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AFSANAS REISE

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PLATT STATT MATT

PLATT STATT MATT

Afsanas große Reise

Sie ist die beste afghanische Radrennfahrerin, die es bisher gab. In ihrem Geburtsland wurde AFSANA NAWROZI, 18, bedroht, jetzt schöpft sie in den USA neue Kraft für die Frauen in ihrer Heimat.

Text JAMES STOUT Fotos JASON PERRY

„Ich sage mir immer wieder: ‚Afsana, du bist stark‘“, so Nawrozi, die im Jänner in der Nähe von Sedona, Arizona, fotografiert wurde.

Neue Welt: Afsana kennt die Trails in Sedona nach wenigen Monaten in- und auswendig.

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edona liegt im US-Bundesstaat Arizona. Das muss man nicht wissen, aber man kann. Wenn man sich fürs Mountainbiken interessiert, dann weiß man das sogar ziemlich sicher: Das 10.000-EinwohnerNest am Fuß des Colorado-Plateaus, eine Autostunde nördlich von Flagstaff, ist für Mountainbiker so etwas wie der Arlberg für Skifahrer, man muss einmal hier gewesen sein und sich einmal über die Trails runtergeworfen haben. In der Regel haben einen die Trails dann nämlich auch mindestens einmal abgeworfen.

Afsana Nawrozi kam im Oktober 2021 nach Sedona. Sie hat sich mehr blaue Flecken geholt als die meisten anderen, so viele, bis keine neuen mehr dazukamen, weil sie alle Trails so gut beherrschte, dass sie Berg und Pisten einfach nicht mehr abwerfen konnten. Und das ist gar nicht das Verwunderlichste an dieser Geschichte: Afsana Nawrozi ist erst 18 Jahre alt. Sie ist eigentlich Straßen-Radrennfahrerin. Und aus Afghanistan. Jetzt steht sie in den Red Rocks von Sedona, lehnt sich an ihr Mountainbike und sagt: „Zu Beginn bin ich dort ständig gestürzt. Jetzt verstehe ich gar nicht mehr, was ich so schwierig fand. Läuft doch ganz entspannt!“

Es ist gerade sehr viel entspannt im Leben von Afsana, dementsprechend locker führt sie uns über ihren HighschoolCampus in Sedona, und doch wird immer wieder klar, dass diese Lockerheit und die Entspannung hart erkämpft sind.

Sie erzählt von der Frauenfeindlichkeit, mit der sie in ihrem Geburtsland zu kämpfen hatte, von den Widerständen, die sie als weibliche Sportlerin zu überwinden hatte. Irgendwann deutet sie auf die Narbe auf ihrer Schulter. Sie stammt von einer Schlüsselbein-Operation, der sie sich nach einem Zusammenstoß mit einem Auto unterziehen musste, und sie sagt, dass sie keine Sekunde glaubt, dass das ein zufälliger Unfall war.

Als Radfahrerin gehörten Belästigungen und Anfeindungen zu ihrem Alltag in Afghanistan, jede Ausfahrt fühlte sich wie eine Mutprobe an. Afsana erzählt, dass sie einmal in Bamyan an einem nationalen Rennen teilnehmen wollte. Nach einer Trainingseinheit lauerte ihr dort eine Gruppe Männer auf, die sie mit Steinen und Schlamm bewarfen. Bamyan ist nämlich nicht nur die Radsport-Hauptstadt Afghanistans, sondern eben auch eines der Zentren der Taliban, und in deren Köpfen ist die Vorstellung, dass Frauen auf Rädern um die Wette fahren dürfen, nicht so normal wie in der restlichen Welt. „Ich hatte furchtbare Angst und weinte“, sagt Afsana Nawrozi heute. „Aber am nächsten Tag nahm ich am Rennen teil. Ich sage mir einfach immer: ‚Afsana, du bist stark.‘“

Die Männer, die sie damals mit Steinen beworfen hatten, weil sie sich als Mädchen erdreistet hatte, Fahrrad zu fahren, waren Taliban. Die ultrakonservative politische Kraft kontrolliert Afghanistan seit dem Jahr 2021 wieder – ihr Heimatland, das sie sehr vermisst, in dem ihre

In Afghanistan bewarfen sie Männer mit Steinen, weil sie als Mädchen Fahrrad fuhr.

Eltern, ihre sechs Geschwister und ihre Freunde leben, aber in das sie nicht zurückkann. Eine Rückkehr wäre zu gefährlich für sie. Und ihre Radkarriere wäre mit einem Schlag zu Ende. Und wohl nicht nur die, sondern jede Form von Zukunftsaussicht, die man als selbstbestimmte Frau haben kann.

