen Hip-Hop Herz und Hirn verliehen. 2010 veröffentlichte er seinen Debüt-Longplayer «Seiltänzer». Der Geniestreich blieb fast zehn Jahre lang sein einziges Soloalbum, dazwischen feierte Tommy unter anderem Erfolge als Teil von Eldorado FM und der Glanton Gang. Jetzt legt er mit «No 3 Nächt bis Morn» seinen zweiten Einzellauf in Albumlänge vor – und war dabei doch nicht ganz allein. Massgeblich an der musikalischen Produktion beteiligt war nämlich Pablo Nouvelle. Normalerweise schlägt der Wahl-Zürcher ja sehr gekonnt die Brücke zwischen Soulund elektronischer Tanzmusik. Nun hat er für Vercetti vielschichtige Sound-Landschaften errichtet, durch die sich dessen Flow seinen Weg bahnen kann und dabei erneut für eine Sternstunde des Genres sorgt. Tommy Vercetti über die spannende Zusammenarbeit, den Status Quo des Schweizer Hip-Hops und die anstehenden eidgenössischen Wahlen. (rec)

Neun Jahre liegt dein letztes Soloalbum zurück – wie hat sich die Schweizer Rap-Szene und das Genre in dieser Zeit verändert?

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Uh, ich würde sagen sehr stark! Zwischen 2008 und 2012 war so die Hochzeit von Eldorado FM, wir waren in dieser Zeit und Konstellation sehr stilprägend. Seither sind mindestens noch vier bis fünf «Wellen» durch den Schweizer Rap: der grosse Aufstieg von Lo und Leduc, Mimiks und der «041»-Hype, das gloriose Comeback von Zürich mit Leuten wie Xen oder Stereo Luchs, der Trap-Einfluss mit Pronto an der Spitze, schliesslich Berns gefühlter fünfter Frühling mit den S.O.S-Jungs – und last but not least: auch ein paar sehr spannende Frauen haben den Weg ins Spotlight gefunden! Insgesamt darf man sagen, Schweizer Rap hat sich unglaublich vielfältig entwickelt, musikalisch aber auch, was die Herkunft und den Hintergrund der Protagonisten und Hörer betrifft. Bemängeln würde ich vielleicht einzig, dass die Textebene in letzter Zeit ein bisschen vernachlässigt wird – hinsichtlich Lines sind die Eldorado-Zeiten glaub ich unerreicht. Aber das Positive überwiegt ganz klar.

In der Zwischenzeit warst du ja nicht untätig und hast unter diversen Kollaborationen veröffentlicht. Gibt es Texte, Ideen und Inspirationen, die du dann aber doch lieber nur auf einer Platte unter eigenem Namen umsetzen willst? Oder gibt es für dich von der Herangehensweise keinen Unterschied, ob du als Teil eines Kollektivs oder solo kreierst?

Oh doch, da gibt es sehr gewichtige Unterschiede. Etwas vereinfacht und natürlich offensichtlich könnte man sagen: je mehr Leute, umso weniger persönliche Tiefe, aber umso mehr Spass. Ein Solo-Projekt gibt dir halt die Möglichkeit, dich völlig auf die Themen und Fragen zu konzentrieren, die dich interessieren, und musikalisch genau die Vision umzusetzen, die dir vorschwebt – andererseits vereinsamst du da auch. Sitzen noch drei andere am Tisch, dann ist die Arbeit unter Umständen zwar von einem kleinen gemeinsamen Nenner bestimmt, aber du trägst nicht die ganze Verantwortung alleine, kannst die Sachen zusammen erarbeiten, zusammen auf Tour gehen, usw. Ausserdem spannend: Ich hab mit denselben Leuten zu viert, zu dritt, zu zweit und alleine etwas gemacht, und immer kommt etwas völlig anderes raus, weil die Dynamik immer eine andere ist.

In einem NZZ-Interview bezeichnete Pablo Nouvelle die Frage nach seiner Jugendsünde mit «Schweizer Rap, schlechte Graffitis und stümperhafte Beats». Inzwischen scheint er das ja schon wesentlich besser zu machen – hast du die musikalische Vision komplett in seine Hände gelegt? Gab es während der Produktion Momente, in denen ihr euch gegenseitig mit Ideen überrascht oder den eigenen Horizont erweitert habt?

Das ist natürlich auch die Pflege seiner Hipster-Persona – eigentlich wünscht er sich auch sehr stark zu Rap und Graffiti zurück, und freestylt auch regelmässig während der Bandproben. Komplett in seine Hände gelegt würde ich nicht sagen – ich habe jeweils sehr konkrete Vorstellungen, was die Stimmung und Emotion der Musik angeht. Ich würde meine Rolle so als eine Art Regie oder Kuratieren bezeichnen, vor allem während des Auswahlprozesses. Danach rollt’s dann einfach hin und her. Zumindest mein Horizont wurde dabei sicher herausgefordert und hoffentlich auch erweitert, da er halt musikalisch völlig andere Sachen macht, als ich mir drüber zu rappen gewohnt bin – das fängt schon beim Tempo und den Rhythmen an. Ich habe ihn wohl vor allem mit dem Mut zu falschem Gesang überrascht.

«No 3 Nächt bis Morn» behandelt auch Missstände in der Politik und Gesellschaft – und erscheint mitten im Schweizer Wahlkampf. Auf was hoffst du für dieses Land und seine Menschen am Morgen nach den Wahlen und darüber hinaus

Ja, da ist einiges schiefgelaufen – das Album wär ja eigentlich nur ein Teil meiner Kandidatur-Kampagne gewesen, quasi als etwas beseeltere Antwort auf all die peinlichen Filmchen, die jetzt alle drehen. Dann hab ich aber vergessen, rechtzeitig das Formular einzuwerfen. Ich erhoffe mir für die Schweiz einen massiven und genuinen Linksrutsch, ich erhoffe mir mehr internationale Vernetzung, um internationale Probleme wie den Finanzmarkt, Silicon Valley und das Klima anzugehen, und ich erhoffe mir etwas mehr Einsicht, wohin das angeblich «fehlende» Geld wirklich fliesst: nämlich nicht zu Flüchtlingen und Sozialschmarotzern – die könnten diese Beträge nicht mal aufbrauchen, wenn sie alle Mercedes fuhren und Kaviar ässen –, sondern zu Grossaktionären, auf die Cayman Islands und als Zückerli in die Wandelhalle des Bundeshauses – für alle, die Männchen machen. w

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