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Kurzes oder langes Seil?
Als Profibergführer gewann ich spannende Einsichten in das Wesen von Führung bei grossen Herausforderungen: Führung findet dabei immer in rezeptfreien Räumen statt.
Es gibt nicht DAS Rezept oder die eine simple Logik, der man folgen kann. Als Bergführer führst du Deine Kunden mit dem Seil. Dessen Länge variiert mit der Schwierigkeit der Route. Das «kurze Seil» kommt auf den relativ einfachen Touren zum Einsatz. Zum Beispiel auf den Normalwegen am Grossglockner, am Matterhorn oder am Mont Blanc. Die Kunden folgen dir dabei mit 2 bis 3 Meter Abstand am gespannten Seil. Dadurch kannst du als Bergführer die ganze Zeit mit nahezu ungeteilter Aufmerksamkeit beim Kunden sein und diesen mit klaren Instruktionen schrittweise anleiten. So schaffst du zwar Normalwege, aber keine Extremrouten.
In Extremtouren führst du am «langen Seil». Der Kunde bewegt sich teilweise 40 bis 50 Meter entfernt von dir, oftmals sogar ausserhalb deines Blickfelds. Du kannst hier längst keine Anleitungen mehr geben und musst dich darauf verlassen können, dass dein Kunde, auch in Extremsituationen, alles richtig macht. Dieses Vorgehen ist nur mit viel Vorbereitung und Vertrauen sowie mit aktiver Übernahme von Selbstverantwortung durch den Kunden möglich. Denn Du bist als Bergführer in so einer Situation dafür verantwortlich, dass jemand, den du nicht siehst, und dem du keine Anweisungen geben kannst, in einer Extremsituation alles richtig macht. Als Bergführer kannst du nur den Rahmen schaffen und gegebenenfalls Unterstützung geben.
Du erkennst auch sehr schnell, wie sehr die Leistungsfähigkeit in Führungsbeziehungen von der Qualität des Miteinanders abhängt. Ich habe bemerkt, dass meine eigene Leistungsfähigkeit nicht nur von mir selbst abhing, sondern auch von meinem Gegenüber. Je mehr Vertrauen ich in die Kletterleistungsfähigkeit, die Eigenverantwortung und das Sicherungskönnen der von mir Geführten hatte, desto besser und leistungsfähiger war ich selbst. Umgekehrt merkte ich, wie viel Energie und Sicherheit meine Kunden aus dem Umstand bezogen, dass ich ihnen eine Route in bestimmten Schwierigkeitsgraden zutraute.
Führung ist nicht eine Funktion, die von einem Menschen in Richtung eines anderen ausgeübt wird, sondern vielmehr ein wechselseitiger Prozess. Führung in
grossen Nordwänden ist nur am langen Seil möglich. Zentrale Erfolgsprinzipien dafür sind, dass
· die Geführten den Wandel zu Seilpartnern vollziehen, dass sie Eigenverantwortung wahrnehmen und Freiräume nutzen, diese ihnen auch eingeräumt werden und nicht mit Anweisung und Vorgabe geführt wird;
· ein Klima des Miteinanders auf Augenhöhe herrscht, welches auf Vertrauen, Fairness, Respekt und gegenseitiger Unterstützung basiert;
· es eine Atmosphäre von Angstfreiheit und Offenheit in beide Richtungen gibt, in welcher man offen Bedenken, Befürchtungen oder Zweifel äussern, Fragen stellen oder um Unterstützung bitten kann.
Kein einziges Unternehmen bewegt sich heute noch in einem Marktumfeld, das im übertragenen Sinne einem «relativ leichten Normalweg» entspricht. Unternehmen werden nicht umhin kommen zu lernen auch in der Firma «am langen Seil» zusammenzuarbeiten, wenn sie in einer Welt von permanentem Wandel, steigender Ungewissheit und hoher Komplexität nachhaltig Erfolg haben wollen. Die Leistungsfähigkeit von Führung hängt von der Qualität des Miteinanders ab. Führung ist kein Top-DownProzess von oben nach unten. Es ist ein Wechselspiel auf Augenhöhe.
Dazu ein paar Leitgedanken:
1. Nähren Sie ein Klima des Miteinanders, das auf Vertrauen, Fairness, Respekt und gegenseitiger Unterstützung basiert, anstatt ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Führenden und Geführten zu schaffen, das dazu dient, den Anschein von Überlegenheit zu wahren bzw. überhaupt zu schaffen.
2. Kultivieren Sie eine Atmosphäre von Angstfreiheit und Offenheit, in der man Befürchtungen äussern, Fragen stellen und um Hilfe bitten kann.
3. Verabschieden Sie sich vom Entweder-oder-Denken und führen Sie mit einem Sowohl-als auch-Ansatz. Beispielsweise funktionieren Selbstorganisation und freie Zusammenarbeit dann am besten, wenn gleichzeitig klare Ziele und Grenzen vorhanden sind. Als Mitarbeiter schlüpfen Sie in die Rolle des Mit-Unternehmers und nutzen so die Möglichkeiten in vorhandenen Freiräumen.
4. Widerstehen Sie als Führungskraft in Situationen des Nicht-Wissens der Versuchung, so zu tun als ob Sie «wüssten» – Sie erzeugen damit Misstrauen und Skepsis. Ein offenes «Ich weiss es nicht!» der Führungskraft erzeugt nicht nur mehr Vertrauen, sondern vermag auch eher das kreative Potenzial des gesamten Teams für die Lösungssuche zu aktivieren. Als Mitarbeiter hören Sie damit auf von Führungskräften zu erwarten, dass sie auf jede Frage eine Antwort parat haben.
Unternehmen werden in Zukunft nur dann erfolgreich sein, wenn sie den Wandel weg von der anleitenden Mitarbeiterführung hin zur organisationsweiten Etablierung von Selbstführung und Selbstorganisation im Sinne der Unternehmensstrategie schaffen.
Rainer Petek
ist Strategic Advisor, Autor von zehn Büchern und KeynoteSpeaker. Bereits als 19-Jähriger durchstieg er die Nordwand der Grandes Jorasses – eine der schwierigsten Wände der Alpen. Als Profibergführer führte er Kunden durch Extremrouten in den Ost- und Westalpen. Seit über 20 Jahren berät er internationale Unternehmen und Manager von Deutschland bis ins digital führende Silicon Valley und hält weltweit Keynotes – bisher in 25 Ländern auf vier Kontinenten. www.rainerpetek.de
Buch zum Thema:
«Masters of Uncertainty – Risikomanagement-Strategien für Transformationale Führung», 276 Seiten, Englisch/Deutsch, Herausgeber: Rainer PETEK – Leadership & Change ISBN-13: 978-0648980988
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