Ihr Motor: Ehrgeiz und Idealismus

Nawrozi ist selbstbestimmt, ohne jeden Zweifel. Ingenieurin möchte sie einmal werden, sagt sie, „oder Fahrradprofi“. Beides ist möglich, und auch für Zweiteres hat sie alle Voraussetzungen: Seit 2016 trainiert sie sehr zielstrebig, und sie gilt schon seit ihren ersten Rennen als außerordentlich talentiert. Nur kurz nachdem sie begonnen hatte, den Radsport wirklich ernst zu nehmen, belegte sie bei ihrem ersten Rennen den vierten Platz. Mit fünfzehn wurde sie Mitglied des afghanischen Rad-Nationalteams. Sie trainierte allen Taliban-Widrigkeiten zum Trotz im Trainingszentrum rund um Bamyan und stellte dort jede Menge Streckenrekorde auf. In Afghanistan war sie also nicht irgendwer, darum ist es also nicht ganz von der Hand zu weisen, dass ihr Zusammenstoß mit dem Auto 2019 vielleicht wirklich mehr als bloßer Zufall war. Hatte wirklich irgendein ultraorthodoxer Talib ein Exempel an der Radfahrerin statuieren wollen?

Falls es böse Absicht war: Um ein Haar wäre diese auch erfolgreich gewesen. Denn auch wenn Afsana körperlich sehr rasch wieder fit war, bei dem Unfall ging ihr Fahrrad zu Bruch. Ein neues Bike konnte sich aber weder sie noch ihre Familie leisten. Die Karriere schien deshalb zu Ende, bevor sie außerhalb von Afghanistan noch richtig begonnen hatte. Dass Afsana heute auf dem Bike sitzt, liegt an Ahmad Farid Noori, dem Gründer der Non-Profit-Organisation MTB Afghanistan: Er erkannte ihr Potenzial und organisierte ein neues Rad.

In ihrer neuen Heimat Arizona gibt es jede Menge Rennen, bei denen sie sich beweisen kann, besonders interessiert sie der Trend zum Long-Distance-Gravel- Racing. „Ich fahre nicht, um zu gewinnen. Ich fahre, um Biking für Frauen in Afghanistan zu etwas ganz Normalem zu machen!“, sagt sie. Es ist eine Mischung aus sportlichem Ehrgeiz und aktivistischem Idealismus, die sie antreibt. „In Afghanistan ist man zuallererst Aktivistin und dann erst Bikerin. Man muss für seine Leidenschaft einstehen und kämpfen!“

Wie steinig und manchmal verschlungen Nawrozis Lebensweg verläuft, zeigt auch ihre Reise nach Sedona. Vergangenen Sommer erhielt sie die Nachricht, dass sie in Arizona einen Schulplatz an ihrer Traumschule bekommt. Sie machte den ersten Flug ihres Lebens in die pakistanische Hauptstadt Islamabad, um sich ihr Visa für die USA abzuholen. Nach ein paar Tagen hätte es wieder nach Kabul zurückgehen sollen, um sich für das folgende Schuljahr und dann für die Uni vorbereiten zu können. Doch es kam anders. „Als ich losgeflogen bin, war noch alles normal“, erzählt sie heute. Doch kaum war sie in Pakistan angekommen, änderte sich die Lage dramatisch. Die ganze Welt war Zeuge, als im August 2021 die Taliban innerhalb weniger Tage das Land überrannten. Auch Afsana bekam das Drama vor dem TV-Gerät bei ihrer Gastfamilie in Pakistan mit. Sie hatte Angst um ihre Heimat, um ihre Zukunft. Und obwohl ihr alle Angehörigen ausdrücklich sagten, sie solle in der Ferne bleiben, wollte sie eigentlich zurück zu ihrer Familie. Doch es ging nicht mehr, die Taliban schlossen nämlich die Grenze zu Pakistan. Afsana saß also mit einem

„In Afghanistan ist man zuallererst Aktivistin, dann Bikerin.“

Optimistischer Blick nach vorn: Afsana Nawrozi hat sich wunderbar in ihrer neuen Heimat in Arizona eingelebt.

ablaufenden Visa in einem anderen Land fest. Der Rückweg nach Hause war versperrt, der nächste Schritt in die USA nicht möglich: Die US-Einreisebehörden waren mit der Flut der Visa-Anträge von Flüchtenden aus Afghanistan heillos überfordert.

