Servus in Stadt & Land Deutschland 10/13

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10/2013 &

in Stadt & Land

Schwäbische Rarität späte beeren  & haselnuss &  naturapotheke: beinwell  &  rezepte fürs Frühstück  &  die welt der Moose

Schneiderfleck von der Alb

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E i nfac h

.

Gut .

Leben

Ums Eck an der Enz

Handwerkskunst in Vaihingen

2

Oktober 10/2013

EUR 3,90

Ausflug ins Glück Geschichten vom Geniessen

Der Gravurmeister von Baden-Baden

&

Ein Paradies am Bodensee

&

Allgäuer Strohhüte

>


24

58

76

Oktober

Natur & Garten

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Küche

Wohnen

10 Magische Moose

38 Die Nuss der Nüsse

66 Leben im Jagdhaus

16 Lindauer Paradies

42 Gipfel der Genüsse

72 Fundstück

24 Kinderleichter Laubritter

50 Aus Omas Kochbuch

Sie sind die ältesten Landpflanzen der Erde. Spaziergang durch eine faszinierende Miniaturwelt.

Wolfgang Seethaler hat inmitten von Streuobstwiesen am Bodensee einen prächtigen Herbstgarten geschaffen.

Mit einem selbst gebauten Holzrechen macht Gartenhilfe Spaß.

28 Späte, wilde Früchte

Sie verlängern die Erntezeit im Herbst bis zum ersten Frost.

122 Der Igel macht winterdicht Jetzt ist der Nachtwandler auf Herbergssuche und futtert sich Fett an.

4 Servus

Haselnüsse sind vor allem aus Süßspeisen kaum wegzudenken, und sie sind voll von Vitaminen und Ölen.

Das malerische Arberland ist voller kulinarischer Verführung. Und ja, auch der Pichelsteiner ist von dort.

Schneiderfleck von der Alb.

52 Hausgemacht

So werden Salz- und Senfgurken ­eingelegt. Ein pikanter Vorrat.

58 Guten Morgen!

Frühstücken mit feinen Flocken, frischer Milch und knusprigen Körnern.

Das Ehepaar Kirchner hat in Schönau an der Brend ein altes Haus zu einem Schmuckstück gemacht.

Schmückende Liliput-Blumenvasen aus Weinstöpseln.

74 Starke Spitze

Aus Omas handgemachten Deckchen lassen sich ganz einfach zierliche Körbe formen.

76 Zum Kugeln schön

Wie man aus Kürbissen Dekoratives für daheim zaubert.

80 Genussvoll baden

Mit Fundstücken und Neuem im Bad eine Oase der Ruhe schaffen.

zusatzfotos cover: eisenhut&mayer, julia rotter

Inhalt 2013


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fotos inhalt: katharina gossow, eisenhut&mayer, julia rotter, getty images, juniors bildarchiv, sebastian gabriel

Standards 104

Land & Leute 86 Meisterhaft behütet

In Lindenberg im Allgäu sorgt eine Strohhutmacherin dafür, dass ihr Handwerk lebendig bleibt.

104 Die Kunst der Kontraste

Der Baden-Badener Gravurmeister Klaus Büntgen-Hartmann bringt Gläser und Trophäen zum Blühen.

118 Klöppel küsst Glocke

Die Schmiede der Familie Wensauer im niederbayerischen Anzenkirchen lassen Glocken erklingen.

126 Alles außer Hochdeutsch

Wo der Wein das Wasser küsst. Wo altes Fachwerk mit jungen Ideen flirtet. Zu Gast in Vaihingen an der Enz.

Brauchtum 90 Geheimnisvolles Leuchten Kunstvoll geschnitzte Kürbisse mit Blumen- und Märchenmotiven – so feiern die Kinder im fränkischen Muggendorf ihr Erntedankfest.

110 Die kleine Wein-Lese

Reif sind die Trauben, fröhlich die Feste, süß und säuerlich die ­Geschichten rundherum. Eine ­Begegnung mit dem schlauen Karl, beschwipsten Frauen und ­Panschern in der „Strafgeige“.

150 Bildschöner Trachtenreigen

Warum nach der Gründung des Königreichs Bayern plötzlich Lederhosen, Leibkittel & Co getragen wurden.

3 Vorwort 6 Briefkasten, Regionale Ortsnamen 7 Mundart 8 Servus daheim 22 Schönes für draußen 26 Der Garten-Philosoph 32 Natur-Apotheke: Beinwell 34 Unser Garten, Mondkalender 54 Gutes vom daheim: Rosensenf 64 Schönes für die Küche 84 Schönes für drinnen 100 Michael Köhlmeier:

Der Wolfshunger

138 Heinrich Steinfest: Nackte Beine 142 ServusTV: Sehenswertes im Oktober 148 Feste, Märkte, Veranstaltungen 154 Impressum, Ausblick, Adressen Titelfoto: Philip Platzer

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Einlegen


Pikanterie im Glas Wenn der Nachschub aus dem Gemüsegarten versiegt ist, sind selbst eingelegte Gurken willkommene Vitaminspender. Und sie schmecken herrlich frisch. Text: Andreas Oberndorfer Fotos: Eisenhut & Mayer

B

ereits die Menschen in der Jungsteinzeit wussten, was einen Sinn hat – und gut schmeckt: Sie legten ihr Gemüse ein. So bleibt es länger frisch. Bei den Gurken schwören Könner auf zwei Methoden: das milchsaure Einmachen und das Konservieren in Essig. Dabei werden­Keime abgetötet und die Gurken­für gut ein Jahr haltbar ­gemacht. Nach dem Öffnen sollte man die pikanten Delikatessen aber im Kühlschrank aufbewahren und zügig aufbrauchen. Weil die Früchte in rohem Zustand ­eingelegt werden, bleiben alle Vitamine, En­ zyme und Mineralstoffe erhalten. Die milchsaure Vergärung (siehe Salz­ gurken) erhöht sogar den Vitamingehalt. Während der Gärung bilden sich vor allem Vitamin B12 und Enzyme, die positiv auf den Stoffwechsel wirken. Außerdem wird das Gemüse bekömmlicher, weil ein Teil

Senfgurken Zutaten für 4 Gläser (0,5 l) 2 kg große Feldgurken je ca. 50 g Estragon und Dill 3 EL gelbe Senfkörner 1 l milder Essig (ca. 5 % Säure)

Zubereitung 1. Gurken schälen, der Länge nach vierteln. Mit einem Kaffeelöffel Kerne entfernen, die Viertel in 10-cm-Stücke schneiden. 2. Mit den Gewürzen auf vier Gläser verteilen und mit Essig bedecken. 3. Gläser verschließen, in einen großen Topf mit heißem Wasser (bis auf Höhe der Glasdeckel anfüllen) stellen, Wasser auf 82 °C erhitzen (mit Bratenthermometer kontrollieren) und die Gurken 25 Minuten lang pasteurisieren. Kühl lagern.

der Kohlenhydrate zu Milchsäure abgebaut wird. Tipp: Für Senfgurken verwendet man große, geschälte Feldgurken, für Salzgurken­ kleinere Warzengurken. Diese müssen mehrere Male bis zur Mitte des Kerngehäuses eingestochen werden, damit die Salzlösung gut eindringen kann und die Keime im Inneren unschädlich macht. 3

Salzgurken Zutaten für 4 Gläser (0,5 l) 2 kg große, feste Gurken (10–15 cm) 3 l Wasser Salz 2 TL Pfefferkörner 1 mittelgroße Zwiebel, grob geschnitten 1 EL geriebener Meerrettich 2 Zweige Estragon 2 Stämmchen Dill sonstige Gewürze nach Lust und Laune

Zubereitung 1. Die Gurken gut waschen, einzeln trock­ nen, mit einer Nadel mehrmals einste­ chen. Mit allen Zutaten außer Wasser und Salz in einen mit kochendem Wasser gereinigten Steintopf eng schichten. 2. 150 g Salz im Wasser auflösen und die Gurken damit übergießen. 3. Die Gurken mit einem Teller bedecken und diesen beschweren, sodass die Gurken zur Gänze unter der Wasser­ oberfläche liegen. Im Keller kühl stellen. 4. Nach zwei Wochen die Gewürze entfernen. Falls sich Schimmelbildung zeigt, jetzt die Gurken abspülen und in eine neue Salz-Gewürz-Lösung legen. Nach einer Woche die Gewürze wieder entfernen. 5. In mit kochendem Wasser sterilisierte Gläser füllen und gut verschließen. Kühl lagern.

