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R&B MALT SICH NEU
Das Spiel der Klangfarben und Kontraste: Mit «Nishati» legt die Schweizer Künstlerin Ocevne ihr Debüt album vor und sprengt darin mal eben so die Grenzen des Rhythm and Blues.
Wir alle brauchen Momente, in denen wir uns wie Heldinnen und Helden fühlen.
Ein böses Klischee besagt, dass Rhythm and Blues (R&B) nichts weiter sei als kitschige und oberflächliche Musik, die sich ausschliesslich um substanzlose Liebesgeschichten dreht. Doch wer das glaubt, hat sich vermutlich noch nie mit der französischsprachigen R&B-Szene in Frankreich und der Schweiz auseinandergesetzt.
Seit 2019 sorgen Ausnahmekünstler wie die Musikerin Enchantée Julia, der Rapper Franglish, Oscar Emch oder auch Monsieur Nov, Sänger und Komponist vietnamesischer Herkunft, für eine radikale Neuorientierung des R&B. An ihrer Musik ist definitiv nichts Kitschiges, sie erzählt von echten Schicksalen, die unter die Haut gehen. Der Stil hat seine Wurzeln im NeoSoul von Stars wie der US-amerikanischen Sängerin Erykah Badu oder der dreifachen Grammy-Gewinnerin Jill Scott: Es ist ein leicht minimalistischer Sound, der nicht zu viel will und viel Raum für die Stimme lässt. Der perfekte Hintergrund also für persönliche Geschichten – und die gibt es auch auf dem Debütalbum «Nishati» der Künstlerin Ocevne in hoher Konzentration zu hören. Die 28-jährige Genferin zählt derzeit zu den grossen R&B-Hofnungen – in Frankreich. Das Album ist eine Hommage an Ocevnes afrikanische Wurzeln, der Name «Nishati» ist Swahili und bedeutet «Energie». Und Ocevne – ihre Schreibweise von Océane – stellt sich darin einer grossen Herausforderung: Denn «Nishati» ist ein Konzeptalbum.
Im Rap gibt es solche zwar schon lange, im R&B betritt Ocevne damit hingegen Neuland. Auf «Nishati» steht jeder Song für einen weiteren Schritt in ihrer Geschichte. «Das Album ist eine eigene Welt, und um sie zu verstehen, muss man es in der richtigen Reihenfolge hören», erklärt die Sängerin. Insbesondere in Zeiten von Playlists eine mutige Ansage. Nur hätte das Album für sie anders einfach nicht funktioniert: Vergangenes wird Stück für Stück aufgearbeitet, um es ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Die Wunden scheinen zwar sehr tief, aber sie werden sich schliessen. Ocevne nutzt ihre Musik, um Themen anzusprechen, die man im R&B-Genre nicht erwartet. Da geht es um Männer, die junge Körper zerstören («Jeux d’Enfants»), um geliebte Menschen, die plötzlich nicht mehr da sind, und die Erinnerung an diese, die das Gefühl eines «Friedhofs des Lächelns» («Boulevard Magenta») vermittelt. Ocevne blickt auf ihren Werdegang zurück, auf die Zeit, in der sie als junge Frau ihren Platz in einer Welt sucht, die wenig Rücksicht auf sensible Menschen nimmt («G ot It»). Sie erforscht die verschiedenen Seiten ihrer Persönlichkeit («Plan A») und singt über Dämonen, die sie tagtäglich verfolgen.
Bereits in «Lucy», dem ersten Track des Albums und gleichzeitig die erste Single, schliesst sie mit ihrer Vergangenheit ab. Hier auch der grosse Unterschied zu ihrer letzten EP namens «Wingu». Dort sprach sie über toxische Beziehungen und die Probleme, die sich daraus entwickeln – jetzt, in «Nishati», nimmt Ocevne das Zepter selbst in die Hand: «Es ist, als hätte ich alles zerstört und neu angefangen», sagt sie. Und so gibt es auf dem Album auch durchaus positive Seiten: «Happy Jersey» etwa ist ein Geburtstagssong, der den Erfolg nach einem steinigen Weg feiert. Generell ist das Album in zwei Abschnitte unterteilt: «Im zweiten Teil von «Nishati» geht es um all das, was mich zur Frau gemacht hat, die ich heute bin», erklärt die Sängerin, die von sich selbst sagt, sie hätte lange gebraucht, um ihren eigenen Weg zu fnden. «In meinen ersten EPs wusste ich nicht, wo ich eigentlich hinwollte. Dann wurde mir klar, dass R&B schon immer mein Zuhause war. Ich hatte Lust, dieses Genre voll zu erforschen.»