Zu dieser Zeit traten wir in Kontakt, wir schickten einander E-Mails, während Afsana in Pakistan festhing. Es kann ihr damals nicht gut gegangen sein, zu viel war damals komplett unsicher. Ich lernte Afsana dennoch als grundpositives Mädchen kennen. Als Mädchen, das wirklich jede Nachricht mit einem Smiley beendete. 90 Tage blieb Nawrozi in Islamabad. Sie verbrachte viel Zeit bei ihrer Gastfamilie, aber hin und wieder schlich sie sich raus, um laufen zu gehen. Sie nahm sogar an zwei Marathons teil.

Die meiste Zeit jedoch verbrachte sie mit Warten: auf eine Rückmeldung der amerikanischen Botschaft, wie es um ihren Pass und ihr Visum stünde, und natürlich auch auf Nachrichten von ihrer Familie. Im Oktober hielt sie endlich das ersehnte Visum in der Hand. Ein paar Tage später war sie unterwegs nach Chicago und dann weiter nach Arizona, nach Sedona. Neue Kultur, neues Schulsystem

War es richtig, nach Sedona zu gehen, obwohl ihre Familie in Afghanistan bleiben musste? Afsana denkt sehr viel darüber nach. Sie wurde ein paar Jahre nach dem Sturz der ersten Taliban-Diktatur geboren. Was es heißt, unter dem Regime der ultraorthodoxen Hardliner zu leben, weiß sie also nur aus Erzählungen, Erfahrung mit Diskriminierung hat sie aber trotzdem. Afsana und ihre Familie sind nämlich Hazara, ihre Religion ist zwar ebenfalls der Islam, sie bilden aber eine ethnische Minderheit in Afghanistan. Ihre Familie hatte es in Afghanistan immer schwer. Das hat sie geprägt und ihren Kampfgeist geweckt.

Und den braucht sie auch heute. Die neuen Herausforderungen in Afsanas Leben haben nichts mit Diskriminierung, Verfolgung und Gewalt zu tun, schwierig sind sie aber trotzdem: Sie muss den Übergang in ein anderes Schulsystem schaffen, in eine andere Kultur, und sie muss akademische und sportliche Karriere in Balance halten. Zum Glück hat sie dabei Unterstützung: Die ehemalige Profi- Bikerin Starla Teddergreen und ihr Ehemann Gino Zahnd besorgten Afsana neue Räder, achteten auf sie und unterstützten sie bei der Eingewöhnungsphase. Sie mieteten sogar ein Ferienhaus nahe Sedona, um auf den Trails gemeinsam mit ihrem Schützling zu biken.

Mittlerweile bekommt Afsana mehr Support, als sie sich erträumt hätte. Sie hat sich wunderbar in ihrer neuen Heimat eingelebt. Manche Dinge findet sie dennoch gewöhnungsbedürftig. Sie hatte nie ein eigenes Zimmer, deshalb ist es für sie manchmal unangenehm, ohne ihre Schwestern im selben Raum zu schlafen.

Welche Rennen sie momentan anpeilt? „Zu viele!“, sagt sie und lacht. Sie hat jetzt so viele Straßen-, Mountainbikeund Gravel-Events zur Auswahl, dass sie gar nicht alle in ihre Ferien passen.

Diese Vielseitigkeit hat vielleicht mit ihrem Idol zu tun, dem dreifachen Weltmeister Peter Sagan. Der ist berühmt für seine Sprints, seine technischen Skills, aber auch dafür, wie er auf seinem Straßenrad Treppen auf und ab fährt. Er ist auch berühmt für sein „Why so serious?“Tattoo und seine Fähigkeit, Überlegenheit und Lockerheit zu kombinieren. Er nimmt keinen Rückschlag zu ernst und lässt sich auch nicht vom Erfolg verändern. Das bewundert Afsana an ihm. „Baraka buri“ war eine der ersten Phrasen, die Afsana mir in ihrer Muttersprache Dari beibrachte. Das bedeutet so viel wie „Los geht’s!“ und scheint eine Art Lebensphilosophie für sie zu sein, aber auch ein Aufruf an junge Frauen, ihr Leben so zu leben, wie sie das möchten – gegen alle Hindernisse. Wo Nawrozis Reise hingeht, weiß sie noch nicht, aber das ist auch okay für sie. Denn egal wohin dieser Weg hinführt: Ihr Bike wird sie begleiten.

„Ich fahre, um Biking für Frauen in Afghanistan zu etwas ganz Normalem zu machen.“

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