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besser wohnen

In Glück baden

Das Badezimmer ist unser liebster Rückzugsort. Aus Fundstücken und Neuem haben wir unsere persönliche Wohlfühl-Oase geschaffen. Redaktion: Alice Fernau Mitarbeit: Michaela Gabler, Laura Winkler Fotos: Katharina Gossow

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Blaue wunder Linke Seite: Nachdem die Wand himmelblau gestrichen wurde, haben wir aus einer alten ­Leiter und Brettern ein Regal mit Stauraum für Badutensilien gebaut. Für den Wannenvorleger nimmt man Rundhölzer aus Buche, schneidet sie auf 50 cm ab und durchbohrt sie an beiden Enden. Dann zieht man durch die Löcher ein langes Lederband, wobei zwischen den Rundhölzern Abstandsknoten gemacht werden. Fotos oben: Bunte Buchstabenseifen auf der Etagere sind ein fröhliches Accessoire. Das Segelboot von Grimm’s (ab 19,95 Euro) in Hochdorf/Baden-Württemberg ist ein schönes Spielzeug und beweist außerdem SeifenschalenQualitäten. Davor liegt die Gärtnerseife von Helga Trost Seifenmanufaktur (7,50 Euro) im niederbayerischen Laberweinting.

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Helle Freude Fotos oben und rechts: Die Strickhandtücher haben wir von Auzinger Textiles im oberösterreichischen Rohrbach (ab 28,20 Euro). Das ­Altholz-Eisen-Regal von Kunsttischler Daniel Schäfer ist viel Platz für unsere BadezimmerRequisiten wie Bürsten, Vorratsdosen und Handtücher. Fotos unten: Auf handgemachten Keramiktellern von Marianne Seitz in Wien (ab 16 Euro) finden der Rasierpinsel und verschiedene Seifen ihr Plätzchen. Die gelbe Tischleuchte „Mini Sophie“ ist von Frau Maier aus dem schwäbischen Esslingen (105 Euro).

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Heilige ruhe Fotos oben: Den schönen Lavendelkorb von Walter Friedl & Irene Friedl-Gschiel (35 Euro) gibt es im neuen Servus-Onlineshop www.servusmarktplatz.de. Am Spiegel hängt eine Kappe aus Wiener Geflecht. Fotos links und unten: Für den Badezimmer­ vorhang haben wir einen weißen Duschvorhang mit Leinen vernäht, Ösen durch beide Textilien geschlagen und Punkte aus Stoffresten mit Bügelvlies auf der Vorderseite fixiert. Dann mussten wir nur noch ein 8 mm starkes Seil durch die Ösen schlingen und das dekorative Stück auf die Stange hängen. Diese haben wir übrigens an ­einer Seite fix an die Wand montiert, auf der ­anderen Seite liegt sie einfach auf der obersten Sprosse der Leiter auf. Hinter der Armatur liegen rustikale Leinenhandtücher. 3

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brauchtum


Bunte Blumen, eine Krone aus ­Getreide und kunstvoll geschnitzte Kürbisse – liebevoll haben die Muggendorfer ihren Festwagen für den Erntedankumzug geschmückt. Kleines Foto: die Mädchen vom Ort in ihrer traditionellen ­fränkischen Tracht.

Geheimnisvolles

Leuchten

Kunstvoll geschnitzte Kürbisse mit Blumen- und ­Märchenmotiven – so feiern die Kinder im fränkischen ­Muggendorf still und stolz ihr Erntedankfest. Text: Stephanie Lahrtz Fotos: peter von Felbert

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s ist ein Erntedankumzug der besonderen Art: Ganz fest halten die Mädchen und Buben die Griffe ihrer blumengeschmückten Leiterwagen mit den kunstvoll verzierten Kürbissen darin. Stolz und ernst und auch ein bisschen aufgeregt leuchten ihre Gesichter im geheimnisvoll orangen Schein der beleuchteten Kugeln in ihren Wägelchen. Während die Blaskapelle den Takt vorgibt, greifen die Hände nun fester zu. Denn jetzt heißt es besonders gut aufpassen: Die schmale Straße durch das kleine Örtchen Muggendorf wird etwas abschüssig, und dann wartet auch noch die letzte Kurve hin zur Festwiese! Puh, geschafft. Weder die kostbare Fracht verloren, noch einem der mitfiebernden Verwandten über die Füße gefahren.

Auf der Festwiese angekommen, erhält jedes Kind als Anerkennung und vielleicht auch ein bisschen zur Beruhigung der Nerven ein Säckchen mit Süßigkeiten. Mit einem Schokoladebonbon im Mund und großen Augen genießen dann alle das prächtige Feuerwerk vor dem alten Fachwerkrathaus. Es ist der herrliche Abschluss eines wunderschönen Tages! Eine Liebe, die Generationen verbindet

Keine Frage, für viele der kleinen wie auch großen Muggendorfer ist ihr Erntedankfest mit dem abendlichen Kinderumzug der ­Höhepunkt des Jahres. „Schon als Kinder waren wir immer mit Herzklopfen dabei – und genauso stolz auf unsere Schnitzkunst wie der Nachwuchs heute“, erinnert sich ➻

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Aufwendig geschnitzte Motive schmücken die Kürbisse. Damit Hannahs Schmetterling beim abendlichen Kinderumzug schön geheimnisvoll leuchtet, wird im ausgehöhlten Kürbis eine Kerze angezündet.


Beim Umzug in Muggendorf mit einem geschmückten Wagen dabei zu sein ist Ehrensache – auch für die umliegenden Dörfer (Bild links). Die Musikkapellen spielen auf, die Trachtlerinnen tragen Erntedank­ körbchen mit Blumen und Früchten.

Grundschullehrerin Heidi Wehrfritz. „Sogar als wir zwischenzeitlich woanders gewohnt haben, sind wir zum Kürbisfest ­immer nach Muggendorf gekommen.“ Auch Inge Wunder, ebenfalls eine echte Muggendorferin, hat das „Kürbisvirus“ nicht mehr losgelassen. Folgerichtig hat sie ihre Leidenschaft beizeiten an ihre eigenen Kinder weitergegeben. Solch ein stimmungsvolles Fest will natürlich vorbereitet sein. Ab Ende September dreht sich in Muggendorf im Herzen der Fränkischen Schweiz alles um den Kürbis. Damit hier keine falschen Vorstellungen aufkommen: Die Kürbisbegeisterung im idyllischen Örtchen im Wiesenttal hat rein gar nichts mit Halloween zu tun, sondern

ist über viele Jahrzehnte gehegte Tradition, lebendig, lange bevor die Halloween-Welle von jenseits des Atlantiks nach Deutschland und Franken schwappte. In der Dorfchronik wird von einem 1863 geborenen Johann Georg Seybert berichtet, der seinen Enkeln vom Kürbisfest erzählte. Schon damals liefen die Kinder mit ihren von Kerzen erleuchteten Kürbissen, begleitet von Musik, durchs Örtchen. Deshalb werden im Wiesenttal auch keine gruseligen Fratzen mit Zahnlückengrinsen, sondern aufwendige Märchenbilder, Blumensträuße, Blütenranken oder auch mal das Wappen des Lieblingsfußballvereins geschnitzt, jeweils umgeben von einem kunstvoll ausgearbeitetem Lichterkranz. Dann

kann das Motiv so richtig schön leuchten, wenn die in den ausgehöhlten Kürbis gestellte Kerze angezündet wird. Traditionspflege in der Grundschule

Damit die Kürbisschnitz-Tradition erhalten bleibt, ist diese Kunst in Muggendorf sogar Teil des Heimatkunde-Unterrichts in der Grundschule. „Als wir noch eine Volksschule bis zur achten Klasse hier in Muggendorf hatten, war das Schnitzen immer Sache der Großen“, erzählt uns Heidi Wehrfritz. Doch dann wurde die Schule verkleinert – und da geriet die alte Tradition ins Abseits. Denn die Lehrer hatten Sorge, dass die neunjährigen Mädchen und Buben das nicht hinbekommen oder sich gar verletzen wür➻

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Noch schnell den Hut zurechtrücken, dann kann es ­losgehen (Bild links). Traditionell passieren die Wagen die schmucke Dorfkirche (Bild oben). Wertvollstes Teil der fränkischen Tracht ist das fein bestickte Schultertuch – für große wie für kleine Trachtlerinnen.

