seminar.inside Nr. 1, März 2021

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TRAINING I COACHING I WEITERBILDUNG_12

Kurzes oder langes Seil? Als Profibergführer gewann ich spannende Einsichten in das Wesen von Führung bei grossen Herausforderungen: Führung findet dabei immer in rezeptfreien Räumen statt.

Es gibt nicht DAS Rezept oder die eine simple Logik, der man folgen kann. Als Bergführer führst du Deine Kunden mit dem Seil. Dessen Länge variiert mit der Schwierigkeit der Route. Das «kurze Seil» kommt auf den relativ einfachen Touren zum Einsatz. Zum Beispiel auf den Normalwegen am Grossglockner, am Matterhorn oder am Mont Blanc. Die Kunden folgen dir dabei mit 2 bis 3 Meter Abstand am gespannten Seil. Dadurch kannst du als Bergführer die ganze Zeit mit nahezu ungeteilter Aufmerksamkeit beim Kunden sein und

diesen mit klaren Instruktionen schrittweise anleiten. So schaffst du zwar Normalwege, aber keine Extremrouten. In Extremtouren führst du am «langen Seil». Der Kunde bewegt sich teilweise 40 bis 50 Meter entfernt von dir, oftmals sogar ausserhalb deines Blickfelds. Du kannst hier längst keine Anleitungen mehr geben und musst dich darauf verlassen können, dass dein Kunde, auch in Extremsituationen, alles richtig macht. Dieses Vorgehen ist nur mit viel Vorbereitung und Vertrauen sowie mit aktiver

Übernahme von Selbstverantwortung durch den Kunden möglich. Denn Du bist als Bergführer in so einer Situation dafür verantwortlich, dass jemand, den du nicht siehst, und dem du keine Anweisungen geben kannst, in einer Extremsituation alles richtig macht. Als Bergführer kannst du nur den Rahmen schaffen und gegebenenfalls Unterstützung geben. Du erkennst auch sehr schnell, wie sehr die Leistungsfähigkeit in Führungsbeziehungen von der Qualität des Miteinanders abhängt. Ich habe bemerkt, dass meine eigene Leistungsfähigkeit nicht nur von mir selbst abhing, sondern auch von meinem Gegenüber. Je mehr Vertrauen ich in die Kletterleistungsfähigkeit, die Eigenverantwortung und das Sicherungskönnen der von mir Geführten hatte, desto besser und leistungsfähiger war ich selbst. Umgekehrt merkte ich, wie viel Energie und Sicherheit meine Kunden aus dem Umstand bezogen, dass ich ihnen eine Route in bestimmten Schwierigkeitsgraden zutraute. Führung ist nicht eine Funktion, die von einem Menschen in Richtung eines anderen ausgeübt wird, sondern vielmehr ein wechselseitiger Prozess. Führung in

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