Erforschen bedeutet für Ocevne auch hinterfragen: Sie lässt sich keine Grenzen aufzwingen, wagt Neues und baut Musikstile wie Jersey, Gospel, Two-Step, Bossa Nova und sogar Rap in ihre R&B-Beats ein. Dazu passt, dass sie all ihren Veröfentlichungen einen Namen in Swahili gibt. Als Tochter einer kongolesisch-burundischen Mutter und eines Schweizer Vaters lebt Ocevne ihre kulturelle Diversität gerne aus und feiert ihre Wurzeln. «Wingu» bedeutet «Wolke», und «Nishati» eben «Energie». Ihr Konzept wird auch durch das Albumcover widergespiegelt: Verschiedene Facetten der Persönlichkeit von Ocevne werden in einem Schaufenster ausgestellt, die Künstlerin öfnet sich in diesem Werk völlig. Allerdings tut sie das nicht allein. Mit Tuerie fand sie einen Co-Künstler, der ähnliche Emotionen ebenfalls künstlerisch aufarbeitet. Der französische Rapper des Labels Foufoune Palace brachte ihr in der Zusammenarbeit seine Vision, seine Ideen und seine Einfüsse näher und holte so das Beste aus ihr heraus. «Ich wollte eine Person fnden, der ich vertraue», erklärt Ocevne. «Eine Person, die sich in mich hineinversetzen kann und mir bei Dingen helfen kann, die ich allein nicht hinkriege.»
Es ist, als hätte ich alles zerstört und neu angefangen.
Janet Jackson in Dauerschleife
Symbolisch für die Zusammenarbeit steht «Nobody», ein Song mit zwei komplett unterschiedlichen Dynamiken – quasi eine Metapher für das ganze Album. «Das Album zeigt eine Seite von mir, die man noch nie gesehen hat – experimenteller und selbstbewusster, ein echter Egotrip. Ich rappe sogar zum ersten Mal in meinem Leben!», sagt Ocevne. «Ich fand das befreiend. Wir alle brauchen Momente, in denen wir uns wie Heldinnen und Helden fühlen. Als wären wir die Besten der Welt. Das gibt uns Selbstvertrauen.» Um seine Ideen in Songs zu verwandeln, vertraute das Duo auf das Know-how des Produzenten BlackDoe, ein weiterer Schlüssel zum Erfolg von «Nishati». BlackDoe war überzeugt, dass Ocevne einen vom amerikanischen R&B beeinfussten, gleichzeitig jedoch ganz eigenen Stil abliefern kann. Und so liess sich Ocevne von zahlreichen US-amerikanischen Vorbildern inspirieren: von Brandys Gesangsharmonien, Aaliyahs Gespür für den Chorus, Kehlanis Wärme in der Stimme und SZAs Selbstvertrauen und Kühnheit. Ihre Stimme wird von Energie, Gefühlen und Bildern getragen.
Apropos Bilder: Während der Arbeit an «Nishati» liefen in Dauerschleife Videoclips im Hintergrund, insbesondere die von Janet Jackson und von Missy Elliott. Die Clips waren voller Übergänge und Stileffekte, radikal in ihrer Form, aber auch in ihren Bildern. Ocevne war beeindruckt. «Wenn ich an einem Stück arbeite, stelle ich mir immer einen Film dazu vor», erklärt sie. «Je nachdem, was produziert wird, habe ich bereits eine visuelle Vorstellung davon. Für die Topline von «Seule (Again)» zum Beispiel hatte ich ein Video von einem kleinen Kind mit Brille im Kopf, das in einem Club tanzt. Für «Nasty» waren es Konzerte von Janet Jackson Wir dachten uns alle, diese Frau ist echt krank! Einfach unglaublich. Ich wollte mich davon inspirieren lassen.»
Einige gehen zum Arzt, ich mache lieber Songs
So kam es also: Ocevne wollte live so viel Ausstrahlung haben wie Janet und so faszinierende Musikvideos und Alben produzieren wie Missy. Zwei Künstlerinnen, die es mit ihrer völlig authentischen Art bis nach ganz oben geschafft haben.
Instagram : @ocevneofficiel