den. Doch ein Muggendorfer Kürbis­fest für Kinder ohne von Muggendorfer ­Kindern geschnitzte Kürbisse? Undenkbar. Selbst in wirklich schlechten Zeiten gab es das Fest, meist wurden dann Rüben statt Kürbissen verwendet. Also probierte man es dann doch mit den „Kleinen“. Die stellten sich ebenso geschickt an wie die Großen und waren ganz begeistert von ihrer neu­en Wichtigkeit. Meist verzieren sie nun nicht nur einen Kürbis für den Umzug. Einmal in Schwung, wird noch ein Kunstwerk für die Toreinfahrt oder die Haustreppe geschnitzt oder eine kleine Kugel für das Dreirad oder den Roller der jüngeren Geschwister bearbeitet. Vor dem abendlichen Umzug der Kinder zeigen Heidi Wehrfritz und ihre Viertklässler gerne auswärtigen Besuchern jedes Alters, wie denn nun so ein Kürbis geschnitzt wird. Erstaunt beobachten wir, wie unter den

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­ msichtigen und sehr geschickten kleinen u Händen ein Märchenschloss in der harten Schale des Kürbisses entsteht. Die Nachbarorte mischen fleiSSig mit

Kein Wunder, dass bei so viel Engagement der Kinder irgendwann auch die Erwach­ senen nicht mehr nur ein bisschen beim Schnitzen helfen und am Sonntagvormittag in ihrer schönen alten Kirche Gott für die dort üppig arrangierten Gaben aus Garten und Feld danken wollen. Deshalb haben die Großen vor gut 60 Jahren erstmals für den Nachmittag einen eigenen Erntedankumzug durch das Dorf organisiert. Was zu Beginn noch sehr überschaubar mit wenigen Och­ sengespannen und einigen Blaskapellen war, ist heute ein Anziehungspunkt für die ganze Region. Ein richtiger Augenschmaus wird der Umzug in erster Linie wegen der gemäch­

lich mitrollenden Erntedankwagen. „Viele Dörfer rund um Muggendorf richten solch einen Wagen her, jeweils mit einem eigenen traditionellen Thema. Schaut her, Neudorf kümmert sich um Brot und baut auf dem Wagen einen alten Backofen auf. Birken­ reuth dekoriert mit Zwetschgen, andere Orte legen farblich aufeinander abgestimm­ te Dreiecke aus allen möglichen Obst- und Gemüsesorten“, erklärt Inge Wunder begeis­ tert, während die Wagen vorbeirollen. Und Muggendorf? Da fällt das Erkennen auch uns Auswärtigen leicht, denn selbst­ verständlich steht auch hier der Kürbis im Mittelpunkt. Mehr als ein Dutzend ge­ schnitzter Prachtexemplare prangen auf dem Wagen. Freilich gibt es diese orange Vielfalt auf dem Wagen erst seit einigen Jahren, erzählt Inge Wunder. „Wir haben das eingeführt, um den Jugendlichen, die natürlich nicht mehr beim Kinderumzug


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„Nur was man bewundert, für dessen Erhalt setzt man sich auch ein.“

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mitlaufen wollen, aber trotzdem noch gerne Kürbisse schnitzen, eine Gelegenheit zu geben, ihre Kunstwerke auszustellen. Und um allen zu zeigen, dass unsere Muggendorfer Kürbisse wirklich was Besonderes sind.“ Genauso wie für die Natur und ihre Produkte gilt auch hier das Wort des Pfarrers aus der Festgottesdienst-Predigt: Nur was man bewundert, für dessen Schutz und Erhalt setzt man sich auch ein. Blühende Spenden

Die Blicke der Zuschauer werden aber nicht nur von den Kürbissen, sondern genauso von der mit Hunderten bunten Blüten und herbstlichen Zweigen geschmückten Krone oben auf dem Muggendorfer Wagen angezogen. Auch dafür braucht es viele emsige und geschickte Hände. Bereits Tage vor dem Erntedanksonntag fahren die Mitglieder des für den Wagen verantwortlichen Vereins „Fränkische Schweiz“ zu Gärten und durch den Wald in und um Muggendorf. „Jeder, der schöne Astern, Sonnenblumen, Dahlien oder andere Herbstblumen übrig hat, spendet etwas“, sagt Inge Wunder. Am Samstag vor dem Umzug treffen sich dann ein Dutzend Frauen und Männer in ­einer Scheune oben am Waldrand und flechten und stecken die prachtvolle Krone. Bei selbst gebackenem Kuchen, Kaffee aus der Thermoskanne und dem neuesten Dorftratsch entstehen zunächst prächtige kleine Sträußchen, die dann auf dem Metallgestell der Krone befestigt werden. Vor der Scheune sitzen jeweils einige Jugendliche, darunter natürlich die Tochter von Inge, um noch einen allerletzten Kürbis zu schnitzen. Auch wenn nach dem Umzug der farbenfrohe Blumenschmuck bald einmal verwelkt ist, so bleiben den Muggendorfern ihre geschnitzten Kürbisse doch noch ein Weilchen erhalten – zumindest ein paar Abende nach dem großen Fest leuchten hier prachtvolle Ährenbüschel, der Turm der nahe gelegenen Burgruine Neideck oder ein lustiges Wichtelgesicht geheimnisvoll orange von Zaun­ pfosten und Haustreppen. 3

Frisch gebackenes Brot sowie Obst und ­Gemüse aus den Gärten des Ortes schmücken den Altarraum der Kirche beim ErntedankGottesdienst. Bild unten: Grundschullehrerin Heidi Wehrfritz zeigt, wie man einen Kürbis schnitzt. Da staunen die Mädchen.

Muggendorfer Kürbisfest: Gefeiert wird am Samstag, 5., und Sonntag, 6. Oktober. Infos unter: www.wiesenttal.de

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tierleben

Ein Nachtwandler macht winterdicht

Wenn’s draußen schön herbstelt, krabbeln stachelige Halbkugeln durch den Garten: Der Igel ist auf Herbergssuche und futtert sich noch Fett an, um die kalte Jahreszeit verschlafen zu können. Text: paul herberstein

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fotos: Juniors bildarchiv, Flora Press

aschelnd und schmatzend watschelt ein Schatten durch die Nacht. Mit ­gespitzten Ohren und feiner Nase sucht der Igel nach Fressbarem. Selbst Regenwürmer oder Maulwurfsgrillen, die unter der Erde leben, spürt das scharfsinnige Säugetier auf. Dann stochert es mit spitzer Schnauze in den Boden, um die Leckerbissen mit langer roter Zunge aus der Erde zu ziehen. Der Igel kennt sein Jagdrevier genau. Wie auf einer inneren Landkarte speichert er die Plätze ab, die Schmackhaftes bieten und die er daher Nacht für Nacht besucht. Doch selbst in der Dunkelheit ist der Igel auf der Hut. Er meidet offene Flächen und krabbelt mit seinen krummen Beinchen ­lieber schützende Hecken und Büsche entlang. Denn der kleine Stachelritter weiß: In der Nacht sind nicht nur er, sondern auch Uhu und Dachs mit knurrenden Mägen unterwegs … Zieht der Herbst ins Land, hat der Igel richtig was zu tun: Bis Ende Oktober sollte er mindestens 700 bis 800 Gramm auf die Waage bringen und ein trockenes, warmes Versteck gefunden haben. So kann er bis zu einem halben Jahr durchschlafen und hat genug Fettreserven, um nicht zu verhungern. Ist er einmal trocken gebettet und in tiefen Winterschlaf versunken, spielen selbst eisige Temperaturen keine Rolle mehr. Im Gegenteil: Bei zweistelligen Minusgraden fährt der Igel seinen Körper erst richtig auf Sparmodus herunter. Pro Minute atmet das stachelige Säugetier dann nur noch 3- statt 50-mal, das Herz pumpert gerade einmal 8- statt bis zu 180-mal. Der Körper selbst wird zum Eiskasten und kühlt von 36 °C auf ma­ gere 5 °C ab. So verbrennt der Igel im Schlaf deutlich weniger Körperfett und kommt sicher bis zu den ersten Frühlingstagen. Für die zwischen Juli und September geborenen Jungen wird die Zeit bis zum Wintereinbruch oft knapp. Untergewichtig, bei frostigen Temperaturen und ohne warmen Unterschlupf tapsen sie teilweise noch im November hilflos umher. An sich ein sicheres Todesurteil, gäbe es nicht Igelexperten im Land, die sich solcher Findlinge annehmen.

Gefahr vorbei: ­Vor­sichtig öffnet sich die Stachelkugel (oben), und der Igel kann wieder beruhigt fressen: zur Freude der Gartenbesitzer eine Schnecke. Die bis zu 8.000 Stacheln wachsen wie Haare wieder nach (unten).

Wenn das Herz höherschlägt

„Wir haben rund 5.000 telefonische und etwa 4.000 schriftliche Anfragen im Jahr von Leuten, die entweder kranke oder geschwächte Igel finden oder auch nur mehr über die faszinierenden Tiere wissen wollen“, erzählt Ulli Seewald, Vorsitzende des Vereins „Pro Igel“ in Deutschland. „Wir ➻

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Noch wird der Nachwuchs von der Mutter beschützt. Mit spätestens sechs Wochen sind die jungen Igel allerdings „flügge“ und auf sich allein gestellt.

sind ein Zusammenschluss von Fachleuten und führen selbst zwar keine Igelstationen, beraten aber interessierte Laien genauso wie Tierärzte oder Wissenschaftler.“ Die Expertin, die auch selbst immer wie­ der Igel in Obhut nimmt, fasziniert die An­ dersartigkeit der uralten Säugetierart: vom Stachelpanzer bis zum friedfertigen Wesen. Und – ganz Igelfreundin mit Leib und Seele: „Mir schlägt jedes Mal das Herz höher, wenn ein gesund gepflegter Igel am Abend in die Freiheit entlassen werden kann und munter unter einer Hecke verschwindet.“ Einzelgänger und Gartenfreund

Säugetier im Stachelkleid Körper: Ein Igel hat im Gesicht, am Bauch und an den Beinen ein helles bis bräun­ liches Fell, der Rest des Körpers ist mit ­Stacheln bedeckt. Bei der Geburt sind 100 zunächst weiße Stacheln vorhanden. Erwachsene Tiere haben bis zu 8.000 innen hohle, weiß-braun gestreifte Stacheln. Ein einzelner Stachel ist 2 bis 3 cm lang und rund 2 mm dick. Igel haben 5 Zehen und sind Sohlengänger. Am Körperende haben sie ein bis zu 2 cm langes Stummelschwänzchen. Er­ wachsene Tiere erreichen eine Länge von rund 25 cm und ein Gewicht von 800 bis 1.500 g, wobei Männchen etwas schwerer als Weibchen werden. Der Igel verfügt über einen hervorragenden Geruchssinn und ein ausgezeichnetes Gehör, sieht aber schlecht. Weibchen bringen meist zwischen Juli und September durchschnittlich 4 bis 6 Junge auf die Welt. Der Nachwuchs wird rund 25 Tage gesäugt und mit 6 Wo­ chen in die Selbständigkeit entlassen. In freier Wildbahn können Igel ein Alter von 7 Jahren erreichen, in der Regel werden sie aber kaum älter als 2 bis 4 Jahre. Laute: Igel schnaufen, keckern und fauchen. Beim Fressen sind zudem Schmatzund Knackgeräusche zu hören. In großer Not kreischen und schreien Igel auch laut und eindringlich.

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Nahrung: Der Igel ist Insekten- und Fleischfresser. Zur bevorzugten Nahrung zählen unter anderem Käfer, Spinnen, Würmer und Larven. Ebenso frisst der Igel auch Eier von Bodenbrütern sowie junge Mäuse oder Maulwürfe. Lebensweise: Igel sind Einzelgänger, nur zur Paarung von Mai bis August kommen Männchen und Weibchen zusammen. Der Nachwuchs wird von der Mutter versorgt. Der Igel ist dämmerungs- und nachtaktiv und legt auf einzelnen Streifzügen bis zu 2 km und mehr zurück. Tagsüber ruht er unter einem Reisig- oder Laubhaufen oder in ­Gebüschen, Erdmulden, hohlen Baum­ stämmen oder Felsspalten. Ab Ende Oktober zieht sich der Igel mit ­genügend Fettreserven in ein trockenes, vor Frost und Nässe sicheres Versteck zum Winterschlaf zurück und kann – je nach Witterung – bis zu 6 Monate durchschlafen. Vorkommen: Der Igel ist wärmeliebend und fühlt sich – neben Wald- und Wiesen­ randzonen – in naturnahen Gärten und Parks besonders wohl. Freies Gelände ohne Deckung meidet der Igel. Im Süden Deutschlands kommt der Igel bis zu einer Seehöhe von etwa 1.000 m vor. Die aktu­ellen Bestände lassen sich auf­ grund der Verbreitung und der Lebens­ weise nur sehr schwer schätzen.

Bei Igeln, die vor einem solchen Pflege­ aufenthalt bereits ohne Mutter allein unter­ wegs waren, ist es besonders wichtig, sie wieder in ihr angestammtes Gebiet zurück­ zubringen. Einen Igel abseits von gefährli­ chen Straßen mitten im Wald auszusetzen ist zwar gut gemeint, aber verkehrt: Igel ­leben bestenfalls an Waldrandzonen, außer­ dem braucht ein solches Tier die gewohnte Umgebung, um sich rasch wieder zurecht­­zufinden. Familienanschluss spielt beim Auswil­ dern hingegen keine Rolle, denn hinter den herzigen Knopfaugen stecken hartgesottene Einzelgänger. Lediglich zur Paarungszeit gibt das Männchen den verliebten Partner, wenn es die angebetete Igeldame ständig umkreist und immer wieder auffordernd in die Flanken stößt. Wird der hartnäckige Verehrer endlich erhört, erlischt das Inte­resse an trauter Zweisamkeit aber schnell: Der hornige Liebhaber zieht weiter und überlässt Mutter und Nachwuchs ihrem Schicksal. Selbst die Kindheit währt nur kurz: Un­ schuldig weiß und mit nur 100 Stacheln ­geboren, bleiben den Jungen gerade ein­mal sechs Wochen Zeit, um erwachsen zu wer­ den. Danach ziehen sie wie ihre Eltern als Einzelgänger durch die Lande. Kreuzen sich die Wege zweier erwachsener Tiere, be­ schnuppert man sich nur kurz oder faucht sich grantig an. Heftige Kämpfe untereinan­ der finden kaum statt. Wo es genug Nahrung gibt, duldet man Artgenossen selbst auf engstem Raum. Richtige Igelballungszentren sind natur­ nahe Gärten und Parks mit hohem Gras, wuchernden Hecken und Reisig- und Laub­ haufen. Hier wimmelt es für die stacheligen Nachtschwärmer nicht nur so von Spinnen, Käfern oder Würmern zum Fressen, hier finden sich auch tagsüber an jeder Ecke ge­ nug Schlaf- und Ruheplätzchen. Als Gegen­ leistung für so viel Gastfreundschaft zeigen sich die Stachelritter oft erkenntlich, indem


Mit trockenen Blättern und kleinen Zweigen polstert der Igel sein Quartier aus. Es ist also gut, im Herbst etwas Laub im Garten liegen zu lassen.

sie Schnecken und deren Eier vertilgen – wenngleich das nicht ihre ausgesprochene Leibspeise darstellt. Gärten hingegen, in denen jede Woche problemlos das englische Fußballcupfinale ausgetragen werden kann, weil der Rasen stets kurz und millimetergenau gemäht wird sowie Unkraut, Insekten und Ungeziefer mit jeder Menge Chemie bekämpft werden, machen keinen Igel glücklich. Ganz im Gegenteil: Einige der Mittel sind sogar ausgesprochen giftig für die Tiere. Wie gut Igel auch lange Zeit ohne Menschen auskamen, beweist ihre Geschichte: Als eine der ältesten Säugetierarten waren ihre Vorfahren bereits zu Zeiten der Dinosaurier auf der Erde unterwegs.

fotos: juniors bildarchiv

Stachelkugel zeigt Muskeln

Heute lebt in Bayern und Baden-Württemberg nur eine Igelart: der „Braunbrustigel“. Der Irrglauben, dass es einen „Hundsigel“ mit stumpfer Schnauze und steiler Stirn sowie einen „Schweinsigel“ mit spitzer Schnauze und fliehender Stirn gibt, ist leicht aus der

Welt zu räumen: Erschrickt ein Igel, zieht er den Kopf ein und stellt die Stirnstachel auf. Sein Kopf wirkt so deutlich kürzer. Ein entspannter Igel hingegen streckt den Kopf und legt die Stacheln flach an den Körper an. Ein Grund, warum sich der Igel über so viele Jahrmillionen auf der Erde behaupten konnte, liegt wohl auch in der einzigartigen Körperfunktion: Bei Gefahr oder Berührung rollt er sich mit einem kräftigen Ringmuskel zu einer Kugel zusammen und zieht alle ungeschützten Körperteile wie Gesicht, Brust, Bauch und Beine ins Innere. Kommt eine solche Igelkugel ins Rollen oder wird sie durch Schläge erschüttert, so wirken die Stacheln wie kleine Stoßdämpfer. ­Jeder Stachel hat einen eigenen Muskel und kann einzeln aufgerichtet werden. Und sollte einmal einer der bis zu 8.000 Stacheln eines ausgewachsenen Igels abbrechen, wächst er wie ein Haar wieder nach. Doch selbst ein solch bemerkenswerter Schutz hat Grenzen. Aus der Luft hat der Igel vor allem den Uhu mit seinen kräftigen Fängen oder etwa auch die Elster zu fürch-

ten, die mit ihrem spitzen Schnabel oft zu früher Morgenstunde zuschlägt, ehe der Nachtschwärmer sein sicheres Tagesversteck erreicht hat. Am Boden ist es vor ­allem der Dachs, der mit starken Prankenschlägen und scharfem Gebiss die Sta­chel­kugel zu knacken weiß. Der Fuchs hingegen lässt eher seine Pfoten von dem pikenden Säugetier. Meister Reineke ist wohl schlau genug, um zu wissen, dass es in der Natur weit leichtere und weniger schmerzhafte Beute für ihn gibt. Oder wie es Wilhelm Busch am Ende seines bekannten Gedichtes „Fuchs und Igel“ so treffend schrieb: Und alsogleich macht er sich rund, schließt seinen dichten Stachelbund und trotzt getrost der ganzen Welt, ­bewaffnet, doch als Friedensheld. 3

Buchtipp: „Igel in unserem Garten“ von Monika Neumeier, Kosmos Verlag, ­Stuttgart, Deutschland. Webtipp: Verein „Pro Igel“, www.pro-igel.de

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Wunder der Heimat

Alles ausser

Hochdeutsch

Wo der Wein das Wasser küsst. Wo altes Fachwerk mit jungen Ideen flirtet. Zwischen Stuttgart und Pforzheim schlummert ein schwäbisches Dornröschen. Text: Nicola Förg Fotos: Julia rotter


Roßwag: Der Name stammt von einer Furt für die Rösser. Oder von einem mutigen Pferd, das den Sprung in die Enz wagte. Für seinen Ritter sprang es 100 Meter in die Tiefe – angeblich!

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Spinat, abgedünsteter Lauch, Hackfleisch, Brät und Mamas geheime Würzmixtur. Ein Nudel­­teig aus dem Mehl der ­Vaihinger Mühle. Eine ­Prise ­Können, eine ­gehörige Portion Liebe zum Produkt: Andreas Schullers Maultaschen im Gasthof Engel schmecken so viel besser als manches, was sich bisher das Recht nahm, als Maul­ tasche zu firmieren. Bertram Haak (links) ­wiederum ist Weinkenner, Musiker und, ja, man kann ihn durchaus einen Philosophen nennen. Der Erhalt der Kulturlandschaft ist ihm ein wichtiges Anliegen.

örsch es?“ – Äh, nein. Es nimmt auch etwas ­ under, wenn man genötigt ist, das Ohr an eine Schüssel w zu halten. „Hörsch es jetzt?“ – Ja, da blubbert doch etwas? ­Andreas Schuller ist zufrieden. „Ein guter Kartoffelsalat schwätzt!“ Na dann, der hier „schwätzt“ – und gut ist er auch, denn sein Erzeuger hat immerhin mal bei einem Sternekoch gelernt. Er hat die Kartoffeln so innig geschält, als sei das eine Kunstform, und dann so elegant aus dem Ballen über eine Reibe getrieben. „G’lernt isch g’lernt!“ Die Schnitze landen auf Zwiebeln, Pfeffer und glutenfreier Gemüsebrühe. Dazu kommt dann noch Brühe von den Maultaschen, und die Kartoffeln nehmen das Wasser auf. Genau dann werden sie so gesprächig … Andreas Schuller ist hingegen kein Schwätzer, er ist eher so einer, der ein lakonisches Understatement pflegt. Der den „Engel“, den die Eltern 1975 gepachtet und 1982 dann gekauft hatten, selber renoviert hat – „aber kaum der Rede wert“. Dabei hat er den Gasthof in ein WohlfühlWohnzimmer verwandelt: wenige Sichtbalken, offen gelegte Backsteine, wenig Schnickschnack. Der Mann macht seine Gäste auch nur von Freitag bis Sonntag glücklich, an den anderen Tagen kocht er für Kinder in einer Tagesstätte. Er kocht frisch, kreativ, gesund – und doch so, dass es Kinder lecker finden. Und er ist der Piratenkoch, die Piratenkopfbedeckung ist das Erkennungszeichen! Kinder lieben ihn, Gäste auch, weil er zudem ­launige Stadtführungen leitet, da will er dann morgen auch noch das eine oder andere erklären. Heute aber entsendet er den Gast nach Roßwag. Die ­Arbeitsanweisung ist klar: Wein mitbringen und an­sonsten – bitte genießen! Die Weingallier auf den Terrassen

Roßwag also. Da soll es hingehen. „Das sind unsere Gal­ lier“, meint Andreas und hebt auf den „eigenen Sinn“ der Roßwager ab. Diese Gallier haben sich für die Rebsorte Lemberger den Begriff „Lembergerland“ für ihre Region eintragen lassen. Im Badischen, wo sie den Wein auch anbauen, war man etwas säuerlich deswegen. Bertram Haak ficht das nicht an. Er hat die Augen geschlossen. Das weiche Herbstlicht tanzt auf seinem Instrument. Es changiert von Rostbraun ins Rosé. Fast die gleiche Farbe wie der Muskattrollinger in den Gläsern auf dem Tisch. Eine Symphonie in Rosé. Eine Bratsche in Rosé … Bevor Bertram Haak das Instrument, das so betörend klingt, auspackte, hatte er die Geschichte vom Geiger in Washington zur Rushhour erzählt. Jenem Stargeiger, der in der U-Bahn spielte, unbeachtet und schon gar nicht ­geachtet. Zwei Tage vorher hatte er in einer berühmten Konzerthalle gespielt, auf just jener „U-Bahn-Geige“, ➻


Es sind zackige 100 Meter Höhen­ unterschied von der Enz hinauf in die Weinstöcke. 40 Hektar terrassierte Steillage hat Roßwag: Die Betonung liegt auf Terrasse! Aufwendige Trocken­ mauern müssen bewahrt werden.

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Dachlandschaften, Fach­ werkzauber: Eine Turm­ führung bringt Einsichten und Aussichten auf die Stadt und ihre Stadtteile, die in verschiedene Wappen gebannt sind. Restaurator Reinhard Wahl (links) und Stadt­ archivar Lothar Behr ­haben die Augen nach oben gerichtet: Wieder soll ein Haus, das einfach zugeputzt wurde, im alten Fachwerkgewand neu auferstehen.

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die 3,5 Millionen Dollar wert ist. In der Konzertsituation war er frenetisch gefeiert von Publikum und Presse. Der Stargeiger in der U-Bahn war ein Experiment der „Washington Post“ gewesen, ein soziologischer Versuch über Wahrnehmung, Empfinden und Geschmack. Aber was hat ein Geiger in New York mit einer Bratsche in Roßwag zu tun? „Alles, einfach alles“, sagt Bertram Haak. „Wir sehen nur, was wir kennen. Wir wertschätzen nur, was wir verstehen.“ Und so entführt er „in einen Kurzurlaub“, und dieser Urlaub ist eine ganz schön steile Sache! Es sind zackige 100 Meter Höhenunterschied von der Enz hinauf in die Weinstöcke. Pfade schlängeln sich hinauf, und es führen kleine Steinstufen – ja eher Stüflein – abwärts bis zu einem gewaltigen Steintisch. Auf einer der Terrassen steht er, Steillagen allein sind schon mühsam zu bewirtschaften, aber auf den Terrassen müssen auch noch die Trockenmauern instand gehalten werden, der Aufwand ist titanisch. Viele dachten ans Aufgeben, einige haben es getan, und Wildwuchs holte sich die Stufen „Es geht vor allem um den Erhalt einer Kulturlandschaft“, sagt Haak, und wenn man weiß, dass man für einen Hektar 1.400 Stunden Arbeitsaufwand rechnet, dann steht man ehrfürchtiger mitten im Weinberg, wo eben jener Steintisch dräut, der einen Ape­ritif aus Traubensaft trägt. Und Bertram Haak, der die Füße baumeln lässt und behutsam spricht. Der keinen Zeige-


finger hebt und belehren will, nur Angebote macht, die eingefahrenen Denkbahnen zu verlassen und einfach mal Zeit zu haben. Ganz ohne Rushhour in der U-Bahn. „Wir schmecken doch nichts mehr“, sagt er, und weil das so ist, sind die Weinverkostungen im Lembergerland an­­ders. Da reiht sich nicht Glas an Glas, da verschwindet ein erster Wein in einem tiefschwarzen Hexenbecher – und es ist Hexerei herauszufinden, was das für ein Tropfen sein möge. Spekulationen springen über den Tisch, ja, nein, vielleicht. Rot oder weiß? Und dann ist es ein Most! Diese Weinkost bringt eine Fülle von faszinierenden ­Experimenten. Der Riesling schmeckt bei blauem Licht viel kälter und weniger aromatisch. Vieles, was wir zu schmecken glauben, riechen wir vielmehr, Bertram Haak verlockt die Sinne. Die Prinzessin mit Schokoladenseite

Verena kommt dazu, jung, hübsch, ein paar überaus gewinnende Sommersprossen. Verena sucht eine neue Freundin für ihren Ziegenbock, hat etwas Grandioses in der Schweiz gelernt und hat ab und zu eine Krone auf. Fangen wir von hinten an: Verena Schmid ist die ­Weinprinzessin, Durchlaucht regiert noch bis September 2014. Sie ist erst die zweite, denn die Region ruhte lange im Dornröschenschlaf, bevor sie nun sanft erwacht. Jeden Tag neu, jeden Tag in kleinen Schritten. Verenas Papa hat eine Bäckerei/Konditorei und hat das Töchterlein in der Schweiz auf ein Schokoladenseminar geschickt. Nun kann die Prinzessin sündige Pralinen kreieren, dazu trägt sie ­Papas Meisterkittel, auch sie experimentiert mit dem Geschmack. Diese Prinzessin weiß, dass man Kürbiskerne beispielsweise vor der Verarbeitung immer rösten muss. „Sonst werden sie lummelig“, weiß sie. Selbstverständlich – hier spricht man Schwäbisch, und „lummelig“ sagt einfach mehr aus als „schwammig“ oder „weich“! Ach so, ja, der Ziegenbock. Den hat sie einfach so, Durchlaucht Verena ist auch ein ganz bodenständiges Mädchen, das zwar aus keiner Weinbaufamilie kommt, aber im Wein­verkauf tätig ist. Die Prinzessin und der Musiker spielen sich die Bälle zu, Verenas Schokoladen in Zartbitter, Vollmilch oder Weiß gehen mit unterschiedlichen Weinen einher, beleben sich, beflügeln die Sinne. Dazu spielt Bertram Haak auf seiner Bratsche. Der Mann hat Musik studiert. Irgendwann einmal. Wollte gegen die Eltern rebellieren. Wurde Automechaniker und hoffte, dass er sich die Musikerfinger ­zerstören würde. Gott sei Dank hatte ein ganz anderer – viel weiter oben als dieser Weinberg – seine Finger im Spiel und ließ das nicht zu. Er ließ aber zu, dass der junge Rebell auch noch Maschinenbau studierte, dann Weinküfer und Weintech­ niker. Den Master in Marketing nicht zu vergessen. Und fertig ist ein Geschäftsführer, der Wissen zwischen den Zeilen und hinter dem Greifbaren besitzt. Der achtsam ist. Und der Bratsche spielen kann. So was könne er nicht. Viel zu filigran. Rolf Allmen­dinger kokettiert damit, dass er immer schmutzige Finger habe und Trauerränder unter den Nägeln. Dabei weiß ­gerade er das schöne Instrument zu schätzen, weil er alte Handwerkskunst zu schätzen weiß. Rolf Allmendinger ist ➻

Kunstschmied Rolf Allmendinger (links) engagiert sich zusammen mit Bertram Haak und Weinprinzessin Verena für den Rebensaft, weil ein paar mehr Genießer von der sanften Weinrebellion hören sollen.

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Kunstschmied, der in seiner Werkstatt steht und den neugierigen Besucher ein klein wenig streng beäugt. Ein Gitter lehnt ganz unauffällig an einem Amboss, wer genauer ­hinsieht, staunt. So wurden seit dem Mittelalter Gitter geschmiedet. Weil es früher keine Möglichkeit gegeben hatte zu schweißen, wurden die Stäbe quasi geflochten und durch Löcher getrieben. Diese Löcher schafft der Schmied – von wegen Formänderung, das hat mit Gefühl zu tun, mit Erfahrung und Liebe zum Werkstoff. Er fertigt auch zauberhafte Grabkreuze, so viel schöner als die klotzigen angeberischen Marmorstein-Mammute. Eine goldene ­Krone, ein zukünftiges Wirtshausschild erhellt den Raum, wo Staubpartikel auf einem Sonnenstrahl tanzen. Auch Allmendinger lebt das Understatement, er hat auch nur „0,65 Hektar Reben, kaum der Rede wert“. Die Leute besitzen einen Schatz

„Schmieden ist Form­ änderung im glühenden Zustand“, sagt Kunst­ schmied Rolf Allmen­ dinger bescheiden. Doch wie viel mehr ist diese ­Formänderung in der Werkstatt des Meisters tatsächlich: Kunst und Können!

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Das Gitter geht als Absperrung an einen uralten Keller in Vaihingen, klar könnte man einfach eine Brandschutztür im Baumarkt kaufen – aber der sanfte Weckruf für die Dornröschenregion hat einige andere erreicht, die ver­stehen, was für Schätze es zu bewahren gilt. Reinhard Wahl kennt die Melodie, und er flötet sie zumeist nur. „Es klappt nicht, die Leute zu überreden, man kann sie nur auf den Weg bringen. Ich will ihnen zeigen, dass sie einen Schatz besitzen und dass ihr Haus wertvoller wird, wenn sie es bewahren.“ Bewahren im Gewand der Stadt, bewahren im Fachwerkgewande. Vaihingen hatte drei verheerende Stadtbrände durch­ zustehen, der dritte war 1693, nur noch 28 Häuser blieben verschont. Und dann kamen die Stadtväter auf die grandiose Idee, dass alles Fachwerk verputzt werden müsse, weil dann die Brände eingedämmt würden. „Nonsens“, weiß Knut Berberich. „Brände schwelen auch unter dem Putz. Holz schafft, und der Putz springt.“ „Ein Haus brennt über die Traufe oder den Giebel, und die Brände springen munter von Dach zu Dach“, echauffiert sich Reinhard Wahl. Auch über die lächerlichen kleinen Abstände, die beim Wiederaufbau eingehalten werden mussten! Beide Herren wissen, wovon sie sprechen. Beide Herren haben das Gespür für Fachwerk. Reinhard Wahl, der ursprünglich Fensterbauer ist und viel mit Bestandssanierung zu tun hat. Der mit Engelszungen um den Erhalt der Fachwerke redet. Knut Berberich – der unschwäbische Name stammt ­daher, dass die Mama eine glühende Verehrerin des norwegischen Schriftstellers Knut Hamsun war – war eine Hausgeburt. Unter Fachwerk in der Schlossstraße geboren. Architektur studiert. Bei der Landeskirche für die Betreuung der Gebäude zuständig. Heute ein „Häusle weiter“ wieder in der Schlossstraße wohnhaft. In einem Fachwerkhaus, das er weitgehend selber renoviert hat. Beide Männer machen Stadtführungen – sozusagen bis in den Kern, das Herz von Vaihingen. Und das Herz ist aus Holz. „Fachwerk ist kein Baustil, Fachwerk ist ein konstruk­ tives Element“, darauf legt der schwäbische Knut Wert. Das muss der Flaneur erst mal begreifen. „Es gibt konstruk­tives und Zierfachwerk“ – das Tückische ist nur, dass es überputzt wurde. Wahl nennt das den Wundertüten-Effekt: Erst nach der Freilegung wird klar, ob es sich um wertvolles ➻


Das Vaihinger Schloss überragt die Stadt. Weinberge wachsen den Hang hinauf. Zu seinen Füßen die Bürgergärten, wie sie seit Jahrhunderten der Versorgung der Familien außerhalb der ummauerten Stadt dienen.

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Die Enz! Seit es im Sommer eine Ausstellung über die Gerberstadt Vaihingen gab, ist sie w ­ ieder im Blickpunkt. Ihre Gestade werden freigelegt, ihre stillen Wasser sind von Weiden gesäumt – ein ­innerstädtischer Lebensquell.

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Zierfachwerk oder eben nur ums profane zur Konstruktion handelt. Ob die Balken so marode sind, dass sie ersetzt werden müssen. Etwas mitgenommen und zermergelt sehen sie immer aus. „Das waren die Einschläge der Gipserbeile, denn in Ermangelung von Putzgrund oder Hasengitter dachte man, so würde der Putz besser halten.“ Die Male sieht man heute noch, die Stadt zeigt ihre Wunden auf ockerfarbenen (Erde), roten (Ziegel) und grauen (Muschelkalk) Balken. Das sind die Farben des süddeutschen Fachwerks – eigentlich. Denn da ist auch ein Haus mit hellblauen Balken. Knut Berberich erteilt da eine Absage, so was gehöre maximal in ein Weindorf, weil da die Weinbauern mit dem blau färbenden Kupfervitriol die Reben gespritzt hätten und manchmal auch die Häuser. Aber nicht in der Stadt, bitte schön! Reinhard Wahl hingegen mag das Haus, „weil im Barock die Welt ganz schön bunt gewesen ist“. Die Gaube als Zungenbrecher

Wahrnehmung, Geschmack – einmal mehr! Übrigens gab es im Bauen immer auch Modeströmungen, und als um 1700 in Vaihingen der Wiederaufbau in vollem Gange war, machte ein Stilelement Karriere. „Das Krüppelwalmdach mit einer abgewalmten Sattelgaube.“ Gewonnen hat, wer das fehlerfrei aussprechen kann. Gewonnen hat, wer den Haustyp erkennt. Am Marktplatz stehen die besten Beispiele: mal ein ­riesiges Haus mit einer unproportional kleinen Gaube, mal ein kleines mit viel zu großer oder einer Gaube, die so absurd schmal ist, dass nur ein Hungerkünstler drin hätte ­stehen können  … Apropos Hunger, der „Engel“ lockt – wo Andreas Schuller nun aufgetischt hat, wo er seine „Herrgottsbescheißerle“ zur Perfektion gebracht hat. So heißen Maultaschen nämlich im Volksmund, und im nahegelegenen Kloster Maulbronn soll es sich zugetragen haben, dass die findigen Mönche in der Fastenzeit Fleisch im Gemüse versteckt haben und zur Sicherheit noch einen Teigmantel drumgewickelt haben. Dann konnte der Herrgott ja nichts mehr sehen. Andreas will jetzt einkaufen gehen. Mehl und mehr möchte er besorgen, und das selbstverständlich „in der Mühle vom Auch“. Und weil hier alle kongenial sind, jeder jeden kennt und das Netz ­jener, die sich engagieren, engmaschig ist, passt diese Einkaufstour auch zur Stadtgeschichte. Auch die „Untere Mühle“ fiel dem Stadtbrand zum Opfer, und aufgebaut hat sie einer namens Simeon Valentin, einst Schmied, dann Müllerlehrling, dessen Wirken auch auf einer Tafel über dem Eingang zur heutigen Mühle festgehalten ist. „… dass als der Tod den Müller nahm, ich meines Meisters Frau bekam“. Recht praktisch und „durchaus Usus“, sagt Manfred Auch, dessen Familie seit 1928 die Mühle betreibt und dessen Tochter Katharina auch eine schöne Müllerin wird. Die Mühle und die Enz, untrennbar verbunden! Auf der Enz wurden Eichenstämme aus dem Schwarzwald geflößt. Wer den Fluss auch nutzte, waren Lohkähne, also Schiffe, die die Lohmühle belieferten. Sie ging 1523 in Betrieb und gehörte der Gemeinschaft der Gerber, die hier getrocknete Eichenrinde, Eicheln und Bucheckern mahlte, um deren Inhaltsstoffe in einer wässrigen Lösung – der Lohe – ➻

Das „Bertale“, Inhaberin eines Ladens voller Schätze aus einer (fast) unter­ gegangenen Zeit, besitzt auch einen Garten. Er ist ihr geliebtes Frischluftwohnzimmer und versorgt sie mit Gemüse.

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Unterwegs mit Gastwirt Andreas Schuller

Blonde Rösser, süße Trauben Ein genussvoller Streifzug durch Wald und Dörfer

Alle Neune In Vaihingen zählen alle neune. Rund um die Kernstadt fläzen sich acht Ortsteile, räkeln sich an der Enz, kauern in Wäldern. Eine ruhige Gegend mit langsamer Gangart, jeder Ortsteil ist ein Dorf für sich. Jedes mit Kirche und Ortsvorsteher. In jedem leben Charakterköpfe mit einem ganz eigenen Sinn. Sie machen Wein, dem man seinen Muschelkalk­ boden anschmeckt. Sie fördern altes Fachwerk zutage und schmieden nach Altväter Sitte. Sie lieben ihre blonden Schwarzwälder Rösser. Sie bewegen Stocherkähne über die Enz: Venedig kann einpacken – jetzt kommt Vaihingen.

1. Gasthaus Engel Hier versinken Zeit und Raum, hier kocht Andreas Schuller regional und achtsam. Stuttgarter Straße 2, 71665 Vaihingen an der Enz, Tel.: 07042 /138 84

4. Die Enz-Löwen Die drei Löwen haben Großes vor: Sie wollen zwei neue Kähne anschaffen, sie wollen die Fahrten in jedem Fall ausweiten. Geplant sind Stadtführungen per Kahn, und das Enzufer soll zum Teil freigelegt werden, um den Enzgestaden ihre historische Bedeutung wieder zu geben. Infos unter Enz-Loewen@t-online.de, Stadtführungen über die Kultur- und Touristinformation, Tel.: 07042/182 35, www.vaihingen.de

alt und immer noch Regentin in einem L­ aden, der einst Messerschleiferei war, 1817 gegründet, seither in Familienhand. Beim Bertale gibt es schier Unglaubliches: Messer aller Couleur, und zwar „vom Fachgeschäft, nicht solche Lockvogelangebote aus dem Supermarkt“. WMF-Besteckkästen, die es auf Flohmärkten nicht mehr gibt, ErdnussspenderMännle, Sesamstraßen-Kinderbesteck, eine Halterung für Maggiflaschen. Gar Zigaretten­spender ­zuhauf! Berta Krayls Laden ist ein Zeitzeuge einer (fast) ­untergegangenen Welt. Ein Muss! Ein Juwel! „Das weiß der liebe Gott, wer weitermacht“, sagt das ­resolute Bertale, deren Mieter „nie richtig bei der Kehrwoch fägt“. Die lange am Standesamt tätig war. Deren Kollegin ein „Stuhlkissele gehabt hat, das ihr am A… bäppt“. Man muss mit dem Bertale sprechen: „Mein lieber Herr Gesangsverein“ – nichts wie hin, so lange noch offen ist. Berta Krayl, Mühlstraße, Öffnungszeiten variieren

5. Das „Bertale“ „Das Bertale“ wird der Stadt den Diminutiv v­ er­zeihen! Diese Dame ist von der Körpergröße her eher klein, aber sonst eine ganz Große! Stolze 87 Jahre

6. Bürgergärten „In der Stadt gab es keine Gärten, was heute so aussieht, sind Ruinengrundstücke“, weiß Knut Berberich. Um die Bevölkerung aber zu versorgen, gab es

3. Gasthof zum Lamm Roßwag Ein kleines engagiertes Hotel im Fachwerkensemble des Dorfs. Sterneküche in zeitlosem Ambiente. Frühstück auf der Terrasse, wenn das Wetter passt, und Ausblicke auf die Steillagen – was will man mehr zum Genuss. Rathausstraße 4, 71665 Vaihingen/Roßwag, Tel.: 07042/214 13, www.lamm-rosswag.de

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Gärten außerhalb, an der Enz. Hier wurde primär Gemüse gezogen, Obst, fast jeder hielt F­ eder­vieh. Wo heute ein Tierarzt seinen Garten hat, er­innert sich Berberich: „Wir haben als Buben dort immer Fohlen aufgetrieben und sie abends wieder hereingeholt.“ Viele waren Imker, bis heute sind die Gärten in Familienbesitz und ganzer Stolz. Die N ­ utzung ist heute unterschiedlich. Ursula Cafaro hat Gemüse, Obst und eine Gartenlaube, Hermann Krug, der auch schon 81 Lenze zählt, liebt Blumen. Bei der Familie Ahner wurde der Gemüsegarten des Groß­ vaters nun in einen Rasengarten mit Pool umgestaltet. „Unser erweitertes Wohnzimmer“, sagt Reinhard Ahner. Ein Wohnzimmer, das die Ahner’schen Kids dann auch schon mal als Party­zone zu laut genutzt haben. Der Vater sprach ein Machtwort, „aber generell ist das eben kein Schrebergarten mit Hausordnung“, meint Ahner, und B ­ erberich ergänzt: „Da war der Schreber noch gar nicht geboren, als hier vierhundert Jahre vorher die Bürger ihre Gärten pflegten.“ Spaziergänge durch ein Idyll in Grün und Blumenbunt: Bürgergartenführungen buchbar über die Kulturund Touristinformation, Tel.: 07042/182 35, www.vaihingen.de

illustration: andreas posselt; zusatzfoto: julia rotter

2. Mühlenladen Bei den Auchs gibt es nicht nur Mehl! Hier kauft man Produkte, wofür die Rohstoffe vorher sorgfältig ausgewählt worden sind. Manfred Auch hat ein striktes Qualitätsprofil und macht Kleinpackungen für Gastronomie und Endverbraucher. Und weil auch er ein Geschmacksberater ist, zaubert er fer­ tige Backmischungen und veranstaltet Backkurse, „weil die heutige Hausfrau das nicht mehr so draufhat“. Das Verkaufspersonal verkauft nicht nur, nein, es berät und verrät Tricks und Kniffe. Vaihinger Mühle, Enzgasse 24, 71665 Vaihingen, direkt an der Enz, Tel.: 07042/289 22 44, www.vaihinger-muehle.de


7. Genusstriole Das Genussseminar für alle Sinne mit Bertram Haak wird unterstützt vom Lembergerland, von der Braumanufaktur Schönbuch und vom heimischen Ensinger Gourmetwasser. Wenn auf der Lembergerflasche 401 steht, dann wissen die Insider, dass sich der Name eines Rotweins auf die genau 401 „Stäffele“ von der Enz bis hinauf an die Kante des Weinbergs bezieht. Dazu gibt es auch den „Stäffele-Lauf“, der Puste erfordert. www.lembergerland.de/genusstriole 8. Turm- und Kellerführungen Hoch hinaus oder tief hinunter: Ob Vaihinger Schloss oder die evangelische Stadtkirche – sie sind reich an Aussicht. Die Kirche ist ein Unikum. Sie hatte ­ursprünglich keinen Chor, weil eine Zehntscheune nicht weichen wollte. Als man evangelisch wurde, brauchte es keinen Chor mehr, und erst später wurde 1892 ein Minichor angebaut, viel zu flach für die imposante Kirche. Man blickt vom Turmbalkon auf die Dachlandschaften, auch auf das alte Pfarrhaus, wo Karl von Gerok einst lebte. Der war Oberhofprediger und Liederdichter. Untendrunter, angelehnt an die Stadtmauer, sind die Keller (1280–1320 erbaut) mit Gruselfaktor. Über die Kultur- und Touristinformation, Tel.: 07042/182 35, www.vaihingen.de 9. Weinweg Im schmucken Horrheim gibt es in einer 600 m2 großen alten Kelterhalle das Weinmuseum. Und dazu einen drei Kilometer langen Rundweg, der auf Schritt und Tritt Weinwissen vermittelt. Alte Keltergasse 1, 71665 Vaihingen-Horrheim, Tel.: 07042/328 52 10. Ausflug nach Maulbronn Kloster Maulbronn ist wie kein anderes Zisterzien­serkloster in Europa in einzigartiger Geschlossenheit erhalten und markiert den Übergang von der Spät­ romanik zur Frühgotik. Mit Anita Dworschak kann man im Unesco-Weltkulturerbe ganztägige ­Exkur­sionen machen – mit Sonderführungen in die Klausur und den Wirtschaftshof. Selbstverständlich auch mit Wein und kulinarischer Stärkung! Termine unter Tel.: 07043/88 64 11. Rösser Die Schillingers fahren dreispännig, also mit drei Pferden nebeneinander. „Drei ziehen besser als vier“, findet der Kutscher und dass man eben näher dran sei an den Tieren. Fünf Wallache, zwei Stuten, ein Hengstfohlen und zwei Ponys führen in Gündelbach ein Leben wie Gott im Enztal. Große Koppeln, besorgte Besitzer. Da zieht man doch gerne ab und zu mal zwei Planwagen oder eine Art Gartenhaus auf Rädern, das sogar einen Ofen an Bord hat. Ansonsten gibt es im Anschluss an die Kutschfahrt Deftig-Schwäbisches in der Schwarzwälder Stube. Und Gespräche über die Rösser. Schwarzwälder Füchse sind den Schillingers eine Seelenangelegenheit, diese Rasse hat „einen klaren Kopf und ein Herz wie ein Bergwerk“. Wiewohl das Kaltblüter sind, haben sie doch edle Charakterköpfe, sind wohlproportioniert und überschaubar groß um die 1,55 Meter. Und glänzen wie frisch poliert! Gerhard und Claudia Schillinger, Metterstraße 1, 71665 Vaihingen-Gündelbach, Tel.: 07042/236 64, www.schwarzwaelder-stube.de

Die wackeren Enz-Löwen Gerhard Ruhl, HansJoachim Rösner und Manfred Auch (v. li.) beherrschen das Stochern. Sie haben den alten Kahn liebevoll ­renoviert und werden künftig mit zwei weiteren Kähnen die Besucher über das Wasser chauffieren.

für das Gerben der Tierhäute nutzen zu können. Das an­ rüchige Gewerbe der Gerber prägte Vaihingen über Jahr­ hunderte bis in die 1980er-Jahre. So wie auch die Leim­fabriken, die tierische Überreste verarbeiteten. „Die alte Frau Hummel, Besitzerin einer der letzten Leimfabriken, hat immer gesagt: ,Leim ist im Prinzip eine unheimlich ­dicke Fleischbrühe‘“, lacht Andreas, dessen Stadtführun­ gen vor allem mit den Gewerken am Fluss zu tun haben. „Vaihingen hat einst ein Sechstel des Weltleims produ­ ziert“, sagt er stolz. „Vaihingen hebt die Welt zamm!“ Das stochern ist des Müllers Lust

Alte Fotos förderte Lothar Behr, der Stadtarchivar, zutage, und da waren Stocherkähne zu sehen. Wobei ein Foto aus den 1950er-Jahren drei Herren dann doch weit mehr in­ spiriert hat: Ein Mann chauffiert lauter Damen in Bade­ anzügen und todschicken Badehauben. „Das wollen wir auch“, lachen Manfred Auch, der Müller, Hans-Joachim Rösner, Lehrer a. D., und Gerhard Ruhl, übergangsweise Ephorus im evangelischen Seminar in Maulbronn. Diese drei Herren nennen sich die Enz-Löwen, und die stochern nun in der Historie und in der Enz. Die Löwen ­renovierten einen ausgedienten Tübinger Stocherkahn – man merke: Mit höherer Bordwand und Lehnen ist das ein solcher, mit niedriger Bordwand nennt man das Fahr­ zeug Nachen. Es stochert sich gut auf der Enz, „kritisch ist es nur, wenn der Untergrund zu schlammig wird“, sagt Ruhl, der im Ringelshirt etwas von einem bretonischen ­Fischer hat. Wie er es mit der Stocherer-Ehre hält, bleibt offen. Denn eigentlich darf der Stocherer nie seine Stange loslassen … Im Stocherkahn wird nun Wein serviert, schier schwerelos gleitet man in löwischer Begleitung über stille Wasser. „Hörsch was?“, fragt Andreas. – Nein, es ist himmlisch ­ruhig. Ein paar Wolken ziehen auf, der Himmel malt rosé. Und als sei das alles Choreografie, wölbt sich ein Regenbogen. Ein einzelner Regentropfen fällt in den Riesling. Zieht konzentrische Kreise. Die Bewegung ebbt wieder ab, so wie gestern die Musik der Bratsche langsam ausklang. Normalerweise hätte man geklatscht. Aber das wäre viel zu lärmend. Das hier ist größer als der Applaus. 3

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Foto: Philip Platzer

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